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Reydon, Thomas: Wissenschaftsethik. Eine Einführung. Stuttgart: Ulmer UTB 2013. 143 Seiten. [978-3-8252-4032-5]

Rezensiert von Alexander Christian (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Düsseldorf Center for Logic and Philosophy of Science)

Die vorliegende Einführung in die Wissenschaftsethik soll Studierende und Promovierende in den Naturwissenschaften für moralische Probleme im Forschungsprozess sensibilisieren und ein solides Grundwissen vermitteln, um wissenschaftsethischen Problemsituationen im Forschungsprozess begegnen zu können (7). Im Unterschied zu materialreicheren und mit einem Begründungsanspruch auftretenden Einführungen in die Wissenschaftsethik, die in den letzten Jahren beispielsweise von Shamoo und Resnik (2015) und Briggle und Mitchham (2012) vorgelegt wurden, geht es Reydon in erster Linie um die Vermittlung von Schlüsselkompetenzen in naturwissenschaftlichen Studiengängen. Auf den 130 Seiten seiner sinnvoll strukturierten Einführung bespricht Reydon die disziplinäre Einordnung und den Anspruch der Wissenschaftsethik (9–18), Theorien der Moral und Grundbegriffe der Ethik (19–36), Wertfreiheit und Wertneutralität in der Wissenschaft (37–59), Verantwortung gegenüber anderen Mitgliedern der Forschergemeinschaft (60–79), soziale Verantwortung von Wissenschaftlern gegenüber der Gesellschaft (80–97), gute wissenschaftliche Praxis und wissenschaftliche Mindeststandards (98–121) sowie Ethik im Wissenschaftsmanagement (122–130). Ein so beträchtlicher thematischer Umfang kann nicht en detail aufgearbeitet werden, wenn der Textumfang von vornherein begrenzt ist. Die entscheidende Frage ist demnach, ob Reydon Grundlinien gekonnt gezogen hat und den forschungsethischen Problemen so weit nachgeht, dass uninformierte Leserinnen und Leser einen didaktischen Nutzen aus dieser kurzen Einführung ziehen können.

Reydon plädiert im ersten Kapitel dafür, die Wissenschaftsethik als praktische Wissenschaftsphilosophie zu verstehen, die neben der theoretischen Wissenschaftsphilosophie (üblicherweise wird diese als ‚Wissenschaftstheorie‘ bezeichnet) steht und moralische Fragen zu Forschungspraxis und Folgen von Forschungstätigkeit thematisiert (9, 12–15). Innerhalb der Wissenschaftsethik unterscheidet Reydon sodann in Anlehnung an Hoyningen-Huene vier Arbeitsbereiche (12–3): Erstens befasse sich die Wissenschaftsethik mit „moralischen Problemen, die in spezifischen Bereichen der wissenschaftlichen Forschung auftreten können und unmittelbar mit den Gegenständen der Forschung verbunden sind“. Moralische Probleme stellen sich etwa durch die Frage nach der Zulässigkeit der Forschung mit menschlichen Embryonen oder nichtmenschlichen Versuchsteilnehmerinnen und Versuchsteilnehmern. Zweitens wird im Kontext der Diskussion um die Prinzipien guter wissenschaftlicher Praxis untersucht, welche moralischen und methodologischen Prinzipien innerhalb der Berufsgemeinschaft der Wissenschaftler gelten sollten und was gute wissenschaftliche Praxis von wissenschaftlichem Fehlverhalten unterscheide. Drittens versuche die Wissenschaftsethik zu klären, inwiefern Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler individuelle bzw. die Forschergemeinschaft kollektive Verantwortung für die Integrität der Forschung übernehmen können. Viertens werde in der Wissenschaftsethik die gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaft diskutiert. Die Wissenschaftsethik wird dabei als eigenständiges geisteswissenschaftliches Fach vorgestellt, das eigene Erkenntnisgegenstände untersucht und nicht in erster Linie als Hilfswissenschaft oder Dienstleistungsbereich für andere Wissenschaften fungiert (9).

