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Zeitschrift für philosophische Literatur 4. 3 (2016), 20-28

Kautzer, Chad: Radical Philosophy. An Introduction. New York: Routledge, 2015. 230 Seiten [ISBN 978-1-61205-742-2]

Rezensiert von Mareike Sera (Humboldt-Universität zu Berlin)

Wo setzt Philosophie an? Eine Philosophie, die sich der Erfahrung der Unterdrückung und Gewalt verschließt, bewegt und sagt wenig: „Ohne Zeichen keine Bedeutung, ohne Bedeutung keine Erkenntnis, ohne Erkenntnis kein Handeln“ (Oehler 1995: 10). So ließe sich die Kernaussage von Radical Philosophy. An Introduction (2015) zusammenfassen. Chad Kautzer (Lehigh University, Pennsylvania) entfaltet in diesem Buch eine originelle Interpretation gesellschaftlicher, politischer und philosophischer Emanzipationstraditionen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf kontinentalen Philosophietraditionen, die aus dem Blickwinkel radikaler Theorien gedeutet werden. Methodisch ist dabei die Frage zentral, wie sich Hermeneutik, Phänomenologie, Dialektik und Materialismus im Kontext emanzipatorischer Bemühungen und Zielsetzungen verstehen. Kautzer arbeitet heraus, in welchen Punkten diese Traditionen als Wegbereiter radikaler Theorien interpretiert werden können und an welchen Stellen kontinentale Philosophietraditionen ‚blind‘ und ‚ignorant‘ gegenüber gesellschaftlichen Missständen und ihren emanzipatorischen Bemühungen sind. Vor diesem Hintergrund richtet sich Radical Philosophy sowohl an Studenten als auch an Leser mit aktivistischem und akademischem Hintergrund.

Der titelgebende Begriff der radikalen Philosophie bezieht sich auf eine Bewegung, die vor allem in den Vereinigten Staaten und Großbritannien anzutreffen ist und die sich mit den Grenzen und Möglichkeiten der Philosophie als akademischer Disziplin befasst. Die Unzufriedenheit mit der Sterilität und der Indifferenz philosophischer Diskurse gegenüber sozialen Belangen und Missständen liefert den Impuls dazu.

So heißt es in der Erklärung zur ersten Ausgabe des britischen Journals Radical Philosophy:

Contemporary British philosophy is at a dead end. Its academic practitioners have all but abandoned the attempt to understand the world, let alone change it. They have made philosophy into a narrow and specialised academic subject of little interest to anyone outside the small circle of Professional Philosophers (Radical Philosophy Editors 1979).

In den Vereinigten Staaten publiziert seit 1998 ein Journal unter dem Titel Radical Philosophy Review, welches von der Radical Philosophy Association (RPA) getragen wird. Die RPA formierte sich 1982, war aber ursprünglich Teil des „Radical Caucus“ der American Philosophical Association (APA). Der „Radical Caucus“ geht ebenfalls auf die späten 1960er Jahre zurück.

Kautzers Buch führt die Aktualität der Anliegen dieser Bewegungen vor Augen. Nachdem das Buch sich in der Einleitung der Frage nach Wissenschaftlichkeit und dem Zusammenhang von Wissen und Handeln zuwendet, befasst der Autor sich im ersten Kapitel mit den Grundlagen der kritischen Methodologie. Die Themen Hermeneutik, Phänomenologie, hegelianische Dialektik und Materialismus finden sich dort in vier Unterkapiteln auf verständliche Weise behandelt. Dem schließen sich im zweiten bis vierten Kapitel Abhandlungen zu zentralen Teilgebieten der kritischen Theorie an: Marxismus und Klassentheorie, feministische Theorie, Queer-Studies und Critical Race Theory.

Naomi Zacks (2015) Rezension hebt die Originalität der Lesart dieser Traditionen, die Radical Philosophy vorlegt, hervor. So versteht das Buch etwa die philosophische Hermeneutik als Anstrengung der Interpretation, welche auf der Einsicht Diltheys beruht, dass

[i]n den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und Kant konstruierten, nicht […] wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit [rinnt] (Dilthey 1922: XVIII) .

