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Philipp von Gall: Tierschutz als Agrarpolitik. Wie das deutsche Tierschutzgesetz der industriellen Tierhaltung den Weg bereitete. Bielefeld: transcript 2016. 311 Seiten. [978-3-8376-3399-3]

Rezensiert von Friederike Schmitz (FU Berlin)

Jedes Jahr werden in der deutschen Eierindustrie etwa 40 Millionen neugeborene Küken getötet, weil ihre Aufzucht nicht rentabel ist. Im Mai 2016 hat das Oberverwaltungsgericht Münster bestätigt, dass diese Praxis tierschutzrechtlich in Ordnung ist. Das Urteil löste breite Empörung aus und man kann davon ausgehen, dass eine Mehrheit der Bevölkerung diese Praxis ablehnt (vgl. z.B. Zühlsdorf et al. 2016).

Im Hinblick auf den Umgang von Menschen mit Tieren, insbesondere in der Agrartierhaltung, besteht generell eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen verbreiteten Überzeugungen oder Meinungen darüber, was aus ethischen Gründen vertretbar ist, und der Realität. Während über 90 Prozent aller Tiere, die zur Produktion von Fleisch, Milch und Eiern gehalten werden, in der industriellen Massentierhaltung leben, wird diese von vielen Menschen sehr kritisch gesehen. Diese Diskrepanz beschäftigt nicht nur die philosophische Tierethik seit Jahrzehnten, sondern ist auch ein Grund dafür, dass das Mensch-Tier-Verhältnis in den letzten Jahren verstärkt aus anderen disziplinären Perspektiven untersucht wird. Es setzt sich nämlich die Einsicht durch, dass der richtige Umgang mit Tieren nicht nur individuelle ethische Fragen der Kaufentscheidung aufwirft, sondern auch gesellschaftliche und politische Entscheidungen erfordert.

In der Tierethik wird u. a. deswegen seit kurzem von einem political turn gesprochen und immer mehr TheoretikerInnen legen politische Theorien zum Mensch-Tier-Verhältnis vor. Allerdings handelt es sich dabei meist um normative und ideale Theorien; die existierenden Institutionen kommen höchstens sehr allgemein in den Blick. Gleichzeitig gibt es verstärkt, im Rahmen der wachsenden Human Animal Studies und Critical Animal Studies, historische und soziologische Forschung zum Mensch-Tier-Verhältnis, die entsprechend weniger normativ angelegt ist.

Philipp von Galls Buch leistet einen wichtigen Beitrag und schließt hier eine Lücke. Es untersucht nämlich einerseits detailliert die Entstehung der heute in Deutschland gültigen Tierschutzgesetzgebung und unterzieht diese andererseits einer normativen Kritik aus ethischer und politischer Perspektive. Galls historische Analyse, die den ersten Teil des Buches ausmacht, liefert eine Ideen- und Begriffsgeschichte der politischen Debatten, die für die Etablierung der heutigen Realität um ein Vielfaches einflussreicher waren als die philosophischen Debatten, die zumeist in geschichtlichen Aufrissen der Tierethik dargestellt werden. Sein Buch trägt daher wesentlich zum Verständnis der erwähnten Diskrepanz zwischen verbreiteten ethischen Überzeugungen zum Umgang mit Tieren und der tatsächlichen Praxis bei. Es erhellt, wie ein Recht, das den Tierschutz im Namen trägt, z.B. die Weiterführung des Kükenschredderns duldet. Im zweiten Teil des Buches werden die zuvor herausgearbeiteten relevanten Begriffe und Annahmen einer philosophischen Kritik unterzogen, woraus sich starke normative Forderungen für eine zukünftige „Tierpolitik“ ergeben.

Die Entstehung der aktuellen deutschen Agrartierpolitik

Die Ausgangsfrage des Buches richtet sich nicht auf die Diskrepanz zwischen verbreiteten Überzeugungen und Realität, sondern auf ein anderes erklärungsbedürftiges Faktum: dass die Tierschutzgesetzgebung als solche kaum im Fokus der öffentlichen Kritik steht. Zwar bestehen tiefe Meinungsverschiedenheiten zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, darunter auf der einen Seite den Lobbygruppen der Intensivtierhaltung, wie dem Bauernverband, und auf der anderen Seite den Tierschutzverbänden, die ihrem Anspruch nach für die Interessen der Tiere eintreten. Doch über die Grundprinzipien des Tierschutzgesetzes scheinen sich alle einig zu sein – es wird höchstens eine andere Umsetzung eingefordert. An dem ersten Paragraphen beispielsweise, der vorsieht, dass niemand Tieren „ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen“ darf, scheint kaum jemand etwas auszusetzen zu haben. Das ist Gall zufolge auch deshalb verwunderlich, weil ja andere rechtliche Regelungen – sowohl inhaltlich als auch institutionell gesehen – durchaus denkbar sind, z.B. die Definition von Grundrechten für Tiere.