Im zweiten Kapitel vermittelt Reydon ein erstes Verständnis für verschiedene ethische Perspektiven und skizziert Grundgedanken von deontologischen, konsequenzialistischen und tugendethischen Ansätzen der Moral (26–33). Die wesentliche Aussage in diesem Kapitel ist nicht etwa, dass eine spezifische Theorie der Moral akzeptiert werden sollte, um moralische Dilemmata im Forschungsprozess endgültig zu entscheiden. Vielmehr wird darauf hingewiesen, dass der Besitz einer spezifischen ethischen Perspektive mitunter den Blick dafür verstellt, dass Forschungsziele und Forschungsmethoden vor dem Hintergrund anderer ethischen Annahmen als problematisch wahrgenommen werden könnten (33). Forschungsethik untersucht, falls sie sich nicht gerade im Kontext guter wissenschaftlicher Praxis mit eindeutigen Normverstößen gegen wissenschaftliche Mindeststandards beschäftigt, moralische Problemsituationen, deren zufriedenstellende Auflösung durch die Anwesenheit vielfältiger Interessenlagen der beteiligten Akteure erschwert werde (34).

Die von der normativen Ethik bereitgestellten ethischen Theorien geben mögliche Bewertungs- und Argumentationsmuster vor, die man verfolgen kann, um aus einer Problemsituation herauszufinden. Die Theorien können in dieser Weise dem einzelnen Wissenschaftler dabei behilflich sein, sich in moralisch schwierigen Situationen zurechtzufinden und seine Handlungen rational zu begründen. (34)

Hinsichtlich der Schwierigkeit, Theorien der normativen Ethik in konkreten Problemsituationen zur Anwendung zu bringen, weist Reydon treffend auf zwei Probleme hin (34–36). Erstens müssen vor der Analyse moralischer Probleme im Forschungsprozess die folgenden vier Voraussetzungen erfüllt sein: Forscherinnen und Forscher müssen über eine ausreichende Kenntnis der Handlungsoptionen, Folgen der Umsetzung bestimmter Handlungsoptionen und moralphilosophische Begründungen von Handlungsoptionen verfügen, ferner muss genügend Zeit für eine gut begründete Entscheidung vorhanden sein (34). Zweitens sind spezifische normative Theorien zwar dazu geeignet, individuelle Entscheidungen rational zu begründen, auf der kollektiven Ebene der Forschungsgemeinschaften mangelt es allerdings an einem Konsens bezüglich der zu bevorzugenden normativen Perspektive (35). Ein Ausweg aus dieser Misere könnte nach Reydon etwa darin bestehen, professionelle Tugenden für die Mitglieder der Forschungsgemeinschaft im öffentlichen Plenum zu diskutieren. Man könnte Reydon hier vorhalten, dass sein Vorschlag bereits ein natürlicher Bestandteil der etablierten Ausbildungspraxis ist, insofern zunächst allgemein gehaltene Prinzipien guter wissenschaftlicher Praxis im Unterricht üblicherweise in Form von wünschenswerten Verhaltensdispositionen an Studierende herangetragen werden – etwa wenn ein Prinzip wie die faire Anerkennung wissenschaftlicher Leistung in Form der Forderung, Studierende sollten sich immer um eine sorgfältige Dokumentation der verwendeten Quellen bemühen, konkretisiert wird.

Untypisch für die Mehrzahl an Einführungen in die Wissenschaftsethik, aber vorbildlich in das didaktische Konzept des Buches integriert, wird im dritten Kapitel die Frage angesprochen, ob Wissenschaft prinzipiell wertfrei sein kann. Ausgangspunkt ist ein plausibles Verständnis von Wertfreiheit in der Wissenschaft: Forschung sollte hiernach faktische Beschreibungen von natürlichen und sozialen Phänomenen liefern, um Erklärungen und Voraussagen zu ermöglichen. Moralische Fragen hinsichtlich der Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnis entziehen sich der Expertise von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und sollten folglich anderweitig legitimierten Entscheidungsträgern überantwortet werden. Nach Reydon basiert eine solche Vorstellung von einer wertneutralen Wissenschaft auf der tief in der westlichen Philosophie verankerten Annahme einer strikten Trennung zwischen faktischem Wissen und Normativität, die paradigmatisch in Humes Philosophie zu finden ist und vom Autoren gedanklich bis zur Philosophie des logischen Positivismus weiterverfolgt wird (38-43). Sukzessive arbeitet der Autor heraus, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Sinne der Sicherstellung der Objektivität und Verlässlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis zwar darauf achten müssen, dass der Forschungsprozess nicht durch externe werthafte Annahmen kompromittiert wird. Allerdings sind damit Werte in drei Hinsichten nicht ausgeschlossen: Werte können Untersuchungsobjekte sein, beispielsweise in Form sozialwissenschaftlicher Forschung über faktisch vorliegende Werthaltungen in sozialen Gruppen (44). Ferner dienen epistemische Werte, gemeint sind hiermit wahrheitsindizierende Eigenschaften von Theorien wie beispielsweise Erklärungskraft oder empirische Adäquatheit (43–47), der Bewertung von Theorien. Letztlich sind Werte im Sinne eines Berufsethos der Wissenschaft ein wichtiger Bestandteil der Forschung (47–57). Reydon wird mit dieser Ausführung dem Sachverhalt gerecht, dass in der allgemeinen Wissenschaftstheorie oftmals wissenschaftsinterne Werte als epistemische bzw. nicht-epistemische Werte (sog. theoretische/empirische Tugenden) gedacht werden, die zentral für die Wahl von Hypothesen bzw. Theorien sind. In der Wissenschaftsethik wird Forschung hingegen tendenziell sozial konzipiert, nämlich als ein komplexer und regulierungsbedürftiger Interaktions- und Kommunikationsprozess zwischen den Mitgliedern von Forschungsgemeinschaften in institutionellen Konstellationen. Letzteres wird anhand der kritischen Diskussion von Mertons Berufsethos der Wissenschaft illustriert, demzufolge objektive und verlässliche Wissenschaft von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen praktiziert wird, die den vier sozialen Normen Universalismus, Kommunalismus, Uneigennützigkeit und organisiertem Skeptizismus folgen (49).