Ähnlich verhält es sich in Bezug auf die Phänomenologie. Sie bereichert die Erkenntnis um die gelebte leibliche Erfahrung auf der formalen Ebene, die Husserl ‚Wir-Subjektivität‘ nennt. Dazu schreiben Dermot Moran und Joseph Cohan:

In the Crisis [Husserl 1970, § 28, 109; VI 111] the phenomenon of cooperating intersubjectivity is read back from experience of a common world ‚for all‘. ‘Constantly functioning in the wakeful life, we also function together in the manifold ways of considering, together, valuing, planning, acting together.’ This is the domain of what Husserl calls ‘we-subjectivity’ (Wir-Subjektivität) (Moran/Cohan 2012: 171).

Kautzer merkt dazu an:

The intersubjective dimension of this life-world is always already there and enables other forms of thinking it, as in the natural and social sciences (32).

Merleau-Ponty (1986: 320) geht mit dem Begriff des ‚Fleisch[s] der Welt‘, anders als Husserl, über die Subjektivität des ‚eigenen‘ Erlebens hinaus: „Etwas anderes als der Leib ist notwendig, damit die Verknüpfung zustande kommt: sie entsteht im Unberührbaren.“ In diesen Verknüpfungen entstehen Bezüge zur Welt, die im Sinne von Negativitäten („Negativität, die dem Berühren innewohnt“, Merleau-Ponty 1986: 321) oder Leerstellen über sich hinauswachsen: „das Negative ist nicht ein Positives, das anderswo ist (Transzendentales) – Es ist ein wahrhaftes Negatives“ (Merleau-Ponty 1986: 321). Kautzer stellt heraus, wie einflussreich Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung (1966) und Simone de Beauvoirs Das Andere Geschlecht (1961) als Phänomenologien des Körpers für feministische Theorie, Queer-Studies, Critical Race Theory, Disability Studies und postkoloniale Theorien bis heute sind, was die Texte von Iris Marion Young, Franz Fanon und Judith Butler eindrücklich belegen (33).

Kautzer hebt weiterhin die Wichtigkeit der hegelschen Dialektik hervor, in der sich Wahrnehmen und Verstehen in Prozessen des Anders-Werdens vermitteln: „Recognition is a form of reflection, not introspection“ (35). In diesem Zusammenhang bespricht Kautzer Hegels Begriffe der Nichtidentität (non-identity) und Aufhebung (negation), wobei er zu folgendem Schluss kommt:

In a way, Hegel was the original conflict theorist, but he drew conservative and contradictory conclusions from his own social and dialectical model of freedom. […] It was therefore left to others to develop a dialectical critique of Hegel’s philosophy, and the social structures it naturalised, using his own method (39).

In diesem Kontext nennt Kautzer neben Simone de Beauvoir, Judith Butler und Franz Fanon, auch Karl Marx, Jean-Paul Sartre, Aimé Césaire und Theodor Adorno.

Der hegelschen Dialektik steht die materialistische Methode nahe. Sie postuliert die Produktion und Reproduktion von wahrem Leben als ultimativ determinierendes Element der Geschichte. Es ist hier, wo der historische Materialismus als das zugehörige und oppositionelle Wissen des Klassenkampfes Beachtung findet. Kautzer weist darauf hin, dass die Anwendung dieser Methode sich zunächst auf weiße, männliche und industriell geprägte Zugehörigkeiten beschränkt zeigte, jedoch bald auch von anderen Widerstandsbewegungen aufgegriffen wurde. Kautzer beschreibt die materialistische Methode wie folgt:

Materialism identifies how the relations of production such as the social structures of race, gender, and class, are shaped by the forces of production, or the means of production in labor power, technology, tools, buildings, raw materials and land (41).

