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Nigro, Roberto: Wahrheitsregime. Zürich/Berlin: diaphanes 2015. 104 Seiten. [978-3-03734-750-8]

Rezensiert von Martin Saar (Universität Leipzig)

Das schmale Buch Wahrheitsregime von Roberto Nigro bietet auf wenig Raum eine umfassende Deutungsperspektive auf das Werk von Michel Foucault. Methodisch und stilistisch eher ein Essay als eine ausgearbeitete Interpretation, enthält es eine konzentrierte Exposition und Diskussion zentraler Topoi des mittleren und späten Werks von Foucault, die sich vor allem auf das Verhältnis von Wahrheit und Macht beziehen. Der von Foucault vorgeschlagene, aber kaum systematisierte und auch gar nicht so häufig verwendete Begriff eines Regimes der Wahrheit dient Nigro als Emblem für ein Denken, das Wahrheitsfragen an Machtkonstellationen und damit epistemische Fragen an soziale Kontexte bindet (vgl. z.B. Foucault 1977: 33). An diesem Vorschlag interessiert Nigro aber weniger seine heuristische Erschließungskraft oder empirische Operationalisierbarkeit, sondern seine philosophische Form. Seine Deutung ist somit dem philosophischen Kern des Foucault’schen Projekts gewidmet, und Nigro setzt hierbei einige interessante und im Kontext der deutschen Debatte wenig selbstverständliche Akzente. Sein Essay bietet deshalb eine hervorragende Gelegenheit für eine kleine, aber vielleicht exemplarische Momentaufnahme der philosophischen Foucault-Rezeption, und diese weist, das dürfte kaum überraschen, viel Licht, aber auch ein wenig Schatten auf.

I.

Nigro beginnt damit, eine der zentralen Prämissen des Foucault’schen Projekts seit den späten 1960er Jahren aufzurufen: Was in einer Gesellschaft gewusst und gesagt werden kann, ist Ergebnis einer komplexen „Produktion des Diskurses“, die zu erforschen sich Foucault programmatisch für seine Arbeit am Collège de France ab 1970 vornimmt (Foucault 1991: 10). Das Terrain, auf dem sich Erkenntnisse und Wissbares konstituieren, ist also ein sozialer, ein politischer Raum: „Die Politik ist der Boden, auf dem entschieden wird, wer sprechen kann. […] Um die Produktion des Wissens und die Aufteilung der Erkenntnisse vollzieht sich ein Machtkampf.“ (10) Dies gilt aber nicht nur für den Objektbereich des Wissens, sondern auch für seine Träger, die (Erkenntnis-)Subjekte. Auch sie bilden sich erst in Praktiken und Dynamiken sozialer und institutioneller Interaktionen. In einem komplexen „Spiel der Wahrheit“, wie Foucault es an einigen Stellen nennt (vgl. z.B. Foucault 2004: 897), konstituieren sich Objekte und Subjekte wechselseitig. Aber dieser Prozess unterliegt Regeln und Rahmungen, die erst zu analysieren sind. Dabei wird deutlich, dass die sich einstellenden Ergebnisse, d.h. bestimmte Dinge, die gewusst werden können, und bestimmte Subjekte, die zum Wissen fähig sind, weder alternativlos sind noch ganz zwanglos zustande kommen.

In einem ersten Schritt, den Nigro im Wesentlichen an Kommentaren zu Foucaults machttheoretischem Hauptwerk Überwachen und Strafen von 1975 und den sie vorbereitenden Vorlesungen über Die Strafgesellschaft von 1972/73 entwickelt, die kürzlich erschienen sind, zeichnet er nach, wie Foucault die „Bildung des produktiven Subjekts“ (17) beschreibt. Auch wenn dies überraschen könnte, lassen sich zahlreiche Belege dafür finden, dass Foucaults Analyse der Genese moderner Subjektivität der Perspektive von Marx sehr nahe kommt: „Mit seinem Fokus auf die Frage nach der Konstitution von Subjektivität hebt Foucault einen Aspekt der Geschichte des Kapitalismus hervor, der bei Marx bereits angelegt ist, in Debatten um sein Werk aber oft unentwickelt bleibt.“ (21) Und für Nigro ist eigentlich schon Marx ein Foucaultianer avant la lettre (und gegen alle Chronologie), der Foucaults zentrale These systematisch vertreten hatte: „Marx ist der Autor, der alle transzendentalen Illusionen zerstört, indem er zeigt, dass Subjektivität als Resultat sozialer Prozesse zu verstehen ist. Bei Marx ist Subjektivität ein Ergebnis von Praktiken.“ (22) Foucault und Marx erläutern die Herausbildung einer spezifischen Form von Subjektivität, die unter kapitalistischen Bedingungen an Produktivität und Wachstum gebunden wird, indem „Lebenszeit dem Imperativ der Produktion unterworfen wird.“ (26) Wie für Marx ist dies für Foucault Ausdruck eines Machtkampfes zwischen verschiedenen Gruppen. Aber dieser Kampf ist selbst durch die Notwendigkeit begrenzt, Kräfte wachsen zu lassen und abzuschöpfen. Die in ihm herrschende Macht ist demnach positiv bzw. produktiv. Foucaults Konzept der „Regulierungsmacht“ - oder später, mit einigen zusätzlichen Nuancierungen, „Bio-Macht“ - benennt diese Qualität (vgl. Foucault 2001: 285).