Das Buch argumentiert für eine bestimmte Erklärung dieser Einigkeit: „Die offizielle Darstellung der Grundsätze […] riskiert Missverständnisse darüber, ob sie prioritär tierliche oder Tiernutzungsinteressen schützt“ (21). Anders gesagt: Das Tierschutzgesetz sieht so aus, als ob es die sich entgegenstehenden Interessen der Tiere bzw. der Tierschutzverbände einerseits und der Tiernutzungsbranche andererseits in einen fairen Ausgleich bringt, der beiden Seiten gerecht wird. Tatsächlich wird allerdings durch das Gesetz den Interessen der Tiernutzungsbranche ein deutlicher Vorrang gewährt – was dann erklärt, warum all die kontroversen Praktiken, unter denen Tiere heute leiden, rechtlich erlaubt und geschützt sind.

Das heutige Tierschutzgesetz wurde seit der letzten großen Reform des Tierschutzrechts im Jahr 1972 kaum verändert. Gall fokussiert seine historische Analyse daher auf den Hintergrund und die Durchführung dieser entscheidenden Reform. Zum Hintergrund gehört erstens die Intensivierung und Industrialisierung der Tierhaltung in den 1950er und 1960er Jahren, die in der Bevölkerung Bedenken auslöste – es wurden Sorgen im Hinblick auf das Wohl der Tiere, aber auch im Hinblick auf eine wahrgenommene Maschinisierung des Lebendigen artikuliert. Zweitens greift die Reform zurück auf Traditionen des staatlichen Tierschutzes in Deutschland, insbesondere auf das Tierschutzgesetz von 1933. In der Neubeurteilung dieses Gesetzes besteht ein wichtiger Beitrag der Arbeit.

Gemäß einer verbreiteten rechtshistorischen Darstellung hat im 20. Jahrhundert der „ethische Tierschutz“ den „anthropozentrischen Tierschutz“ ersetzt (44). Während es demnach den Gesetzgebern im 19. Jahrhundert primär um menschliche Empfindlichkeiten gegangen sei – man solle Tiere nicht quälen, um andere Menschen nicht zu verstören und um nicht selbst zu verrohen – werde das Tier erst seit der Reform von 1933 „um seiner selbst willen“ geschützt. Gall kritisiert diese Deutung, indem er zeigt, dass schon im 19. Jahrhundert das Tier selbst als moralisch relevant angesehen wurde, und bestreitet, dass das Tierschutzrecht seit 1933 frei von Anthropozentrismus ist. Anstatt einen wirklich neuen Ansatz zu verfolgen, ist das Tierschutzgesetz von 1933 Gall zufolge ein propagandistisches Produkt der nationalsozialistischen Gleichschaltung. Es gibt vor, Tiere vor „Misshandlung“ und „unnötiger Quälerei“ wirksam zu schützen und greift damit die traditionellen Begriffe früherer Tierschutzgesetze auf. Gleichzeitig wurde aber, wohl auf Einwirkung des begeisterten Jägers Herrmann Göring, eine Definition hinzugefügt, wann ein Quälen als unnötig gilt: nämlich nur dann, wenn es keinem „vernünftigem, berechtigtem Zweck dient“ – ein Freischein für eine behördliche oder richterliche Auslegung. Der für das heutige Gesetz zentrale Begriff des „vernünftigen Grundes“ für die Zufügung von Tierleid in Paragraph 1 geht auf diese Konzeption zurück.

Die Arbeit zeichnet auf spannende Weise nach, wie wesentliche Inhalte des Gesetzes von 1972 sich durchsetzen konnten. Der Wunsch nach einem neuen Gesetz ergab sich zwar aus der zunehmenden Kritik an der Tierhaltung, wurde aber auch von Landwirtschaftsseite vorgebracht – die sich eine Befriedung der öffentlichen Meinung und, vor allem, Investitionssicherheit für neue Stallbauprojekte wünschte.