Diese kritische Betrachtung von Strömungen der kontinentalen Philosophie macht deutlich, wie Kautzer in Radical Philosophy vorgeht: Das Buch argumentiert weniger durch abstrakte Definitionen hindurch, sondern greift Begriffe und Methoden präzise auf und verbindet sie miteinander. Dieses Vorgehen entspricht einem hermeneutischen Ansatz und dem radikal philosophischen Anliegen, diskursive Auseinandersetzungen dialogisch offen zu halten, anstatt sie dem fakt-fetischisierenden und objektivierenden Diktat einer vom Szientismus geprägten Wissenschaft zu unterwerfen. Unter diesem Aspekt ist es interessant zu sehen, was Kautzer auslässt. Es fehlt eine Definition des Begriffs ‚radikale Philosophie‘. Radical Philosophy erklärt nicht was radikale Theorien sind, sondern re-konstruiert sie implizit und plural in einem Strom von Zitaten aus der Primärliteratur, von Judith Butler, über Iris Marion Young, zu Audre Lorde und vielen anderen. Dieser pluralistisch-hermeneutische Ansatz fordert heraus, sich mit der Komplexität gesellschafts- und philosophiekritischer Positionen auseinanderzusetzen. Die Herangehensweise hebt auch die stilistische Klarheit und Schönheit vieler der von Kautzer zitierten Texte hervor.

Ebenso fehlt eine Bestimmung des Begriffs ‚Radikalität‘. Kautzer weist lediglich darauf hin, dass er den Begriff im Sinne seiner lateinischen Bedeutung radix (Wurzel) verwendet (2) - ganz nach Karl Marx (1976: 385): „Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst“. Bei dieser Definition ansetzend, schreibt Mirjam Schaub zum Problem einer begrifflichen Bestimmung von Radikalität:

Radikal ist […] was seine Existenz an eine Wahrheit bindet, um scheinbar alles (sogar das eigene Leben) dafür aufs Spiel zu setzen. Als Angriff auf symbolische Ordnungssysteme wirkt Radikalität in Philosophie, Politik, Religion und Kunst höchst unterschiedlich – und nicht immer zerstörerisch. Während der radikale Zweifel eine philosophische Gründungsfigur ist, werden politisch Radikale als nicht diskursfähig zurückgewiesen. Zerstörerische und kreative Impulse stiften gemeinsam eine Praxis, deren Gelingensbedingungen kaum erforscht sind. (Schaub 2015:1)

Radical Philosophy widmet sich diesen Gelingensbedingungen, indem sich das Buch den kreativen und zerstörerischen Impulsen diskursiver Auseinandersetzung auf wissenschaftstheoretischer Ebene zuwendet. Akte radikaler (Selbst-) Begründung (vgl. hierzu Böhler 1985 und Ricœur 1975) fordern Umsicht und Achtung vor dem dialogischen ‚Anderen‘. Lässt man diese Umsicht nicht walten und verankert Akte radikaler (Selbst-) Bestimmung oder (Selbst-) Behauptung in der Sicherung hegemonialer Interessen, münden sie in Unterdrückung und Gewalt. Radical Philosophy spannt diesen Bogen. Auffallend ist zudem der fehlende Schlussteil. Das Buch endet abrupt mit dem vierten Kapitel. Das Fehlen eines akademisch-versichernden Abschlusses ist wohl am deutlichsten dem offenen, radikal philosophischen Projektcharakter des Buches geschuldet.

Ziel des Vorgehens von Kautzer ist es, einen „zu Beginn genannten Gedanken im Durchgang durch eine vielfältige Diskurswelt schrittweise zu erhellen“ (Joas 1997: 252). Erklärungen durch abstrakte Bestimmungen sind dem hermeneutischen Ansatz, den er verfolgt, fremd, der darauf abzielt Gedankenverläufe nachvollziehbar zu machen und in ihrer Veränderlichkeit aufzuweisen.