Bis zu diesem Punkt der Einführung hat Reydon das Problemfeld definiert und ethische sowie epistemologische Grundlagen der Forschung erschlossen. In den folgenden drei Kapiteln thematisiert Reydon die wissenschaftsinterne und -externe Verantwortung, die auf einer individuellen und einer kollektiven Ebene eingefordert werden kann. Als Ausgangspunkt dient im vierten Kapitel wiederholt Hoyningen-Huene, der Verantwortung als dreistellige Relation, nämlich ‚x ist gegenüber y für z verantwortlich‘ analysiert.

In dieser Konstellation hat x die Rolle des Verantwortungsträgers und y die Rolle der Verantwortungsinstanz; z ist z. B. eine Handlung, ein Sachverhalt oder die Konsequenz einer Handlung, die [in den] relevanten Verantwortungsbereich fällt. (61f.)

Drei Verantwortungskontexte werden in dieser Konzeption erfasst, nämlich rechtliche Verantwortung, moralische bzw. soziale Verantwortung und berufliche bzw. wissenschaftliche Verantwortung (62). Beispielsweise, so führt Reydon den Ansatz von Hyoningen-Huene weiter aus, ist jede Bürgerin und jeder Bürger im rechtlichen Verantwortungskontext eine Trägerin bzw. ein Träger von Rechten und Pflichten, die in Gesetzen niedergelegt sind und deren Einhaltung durch staatliche Institutionen garantiert wird, allerdings unterliegen Wissenschaftlerinne und Wissenschaftler aufgrund ihrer professionellen Rolle auch spezifischen rechtlichen Normen. Der Autor konkretisiert diesen Punkt, der auch für die moralischen und professionellen Verantwortungskontexte gemacht werden kann, anhand der spezifischen professionellen Pflichten in der wissenschaftlichen Publikationspraxis (68–78).