Zwei zusammenhängende Kernanliegen, die das neue Gesetz prägten, werden von Gall herausgearbeitet: Erstens wird von wesentlichen Akteuren betont, der Tierschutz solle auf eine wissenschaftliche Grundlage von Veterinärmedizin und Verhaltensforschung gestellt werden. Zweitens wurde in den Debatten immer wieder gefordert, dass menschliche Emotionen für die Tierschutzgesetzgebung keine Rolle spielen dürften.

An dem neuen Gesetz, das als Ergebnis aus der jahrelangen Debatte anhand mehrerer Entwürfe hervorging und breite Zustimmung auch von Tierschutzsseite fand, lassen sich anhand von Galls Darstellung folgende Aspekte hervorheben: Erstens kommt dem Begriff des „vernünftigen Grundes“ ein zentrales Gewicht zu. Als Kriterium für die legitime Leidzufügung bleibt er aber letztlich inhaltlich unbestimmt – für die notwendige rechtliche, exekutive Entscheidungsfindung lässt er jede denkbare Auslegung zu. Insbesondere können alle möglichen ökonomischen Gründe angeführt werden, wie das Urteil zum Kükenschreddern aktuell gezeigt hat. Ebenso offen ist die Vorgabe im zweiten Paragraphen, dass bei der Haltung von Tieren deren „artgemäßes Bewegungsbedürfnis“ nicht so eingeschränkt werden darf, dass dem Tier „vermeidbare Schmerzen, Leiden oder Schäden zugefügt werden“. Deshalb ist es besonders problematisch, dass das Gesetz zweitens eine Übertragung der Entscheidungsgewalt vom Bundestag an das Bundesministerium für Landwirtschaft vorsah: Die so genannte Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung wird im Ministerium entschieden, das damit die zentrale Macht über Verbote und Duldungen im Sinne des „vernünftigen Grundes“ ausübt.

Kritik der Entscheidungsgrundsätze

Das neue Tierschutzgesetz wurde offiziell als Kompromiss dargestellt zwischen den Interessen der Tiernutzung und denen des Tierschutzes. Dabei zeigt sich im Rückblick, dass es einseitig den Interessen der Wirtschaft nützte, wie Gall darstellt. Bereits vor der Reform wurde z. B. ein Verbot der Batteriehaltung von Legehennen diskutiert. Nach der Reform dauerte es aber noch 40 Jahre, bis diese Haltungsform verboten wurde. Das Gesetz hatte also tatsächlich eine Investitionssicherheit für die aufstrebende Tierindustrie geschaffen.

Im Kapitel „Der vorbestimmte Kompromiss“ liefert Gall dafür eine Erklärung: Das Gesetz sieht einerseits vor, dass Tiere verhaltensgerecht untergebracht werden und ihr artgemäßes Bewegungsbedürfnis ausleben können. Es sagt andererseits aber auch, dass das artgemäße Bewegungsbedürfnis eingeschränkt werden kann und Tieren dadurch Leiden und Schäden zugefügt werden dürfen, sofern dies vernünftig begründet bzw. „unvermeidbar“ ist. Um das Gesetz anzuwenden, muss also zunächst die „verhaltensgerechte Unterbringung“ bzw. das „artgemäße Bewegungsbedürfnis“ bestimmt werden; zweitens muss dann die Vermeidbarkeit von Einschränkungen beurteilt werden. Beide Urteile sollen von Sachverständigen aus der Nutztierethologie gefällt werden. Es wird so getan, als wäre die Beurteilung allein eine Sache der Wissenschaft und damit letztlich deskriptiv und objektiv. In Wirklichkeit gehen bei beiden Schritten starke normative Annahmen ein, wie Gall aufzeigt. Schon das artgemäße Leben wird nämlich unter Bedingungen der Nutztierhaltung angesehen – es kommen nur die (Bewegungs-)Bedürfnisse überhaupt in Betracht, die im Rahmen der Haltung befriedigt werden können. Bei der Beurteilung der Unvermeidbarkeit wird unter der Voraussetzung gearbeitet, dass die Tierwirtschaft keinen wirtschaftlichen Schaden erleiden darf. Auf diese Weise ist der vermeintliche Kompromiss doppelt zu Ungunsten der Tiere vorbestimmt und damit unfair.