Hermeneutische Anstrengungen entziehen sich der leichten Zusammenfassung ihrer Ergebnisse. Die Vielfalt nebeneinanderstehender begrifflicher Gebäude und konkurrierender Sprachen, die solche Anstrengungen allererst nötig machte, verhindert auch, dass die eine Begrifflichkeit, die unabhängig wäre von den interpretierten Gedankengängen, am Ende zur Verfügung steht (Joas 1997: 252).

Wie wichtig dieses Nachvollziehbarmachen von Gedankenverläufen in Radical Philosophy ist, soll im Folgenden exemplarisch an der Einleitung und an dem letzten Kapitel dargestellt werden.

In der Einleitung umreißt Kautzer zunächst die Konturen des Projekts:

Radical Philosophies push back against these tendencies [that supposedly disinterested, and objective sciences conceal the interests of wealthy, powerful, or privileged groups as universal interests], historicizing subjects and social relations, uncovering the interests and relations of power operating in the politics of truth, and challenging the methods, discourses, practices, and structures of oppression and domination. They make explicit the forces constraining and enabling various structural positions and social groups by incorporating historical, reflexive, and dialectical elements into their projects (16–17).

Diese Beschreibung des Projekts macht zwei Dinge deutlich: radikale Philosophien sehen sich aus konkreten Konflikten und ihrer philosophischen Theoretisierung heraus geboren, aus Akten der Unterdrückung, Benachteiligung und Gewalt, gegen die es aufzubegehren und zu handeln gilt und die es zu verstehen gilt. Zum einen verfolgen radikale Philosophien praktische Interessen und Ziele, die sich an konkreten Missständen und nicht an abstrakten Idealen entzünden. Zum anderen ist der Versuch, solche Missstände zu verstehen, selbst eine Form des diskursiven Handelns.

Radical Philosophy hebt auf diese Weise den Anspruch, dass Wissenschaft dialogisch offen und adaptiv agieren soll, hervor. Doch der dialogische Charakter beinhaltet nicht alleine Offenheit und Reaktionsvermögen gegenüber Möglichkeiten und Gegebenheiten des Wandels, sondern auch die Notwendigkeit der (Selbst-) Begründung. Radikalität nimmt einen Schnitt vor, der sich gegen bestehende / mögliche Annahmen und Verhältnisse richtet und damit in eine ‚Leere‘ der (Selbst-) Begründung agiert (vgl. obige Ausführungen zu Merleau-Ponty). Diese radikale ‚Leere‘ im Sinne einer Gründungsfigur setzt sich nicht alleine phänomenologisch mit Gegebenheiten, Voraussetzungen und Grundannahmen auseinander, sie verschafft auch hermeneutisch den Raum zum Denken, Leben, Atmen: eine radikale ‚Leere‘, die sich nicht im ‚Eigenen‘ zurückzieht, sondern sich zum und im ‚Anderen‘ – in Richtung Austausch und Prozess – öffnet.

Das Buch beginnt mit einem Zitat von Audre Lorde: „When we turn from anger, we turn from insight…“ (Lorde 1984: 129). Akte der Unterdrückung und Gewalt führen zu Wut und Gegengewalt und motivieren damit auf wichtige Weise Widerstand. Kautzer fügt dem hinzu: „It is in this spirit that I write this introduction to a group of radical philosophies engaged in acts of self-clarification within practical struggles“ (1).

Damit spannt sich ein phänomenologisches Feld auf, welches Akte der Selbst-Bestimmung (self-clarification) im doppelten Sinne (Erkennen der Kräfte und der Zusammenhänge) ermöglicht. Doch das Erkennen und Realisieren von Handlungsmöglichkeiten alleine auf der Basis von Gefühlen wie Wut und Aufbegehren führt zwangsläufig in eine Position defensiv-aggressiver Handlungsunfähigkeit: „When unfocused rage can be self-defeating, and when purely destructive, it eliminates the possibility for its own resolution“ (2). Dieses Thema wird wiederholt aufgegriffen, bis Kautzer am Schluss des Kapitels zu der Überzeugung gelangt:

Although I opened this introduction with a discussion of the potential insights gained through anger at injustice, there is no place for it in this interactive process of self-critique, for it only serves to defend the house that needs to be rebuild, to use Lorde’s metaphor. Overlooking this distinction (between anger at oppression and self-critical openness to others in a struggle) is perilous in resistance movements (17).