Im fünften Kapitel werden Aspekte der wissenschaftsexternen Verantwortung erörtert, womit die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, dem Gesetz oder der persönlichen Moral bezeichnet wird (68). Zunächst plausibilisiert Reydon den Grundsatz der Verantwortungssymmetrie. Danach sollten Forscherinnen und Forscher, die bereit sind, von der Gesellschaft Lob entgegenzunehmen, gleichermaßen gewillt sein, auch im negativen Sinne für bestimmte Aspekte ihrer Forschung gegenüber der Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen (81f.). Reydon referiert, um diese zunächst abstrakte Forderung zu konkretisieren, die an Francis Bacon anschließende Verantwortungsethik von Hans Jonas (87). Diese sei als Folge des Baconschen Idealbildes der Wissenschaft zu lesen, nach dem Wissen über die Natur in technischen Anwendungen münden solle, die der Verbesserung der Lebensumstände der Menschen dienen (82). Was bei Bacon als optimistisches Programm entwickelt wird, werde bei Jonas negativ aufgegriffen. Die Verfügbarkeit technischer Anwendungen berge Risiken und impliziere damit eine Verantwortungsbeziehung zwischen der Wissenschaft und der Gesellschaft (81f.). Der Schwerpunkt in Reydons Darstellung liegt im Folgenden auf spezifischen Arten der Verantwortung, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler infolge der Angehörigkeit zu ihrer Profession und der damit einhergehenden Expertise für bestimmte Erkenntnisgebiete und wissenschaftliche Methoden übernehmen können, falls ein Vorsorgeprinzip im Kontext der Einschätzung von Unsicherheiten und Risiken angenommen wird. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler könnten hier auf drei Weisen adressiert werden: Erstens können sie aktiv dazu beitragen, die Unsicherheit über die Risiken von vorhandenen und neuen Technologien abzuschätzen, sodass eine informierte Entscheidung über deren Einsatz möglich wird. Zweitens können Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als Expertinnen bzw. Experten für abschätzbare Risiken am öffentlichen Diskurs teilnehmen und damit eine Mittlerrolle zwischen Forschungsgemeinschaften und Öffentlichkeit einnehmen. Drittens können Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Risiken des eigenen Handelns im Forschungsprozess, etwa des Einsatzes bestimmter Methoden und der Wahl bestimmter Forschungsfragen, hinsichtlich des gesellschaftlichen Nutzens diskutieren (92f.). Letzterer Punkt wird anhand des Konzepts der Risikogesellschaft des jüngst verstorbenen Soziologen Ulrich Beck untermauert (93–96) und im letzten Kapitel des Buches weiter ausgebaut, wobei Reydon insbesondere auf Philip Kitchers Vorstellung einer wohlgeordneten Wissenschaft eingeht (125-130). Ein zentraler Bestandteil der wissenschaftsinternen Verantwortung, die Forscherinnen und Forscher gegenüber der wissenschaftlichen Gemeinschaft haben, ist die Einhaltung von Prinzipien guter wissenschaftlicher Praxis, die Reydon im sechsten Kapitel bespricht. Der Autor weist treffend darauf hin, dass Prinzipien guter wissenschaftlicher Praxis zunächst nur sehr allgemeine Beschreibungen wünschenswerten Handelns im Forschungsprozess sind, deren Konkretisierung in Form genauer methodischer Regeln zumeist informell während des Graduiertenstudiums vermittelt wird (102). Historisch fundiert bespricht Reydon klassische Definition von wissenschaftlichem Fehlverhalten, die auf Charles Babbage zurückgehen, und diskutiert insbesondere die Vor- und Nachteile der ffp-Definition, nach der insbesondere Datenfälschungen, Datenmanipulationen und Plagiate als ernste Verstöße gegen wissenschaftliche Sorgfaltspflichten gelten (106–112). Hervorzuheben ist in diesem Kontext, dass der Autor auch auf ehrlichen Fehler und verschiedene Schweregrade von Fehlverhalten im Forschungsprozess eingeht, eine oftmals vernachlässigte Problematik.

Im Folgenden werden nur drei Eigenheiten der Einführung moniert, nämlich (i) die disziplinäre Einordnung der Wissenschaftsethik, (ii) die Konzeption der Wissenschaftsethik als theoretische Hilfswissenschaft und (iii) einige wenige didaktische Schwachstellen.