Gall belässt es jedoch nicht bei dieser ersten Einschätzung. Im Anschluss nimmt er zwei mögliche Verteidigungsstrategien für das Gesetz unter die Lupe, die sich an den zuvor herausgearbeiteten Forderungen seiner FürsprecherInnen orientieren. Erstens betrachtet er die Idee, dass die wesentliche Rolle der Wissenschaft für die gewünschte Objektivität bei der Anwendung des Gesetzes in Verordnungen zur Nutztierhaltung sorgen würde. Zweitens setzt er sich kritisch mit der Vorstellung auseinander, dass die Objektivität durch die Ausblendung von menschlichen Emotionen erreicht werden könnte.

Im Kapitel „Die Ausblendung der tierlichen Subjektivität“ gibt er einen kurzen Abriss der Entwicklung der Verhaltenswissenschaft, die zum Zeitpunkt des Reformprozesses stark von dem Paradigma geprägt war, dass subjektive Zustände von Tieren wissenschaftlich nicht beforscht werden könnten. Konrad Lorenz und andere vertraten die Ansicht, dass zwar das Verhalten der Tiere detailliert beschrieben werden könne, dass eine Zuschreibung von subjektiven bewussten Zuständen sich aber wissenschaftlich nicht belegen ließe. Schon damit ist fraglich, inwieweit diese Wissenschaft die ihr zugedachte Rolle überhaupt spielen kann, denn im Tierschutz muss es ja gerade um das subjektive Erleben der Tiere gehen – wenn dieses als grundsätzlich unzugänglich erscheint, wird unklar, was es überhaupt zu schützen gilt.

Gall hebt dann vier methodische Voraussetzungen der Ethologie hervor, die im Hinblick auf den fairen Kompromiss problematisch sind. Die erste ist eine einseitige Warnung vor dem Anthropomorphismus. Es gebe aber keinen Grund, argumentiert Gall, warum Analogieschlüsse von Menschen auf Tiere nicht methodisch sinnvoll seien, solange sie reflektiert geschehen. Mindestens genauso gefährlich wie die unreflektierte Vermenschlichung der Tiere sei es, Tiere umgekehrt als maschinenähnlich anzusehen, d. h. ihre geistigen und emotionalen Fähigkeiten und Eigenschaften im Rahmen eines „Mechanomorphismus“ zu unterschätzen. Zweitens kritisiert Gall an der Ethologie eine „Unbeholfenheit bei der Zuschreibung tierlichen Geistes“ und einen „Fokus auf ‚bloßes‘ Verhalten. (168) „Leid“ beispielsweise soll letztlich anhand von Abweichungen zum „Normalverhalten“ feststellbar sein – wobei dieses typischerweise schon unter Haltungsbedingungen beschrieben wird. Aus der Kritik an der vierten problematischen Voraussetzung leitet Gall eine seiner wichtigsten normativen Thesen ab. Er kritisiert, dass die Nutztierethologie einseitig auf negative Zustände wie Schmerzen und Leid fokussiert und positive Gefühle, paradigmatisch die Freude, unberücksichtigt lässt. Durch diesen Fokus würde das explizite Ziel des Tierschutzgesetzes, das Wohlbefinden der Tiere, rein negativ als die Abwesenheit von Leid definiert. Man könne Tieren aber sinnvollerweise nicht nur Interessen an der Abwesenheit von Leid, sondern auch am Erleben positiver Gefühle zuschreiben, die somit ganz aus der Betrachtung herausfielen. Diese Bedingungen verhindern Gall zufolge den fairen Kompromiss.