Damit wird deutlich, worauf Kautzer abzielt: Das Verstehen von Emotionen und von Begehren in einem kulturell-historischen Umfeld, sowie ihrer positiven wie negativen Auswirkungen in Bezug auf Protesthandlungen und -bewegungen ist alleine nicht ausreichend. Es gilt vielmehr, sich von diesen Emotionen und Begehren hermeneutisch zu distanzieren, um sich in Richtung des ‚Anderen‘, des ‚Möglichen‘, des ‚Intransparenten‘, des ‚Undurchdringbaren‘, des ‚Unerreichbaren‘ dialogisch zu öffnen. Motivation und Zukunftsfähigkeit radikaler Projekte finden sich alleine im Respekt für das oder die / den Andere(n), im ‘Jenseits‘ des Eigenen, des Gegebenen, des bereits Verstandenen. Widerstand ist schwer von Emotionen wie Wut und Aufbegehren zu trennen. Dennoch scheint es notwendig, einen radikalen Schnitt zu machen, um diesen Widerstand und die dahinter stehende Motivation zu verstehen. Verstehen und Handeln gehen alleine im dialogischen Verhandeln mit und im Anderen zusammen.

Das Kernstück des Buches stellt das vierte Kapitel „Antiracism and the Whiteness Problem“ dar. Fängt das Buch mit einem Zitat von Audre Lorde an, endet es auch in Referenz auf sie:

Seeking equality with the master, or striving for the freedom of the sovereign, will only reproduce relations of domination in different form, and thus the crucial tasks ahead are to denaturalize relations of rule and heed Audre Lorde’s call to “dismantle the master’s house” (134).

Mit diesem Ziel – die am ‚Anderen‘ radikal desinteressierte, gesetzlose, schamlos eingesetzte Natürlichkeit symbolischer Machtstrukturen zu enttarnen – lenkt Kautzer die Diskussion von einer phänomenologisch und struktural fokussierten Analyse der Erfahrung von Unterdrückung und Diskriminierung hin zu einer hermeneutisch und historisch motivierten Analyse des ‚white privilege‘ und der von ihm ausgehenden symbolisch verankerten Gewaltstrukturen. Kautzer zitiert dazu Peggy McIntosh (1989):

As a white person, I realised that I had been taught about racism as something which puts others at a disadvantage, but had been taught not to see one of its corollary aspects, white privilege, which puts me at an advantage. (McIntosh 1989:10)

Radical Philosophy legt darauf aufbauend einen neuen Fokus auf die Analyse emanzipatorischer Prozesse und symbolischer Gewaltstrukturen. Das Interesse verlagert sich auf die Rechtfertigungsgrundlagen des ‚white privilege‘ in aufklärerischen Texten und auf die Auswirkungen dieser Texte auf symbolische Gewaltstrukturen. Kautzer deckt die Skrupellosigkeit, Gesetzlosigkeit und Schamlosigkeit auf, mit der Autoren wie Charles de Montesquieu, John Locke und Immanuel Kant die vermeintliche Selbstverständlichkeit weißer Vorherrschaft im Kontext der europäischen Kolonialgeschichte rechtfertigen. Die Rechtfertigung des ‚white privilege‘ schuf damals gesetzlose Grundlagen, die heute in den multiplen ‚rechtsfreien Räumen‘ sozialer und politischer Unterdrückung wiederzufinden sind:

What all of these examples have in common – from slavery, Jim Crow, and mass incarceration, to undocumented status, racialized surveillance / suspicion, and Gitmo – is the production of a legally precarious substatus (most extreme in the case of slavery and Gitmo), a “no-man’s land between public law and political fact” that enables the exercise of sovereign violence, exploitation, and thus the reproduction of racialized identities (133).