Zur disziplinären Einordnung der Wissenschaftsethik: Reydons Einordnung der Wissenschaftsethik, die ein wenig verwirrend zunächst als Teildisziplin der Wissenschaftstheorie (9) und wenig später als bereichsspezifische Ethik (23) – jedenfalls als Geisteswissenschaft – beschrieben wird, ist aus verschiedenen Gründen problematisch. Erstens deuten die Diskussionen in führenden Journalen der Wissenschaftsethik, etwa Science and Engineering Ethics oder Accountability in Research nicht darauf hin, dass es sich um einen rein philosophischen Diskurs handelt. Vielmehr festigt sich schnell der Eindruck, dass es sich um eine stark interdisziplinär geführte Diskussion handelt. Beispielhaft kann an dieser Stelle auf die wissenschaftsethische Fachzeitschrift Science and Engineering Ethics, hingewiesen werden, in der etwa Beiträge zur Whistleblowing-Problematik publiziert werden. Diese Zeitschrift zeichnet sich gerade dadurch aus, dass in ihr nicht nur ein philosophischer Expertenkreis publiziert. Zweitens sind klassische Beiträge zur Wissenschaftsethik von Vertreterinnen und Vertretern nichtphilosophischer Fachrichtungen geliefert worden, etwa vom Soziologen Robert K. Merton, dessen Forschung zum wissenschaftlichen Berufsethos Reydon selbst en detail bespricht (47–56). Drittens profitieren alternative Einführungen in die Wissenschaftsethik, etwa das ungleich umfassendere Responsible Conduct of Research (2015) von Adil E. Shamoo (Biochemiker) und David B. Resnik (Philosoph und Jurist), gerade von der Einbeziehung nichtphilosophischer Perspektiven. Wo Reydon im Kontext der Differenzierung verschiedener Arten von Verantwortung die juristische Verantwortung des Wissenschaftlers als fachfremden Diskurs aus seiner Einführung kürzt, werden von Shamoo und Resnik dezidiert die rechtlichen Gesichtspunkte von Interessenkonflikten und Eigentumsrechten einbezogen. Dies ist keine singuläre Beobachtung, vielmehr ist der interdisziplinäre Charakter der Wissenschaftsethik in vielen Diskussionen präsent, so etwa in der deutschsprachigen Diskussion von Interessenkonflikten in der medizinischen Forschung (vgl. Lieb u.a. 2011.). Viertens führt eine vorab vorgenommene disziplinäre Engführung auch dazu, dass interessante und offene Fragen vorschnell unter der Annahme ausgeschlossen werden, die Philosophie könnte zu ihrer Klärung nichts beitragen (s. u. für ein Beispiel). Faktisch wie normativ angemessener könnte deswegen die Wissenschaftsethik, zumindest hinsichtlich des Problembereichs der guten wissenschaftlichen Praxis, als interdisziplinärer Diskurs charakterisiert werden, an dem sich Vertreter und Vertreterinnen der Philosophie, Methodenwissenschaft und Fachwissenschaften aus ihren eigenen fachlichen Perspektiven beteiligen.

Zur Konzeption der Wissenschaftsethik als theoretische Hilfswissenschaft: An manchen Stellen der Einführung gewinnt man den Eindruck, dass Reydon über das Leistungspotential der Wissenschaftsethik eine sehr konkrete Vorstellung hat: Wissenschaftsethik hat für den Autor in erster Linie die Funktion, bei der Analyse von moralischen Problemsituationen und der anschließenden rationalen Abwägung von Handlungsoptionen zu helfen. Die Beschäftigung mit konkreten Fällen scheint dabei aber nicht zum Handwerk von Wissenschaftsethikerinnen und Wissenschaftsethikern zu gehören. Dies verwundert, denn die Wissenschaftsethik könnte ebenfalls als Spielart der angewandten Ethik aufgefasst werden, deren Vertreterinnen und Vertreter bekanntlich nicht scheu sind, konkrete Bewertungen vorzunehmen. Nicht so bei Reydon, der im Kontext der Überprüfung von Plagiatsvermutungen schreibt:

Der praktische Umgang mit Plagiatsvermutungen ist zwar eine wichtige, aber keine wirklich wissenschaftsethische Frage. Wie ein Plagiat nachgewiesen wird, was die angemessene Strafmaßnahme für ein Plagiat eines bestimmten Umfangs ist usw., sind vielmehr rechtliche und verwaltungstechnische Fragen […]. (72)

Hier könnte man verschiedene Dinge entgegen halten: Erstens ist die Feststellung, ob faktisch ein Plagiat vorliegt, offensichtlich von der Expertise einer erfahrenen Geisteswissenschaftlerin oder eines Geisteswissenschaftlers abhängig, die bzw. der nicht nur die geltenden Standards der Zitation seines Fachbereichs verinnerlicht hat, sondern auch intime Kenntnisse des Forschungsstandes besitzt. Zweitens ist die Entwicklung eines Kriterienkatalogs zur Bemessung der Schwere sowie die Zuordnung von möglichen Strafmaßnahmen zu minderschweren oder schwerwiegenden Arten wissenschaftlicher Normüberschreitung gerade keine rein verwaltungstechnische oder juristische Frage. So würde ja niemand für die sofortige fristlose Kündigung in minderschweren Fällen von Plagiaten oder Selbstplagiaten plädieren, weil es im wesentlichen unfair bzw. unverhältnismäßig gegenüber denjenigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wäre, die einen ehrlichen Zitierfehler begehen. Fairness und Unverhältnismäßigkeit sind jedoch eindeutig moralische Konzepte. Verwirrend ist Reydons Vorgehen insbesondere deswegen, weil er im späteren Verlauf ja selbst auf das Problem der Bewertung der Schwere von Fehlverhalten hinweist, die unmittelbar zur Frage nach dem Strafmaß führt (108). Auch zeigen jüngere Veröffentlichungen, etwa vom Hauptherausgeber der Zeitschrift Topoi Fabio Paglieri über Plagiatsfälle in der Philosophie (Paglieri 2015), dass die Strafmaßbestimmung und allgemein Verfahren zur Sicherung guter publizistischer Praxis durchaus philosophisch kontrovers diskutiert werden können.