Im Kapitel „Emotionale Verdrängung“ erläutert Gall zunächst einige Aspekte des Emotionsbegriffs, wie er in neueren philosophischen Theorien aufgefasst wird. Im Anschluss diskutiert und kritisiert er Argumente für die Forderung, Emotionen aus Tierschutzdebatten herauszuhalten. Das erste Argument, Emotionen würden die Debatte ungünstig verzerren, könne zwar für bestimmte Arten von Emotionen zutreffen, aber nicht allgemein gelten. Stattdessen sei es wichtig, dass bestimmte Arten von Emotionen wie Sorge, Mitgefühl oder Empörung auch in politische Debatten eingehen könnten, da gesellschaftliche Konflikte sonst nicht angemessen thematisiert und ausgetragen werden könnten. Das zweite Argument verweist wieder auf die Rolle der Wissenschaft und behauptet, Wissenschaft und Emotionalität würden sich gegenseitig ausschließen. Dagegen wendet Gall ein, dass die reflektierte Empathie in der Verhaltenswissenschaft eine wichtige methodische Funktion haben könne. Das dritte Argument lautet, dass die Ethik, die im staatlichen Tierschutz Anwendung findet, nicht auf Emotionen rekurrieren sollte. Dagegen argumentiert Gall, dass Emotionen in der Ethik Wichtiges beitragen können. Zunächst erläutert er, dass in den Debatten um die Gesetzesreform häufig gar nicht von Ethik die Rede war, weil suggeriert wurde, die Nutztierethologie stelle eine ethisch neutrale Methode zur Beurteilung von Haltungsformen bereit. Tatsächlich zeigt sich in den Gutachten der Sachverständigen u. a. aufgrund der zuvor erläuterten methodischen Voraussetzungen eine „verdeckte Ethik“ (246).

Gall argumentiert außerdem, dass in einer angemessenen politischen Debatte zum Tierschutzgesetz auch Emotionen geklärt und verhandelt werden müssten. Den Ausschluss emotionaler Begriffen aus der Debatte wertet Gall mit Rückgriff auf Ideen von Cora Diamond als „sprachliche Deprivation“ (254) – bestimmten Gruppen werde die Möglichkeit genommen, ihre Anliegen überhaupt auszudrücken. In der Bevölkerung verbreitete Bedenken und Vorbehalte sollten jedoch nicht unterdrückt, sondern müssten im Sinne des demokratischen Prozesses artikuliert und so konstruktiv aufgearbeitet werden.

Im Resümee fasst Gall die von ihm festgestellten „blinden Flecken“ im Reformprozess und im heutigen Tierschutzrecht zusammen. In einem kurzen Abschlusskapitel zu „Handlungsbedarf und Ausblick“ macht er erstens nochmals seine Forderung stark, nicht nur Leidvermeidung, sondern auch Freude von Tieren im Recht zu berücksichtigen. Der zweite Vorschlag lautet, „Gerechtigkeit in der Tierpolitik stärker zu berücksichtigen“ – dabei denkt Gall an politische Theorien der Gerechtigkeit, die in Zukunft Tiere auch als „politische Subjekte“ anerkennen, wodurch ihre Interessen in ganz anderer und besserer Form politisch repräsentiert werden könnten.

Kritische Anmerkungen

Das Buch Tierschutz als Agrarpolitik liefert im ersten Teil eine spannende Darstellung der Geschichte der deutschen Tierschutzpolitik im 20. Jahrhundert. Die für die Debatten wichtigen Begriffe, Annahmen und Methoden werden sorgfältig herausgearbeitet und untersucht. Im zweiten Teil findet eine überzeugende Kritik statt. Hier und da gibt es Wiederholungen, aber insgesamt aber ist das Buch klar geschrieben und sehr gut lesbar. Es handelt sich um eine gewinnbringende Mischung aus kritischer Sozialwissenschaft und angewandter Philosophie mit politischer Relevanz.

Gleichwohl: Im ersten Teil wäre es interessant gewesen, die wichtigen Akteure auf der Tierschutzseite genauer zu beleuchten. Während deutlich wird, inwieweit zum Beispiel die beteiligten Abgeordneten auch persönlich mit der Tierwirtschaft verbunden waren, wird die Haltung der Tierschutzverbände weniger problematisiert und ihre Zustimmung zum Gesetz eher als Resultat eines folgenschweren Irrtums dargestellt – als hätten sie bloß nicht geahnt, dass dieses Gesetz letztlich die Intensivtierhaltung stützen würde. Vielleicht hätte sich auch in diesem Fall eine Untersuchung der zugrundeliegenden strategischen Absichten gelohnt – die mit den Strategien der damals noch kleinen, aber existenten Tierrechtsbewegung hätten kontrastiert werden können.