In Bezug auf diese Bündelung von Unterdrückung und Gewalt gegenüber marginalisierten Bevölkerungsgruppen wird deutlich, welche fatalen Auswirkungen radikale Selbst-Begründungen im ‚Eigenen‘ haben – Rechtfertigungsansprüche, die europäische Emanzipations- und Philosophietraditionen essentiell prägen. Neutralitäts- und Objektivitätsansprüche setzen radikale Selbst-Begründungs- und Selbst-Bestimmungsakte voraus, die Gewaltstrukturen forcieren. Auf diesem Weg schließt sich der argumentative Bogen, den Radical Philosophy spannt. Emanzipatorische Bemühungen fruchten nur dann, wenn sie sich der radikalen Geste bedienen, sie müssen sich aber dem ‚Anderen‘, dem ‚Unantastbaren‘, dem ‚Unergründlichen‘, dem Möglichen öffnen; sonst laufen sie Gefahr defensiv herrschende Gewaltstrukturen zu verteidigen und sie damit letztlich zu rechtfertigen. Diesen Zusammenhang zu verstehen – die Gelingensbedingungen im Spannungsfeld zerstörerischer und kreativer radikaler Impulse und Akte – ermöglicht es erst emanzipatorisch zu handeln. Radical Philosophy hebt diesen Zusammenhang hervor und stellt von daher tatsächlich ein originelles und inspirierendes Buch dar.

Literatur

Böhler, Dietrich. Rekonstruktive Pragmatik. Von der Bewußtseinsphilosophie zur Kommunikationsreflexion. Neubegründung der praktischen Wissenschaften und Philosophie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1985.

de Beauvoir, Simone. Das Andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. München: Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., 1961.

Dilthey, Wilhelm. Gesammelte Schriften. Bd. 1 Einleitung in die Geisteswissenschaften, hg. von Bernhard Groethuysen. Leipzig: Teubner, 1922.

Husserl, Edmund. The Crisis of European Sciences and Transcendental Phenomenology. An Introduction to Phenomenology. Evanston: Northwestern University Press, 1970.

Joas, Hans. Die Entstehung der Werte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997.

Marx, Karl. „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (Einleitung).“ In ders./Friedrich Engels, Werke. Bd. 1, 378–391. Berlin (DDR): Karl Dietz Verlag, 1976.

Merleau-Ponty, Maurice. Phänomenologie der Wahrnehmung. Bd. 7 Phänomenologisch-psychologische Forschungen, hg. von Carl Friedrich Graumann. Berlin: de Gruyter, 1966.

—. Das Sichtbare und das Unsichtbare. Gefolgt von Arbeitsnotizen, hg. von Claude Lefort. München: Fink, 1986.

Lorde, Audre. „The Uses of Anger. Women Responding to Racism.“ In Sister Outsider: Essays and Speeches, 124–133. New York: Random House, 1984.

McIntosh, Peggy. „White Privilege. Unpacking the Invisible Knapsack.“ Peace and Freedom Magazine (1989), 10–12.

Moran, Dermot und Joseph Cohan. The Husserl Dictionary. London: Bloomsbury, 2012.

Oehler, Klaus. Sachen und Zeichen. Zur Philosophie des Pragmatismus. Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann, 1995.

Radical Philosophy Editors. „Founding Statement“, Issue 1, Spring 1972, letzter Zugriff 8.5.2016.

Ricœur, Paul. „Phenomenology and Hermeneutics.“ Noûs 9.1 (1975), 85–102.

Schaub, Mirjam. „Radikalität oder die Kunst des unbedingten Selbstgebrauchs in der europäischen Kulturgeschichte.“ , Vortrag an der Universität Hamburg, 18. Februar 2015, letzter Zugriff 6.5.2016.

Zack, Naomi. „Not Like Thales. Radical Philosophy from the Continental Tradition.“ In Radical Philosophy Review 18.2 (2015),363–366.

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