Wenige didaktische Schwachstellen: Fast durchgängig fehlen Hinweise auf umfangreichere Einführungen in die Wissenschaftsethik und relevante Bereichsethiken. Wenn eine Einführung tatsächlich in erster Linie Problembewusstsein schaffen und eine erste Orientierung vermitteln soll, dann muss sie in jedem Fall unerfahrenen Lesern und Leserinnen eine Perspektive auf weiterführende Schlüsseltexte bieten. Zwar bietet Reydon, was positiv zu bewerten ist, eine informiert geschriebene Übersicht über Richtlinienkataloge (112–120), an anderer Stelle liest man jedoch auch in einer Fußnote:

Siehe dazu [zur Realismusdiskussion in der Wissenschaftstheorie, AC] alle verfügbaren Einführungen in die Wissenschaftsphilosophie bzw. die Wissenschaftstheorie, wie z. B. Godfrey Smith (2003, insbesondere Kap. 3–4 und 12) (71).

Hier hätte besser auf eine Reihe von ausgesuchten Quellen verwiesen werden sollen, denn sicher kann nicht davon gesprochen werden, dass alle verfügbaren Einführungen in die Wissenschaftstheorie gleichermaßen geeignet sind, die Realismusdiskussion inhaltlich zu erschließen. Es gibt sehr kurze Einführungen, die eher einen ersten Einblick vermitteln und Interesse wecken sollen (Okasha 2002; Ladyman 2002), in manchen Einführungen beziehen die Autoren selbst explizit Stellung zur Realismusdiskussion und präsentieren die Resultate eigener Forschung (Schurz 2014) und es gibt auch Einführungen, die – obwohl philosophiehistorisch relevant und lesenswert – in manchen Teilen hinter den Stand der Forschung zurückgefallen sind (Carnap 1966).

Kritisch kann auch angemerkt werden, dass Reydon durchweg davon absieht, konkrete Verhaltensempfehlungen zu geben. So werden zwar Schwierigkeiten bei der Auflösung von moralischen Problemsituationen im Forschungsprozess genannt (34), aber keine konkreten Verhaltensempfehlungen an den Leser herangetragen – instruktiver ist hier etwa der Ansatz von Shamoo und Resnik (Shamoo und Resnik 2009, 28, 34).

Der vorliegende Text kann als Einführung in die Wissenschaftsethik überzeugen, ist gut lesbar und sinnvoll strukturiert. Reydon führt die Leserin und den Leser gekonnt durch ein wichtiges und in der Ausbildung von des wissenschaftlichen Nachwuchses nicht zu vernachlässigendes Thema. Besonders in Kombination mit einem Kurs, in dem die angesprochenen Themen vertieft und im Plenum diskutiert werden, ist die Einführung empfehlenswert. Wer sich jedoch in Heimarbeit in die Wissenschaftsethik einlesen möchte, der sei auf die o.g. Einführungen verwiesen.

Literatur

Briggle, Adam und Carl Mitcham. Ethics and Science. Cambridge: Cambridge University Press, 2012.

Carnap, Rudolf. Philosophical Foundations of Physics. New York: Basic Books, 1966.

Ladyman, James. Understanding Philosophy of Science. Abingdon: Taylor and Francis, 2002.

Lieb, Klaus, Klemperer, David und Wolf-Dieter Ludwig (Hrsg.). Interessenkonflikte in der Medizin. Berlin: Springer, 2011.

Okasha, Samir. Philosophy of Science: A Very Short Introduction. Oxford: Oxford University Press, 2002.

Paglieri, Fabio. “Reflections on Plagiarism”. In Topoi 34.1 (2015), 1–5.

Schurz, Gerhard. Philosophy of Science. New York: Routledge, 2014.

Shamoo, Adil E. und David B. Resnik. Responsible Conduct of Research. 2. Auflage. New York: Oxford University Press, 2009.

Shamoo, Adil E. und David B. Resnik. Responsible Conduct of Research. 3. Auflage. New York: Oxford University Press, 2015.

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