Bei der Kritik der Entscheidungsgrundsätze gibt sich Gall viel Mühe, um die Seite der VerteidigerInnen der Gesetzesreform möglichst stark zu machen. Er formuliert Argumente, die zur Begründung dienen können, aber in der Debatte faktisch nicht ausformuliert wurden. Dabei wäre es auch naheliegend, zum Beispiel die Abwertung von Emotionen als eine auch in anderen Debatten weit verbreitete, relativ einfache Strategie zur Diffamierung von GegnerInnen zu sehen. Wichtig sind solche Nuancen, weil dann die Entstehung der Reform noch stärker als Ergebnis absichtlich einseitiger und damit undemokratischer Interessenpolitik hätte gewertet werden müssen.

Auch Galls Vorschläge für die zukünftige Tierpolitik sind nicht vollständig überzeugend. Die Diagnose, dass positive Emotionen der Tiere wie die Freude im Recht ausgeklammert werden, hebt zwar einen wichtigen blinden Fleck hervor. Dass dem allerdings Abhilfe geschaffen werden kann, indem ein Schutz tierlicher Freude im Gesetz gefordert wird, ist zweifelhaft. Denn gerade die Geschichte vom Tierschutzgesetz und seiner Anwendung zeigen, dass selbst scheinbar eindeutige Begriffe wie „artgemäßes Bewegungsbedürfnis“ so ausgelegt werden können, dass die Batteriehaltung erlaubt bleibt – entsprechend wäre zu befürchten, dass auch zum Beispiel die Bereitstellung von sogenannten Spielzeug in den tristen Schweinebuchten als Ermöglichung von Freude gewertet werden würde. Zudem verbleibt die Berücksichtigung von Leid und Freude im pathozentrischen Paradigma. Ein Interesse am Weiterleben zum Beispiel wird dabei nicht anerkannt; es kann in der Nutztierhaltung nicht erfüllt werden. Von Seiten mancher TierrechtlerInnen wird zudem gefordert, Tieren ein Recht auf Autonomie zuzugestehen – nicht im vollen kantischen Sinne, aber doch im Sinne einer gewissen Entscheidungskompetenz im Hinblick auf ihr eigenes Leben (vgl. Balluch 2014). Vor diesem Hintergrund müsste die Nutztierhaltung ganz in Frage gestellt werden.

Dafür spricht außerdem die Beobachtung, dass innerhalb eines kapitalistischen Wirtschaftssystems, in dem Tiere zur Profitgenerierung genutzt werden, ihre Interessen letztlich notwendigerweise gegenüber wirtschaftlichen Interessen verlieren müssen. Insofern ist dieser Umstand vielleicht gar nicht dem Tierschutzgesetz als solchem anzulasten, sondern liegt in der Natur der kommerziellen Nutzung, die durch das Gesetz nur ermöglicht und gestützt wird (vgl. Francione 2008).

Gall scheint das anzuerkennen, indem er im Ausblick ebenfalls einen neuen Status von Tieren im politischen System fordert, der sich am Ideal der Gerechtigkeit orientiert, anstatt zu hoffen, dass auf Grundlage des bestehenden Tierschutzgesetzes Substantielles für Tiere verändert werden könnte. Allerdings bleibt an der Stelle unklar, wie neue rechtliche Regelungen im Einzelnen aussehen könnten und was mit einem „politischen Subjekt“ (273) konkret gemeint ist. Weil Gall diesen Punkt offen lässt, können LeserInnen den Eindruck gewinnen, er hielte eine Verwirklichung von Gerechtigkeit oder zumindest eine deutliche Verbesserung noch innerhalb des Systems der Nutztierhaltung für möglich. Das ist aber eine Annahme, die viele TierrechtlerInnen bestreiten würden. Hier wäre entsprechend eine weitere Auseinandersetzung nötig.

Literatur

Balluch, Martin. Der Hund und sein Philosoph. Plädoyer für Autonomie und Tierrechte. Wien: Promedia, 2014.

Francione, Gary. Animals as Persons: Essays on the Abolition of Animal Exploitation. New York: Columbia University Press, 2008.

Zühlsdorf, Anke et al. Wie wichtig ist Verbrauchern das Thema Tierschutz? Präferenzen, Verantwortlichkeiten, Handlungskompetenzen und Politikoptionen. Kommentiertes Chartbook zur repräsentativen Umfrage.http://www.vzbv.de/sites/default/files/downloads/Tierschutz-Umfrage-Ergebnisbericht-Langfassung-vzbv-2016-01.pdf› (letzter Zugriff: 20. Juli 2016).

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