Mit diesen ersten Bemerkungen, die noch ganz ohne den Bezug auf die Wahrheitsregime auskommen, hat Nigro die zentrale Idee Foucaults rekonstruiert, dass sich Subjekte erst in Produktionsprozessen und in zur Produktion anleitenden Verfahren bilden und dass diese Verfahren sowohl unterwerfend bzw. restriktiv als auch konstitutiv bzw. produktiv sind. In einem zweiten Schritt kontextualisiert und diskutiert er die darin enthaltene Subjekt- und Anthropologiekritik. Erneut besteht darauf, dass diese Überlegungen eine marxistische Vorlage haben:

„Für das zeitgenössische Denken bahnt Marx einen Weg von entscheidender Bedeutung, der die Entstehung sogenannter poststrukturalistischer Theorien erst ermöglicht. Mit ihm wandelt sich die Frage nach dem Subjekt von einer Frage nach seiner transzendentalen Stellung in eine Frage nach seiner Position als Effekt oder Resultat sozialer Prozesse. Marx’ Theorie ist Bedingung der Möglichkeit poststrukturalistischer Analysen.“ (41)

Diese letzte Formulierung ist cum grano salis zu lesen, denn die vollständige Liste dessen, was alles „Bedingung“ des Poststrukturalismus genannt werden könnte, ist sicher länger (Hegel, Nietzsche, Freud, Saussure, Kojève, u.v.m.). Aber ganz zu Recht lokalisiert Nigro die Frage nach dem Menschen und dem Subjekt als eine Grundachse der Philosophien des 19. und 20. Jahrhunderts. Foucaults Rede von der relativ jungen „Erfindung“ des Menschen in Die Ordnung der Dinge von 1966 nimmt eine Diskussion auf, die sich von Nietzsche über Heidegger zu Althusser erstreckt und in der die vermeintlichen Fundamente der Subjektphilosophie und der philosophischen Anthropologie ihre Tragfähigkeit verloren haben (Foucault 1971: 462, vgl. Rölli 2011). Eine solche „radikale Kritik der Idee der menschlichen Natur und der Metaphysik der Subjektivität“ hat diese vermeintlichen Fundamente zu Konstitutionsprodukten gemacht und verändert den Modus der philosophischen Analyse; sie eröffnet „den Zugang zu einer Geschichte der Wahrheit, in welcher Wahrheitsregime für das Erkenntnissubjekt konstitutiv sind“ (5).

In einem dritten Schritt verengt Nigro den Fokus auf die Frage des Status der Erkenntnis oder des Wissens, wie sie sich aus dieser konstruktivistischen oder konstitutionistischen Perspektive stellt. Während Marx (zumindest in Nigros Rekonstruktion) ein wichtiger, aber eher impliziter Bezugspunkt ist, beruft sich Foucault bekanntlich ab den 1970er Jahren explizit und emphatisch auf Nietzsche. Nigro zeichnet die zentrale Rolle, die Nietzsches Erkenntniskritik für Foucaults eigene Genealogie der Wissensformen hat, besonders eindringlich anhand einer Diskussion der ersten Vorlesungen am Collège de France von 1970/71 nach. Von Nietzsche übernimmt Foucault die Motive einer Kritik aller Ursprungsprinzipien, die Idee einer durch und durch historisierenden Analyse und eine Zurückweisung jeder Idee eines objektiven, neutralen Wissens. „Erkenntnis eröffnet keinen Zugang zum Sein oder zur Essenz“, keine view from nowhere, „sondern ist das Erscheinen eines Effekts antagonistischer Triebe, […] nicht Aufhebung von Trieben und ihren Kämpfen, sondern [sie]besteht aus ihnen“ (70). Es kann hier offen bleiben, wie ernsthaft sich Foucault wirklich auch die triebtheoretische Unterfütterung dieses Modells aneignet, das er 1970 mit sichtlicher Sympathie referiert und dem Aristotelismus entgegenstellt. Konsequent ist die damit verbundene Detranszendentalisierung der Erkenntnistheorie:

„Erkenntnis ist daher stets singulär; eine allgemeine Theorie der Erkenntnis kann es also nicht geben. Erkenntnis entspricht keiner transzendentalen Struktur, weil es sie nur insofern gibt, als es zwischen dem Menschen und dem Erkenntnisobjekt gleichsam zu einem ganz besonderen Kampf, einer Konfrontation, einem Duell kommt.“ (72)

Auch Nigro selbst referiert diese ja recht hochstufigen Referate übrigens weitgehend unkommentiert und bleibt damit in diesem Zusammenhang einer fundamentalen Philosophiekritik selbst methodisch überraschend konventionell.

Die Revision des Bilds von Erkenntnis oder Wissen, die Foucault vornimmt, schlägt nun direkt durch auf das Bild vom an der Erkenntnis beteiligten Subjekt. Mit Hilfe nietzscheanischer topoi kann Foucault deutlich den antagonistischen Charakter auch der Erkenntnisbeziehung charakterisieren, die Nigro so wichtig ist: Die Herausbildung einer spezifischen Gestalt des Erkenntnissubjekts oder einer spezifischen Form von Subjektivität ist in diesem Bild konsequent als Unterwerfungs-, d.h. Subjektivierungsgeschehen zu verstehen. Es ist diese Verschiebung der Perspektive von der „Idee des gründenden Subjekts […] zum Verständnis eines konstituierten Subjekts hin“ (75), die das Besondere von Foucaults Beitrag zur kritischen Philosophie ausmacht.

Erst im vierten und letzten Schritt diskutiert Nigro explizit die für das Konzept der Wahrheitsregime direkt einschlägigen Passagen und Überlegungen Foucaults. Dieser hatte sich in seiner Kritik an der klassischen Ideologiekritik und an der Repressionshypothese mit der Rede von den „Wissen/Macht“-Komplexen um eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Macht und Wissen, Zwang und Wahrheit bemüht. Die Kritik an klassischeren, herrschaftsbezogenen Machtkonzeptionen sollte aber keine Neutralität der Macht erweisen, im Gegenteil:

„Foucaults philosophische Geste besteht im Versuch, die Nicht-Notwendigkeit jeglicher Macht systematisch zur Darstellung zu bringen. […] Foucaults Ausgangspunkt ist die Infragestellung, die Problematisierung aller Formen von Macht. Er geht davon aus, ‚dass keine Macht, welche es auch sei, mit vollem Recht akzeptierbar und absolut definitiv unvermeidlich ist‘“ (83, zit. Foucault 2014: 115).

„Unvermeidlich“ und „Nicht-Notwendigkeit“ bedeuten hier, dass Machtverhältnisse zwar soziale Praktiken oder Identitäten auf eine tiefgreifende Weise strukturieren und fixieren können, diese aber weder ewig noch unbestreitbar sein müssen. Denn dass hier Macht im Spiel ist, bedeutet nur, dass etwas (nämlich diese Praktiken, diese Identitäten) so ist, wie es ist, weil etwas Anderes (nämlich Macht) darin wirkt. Die Rede von den „Wahrheitsregimen“ benennt diesen Zusammenhang für die epistemische Dimension:

„Subjektivität bildet sich durch ihre Beziehung mit ihrer eigenen Wahrheit. Es ist dieses Verhältnis, das sie konstituiert und transformiert. […] Foucaults Ansatz betrifft nicht mehr die Frage nach der Wahrheit als formale Struktur der Erkenntnis, sondern die Frage nach der Wahrheit als Pflicht, Zwang, Verbindung und Politik, um die Frage also, wie sich Subjektivität historisch durch Wahrheitspflichten konstituiert.“ (93)

Es bleibt der essayistischen Methodik Nigros geschuldet, dass er – ganz anders als Foucault – an keiner Stelle konkreter auf Fälle oder Beispiele solcher „Wahrheitspflichten“ eingeht. Aber das entscheidende systematische Argument ist deutlich: Wer Wahrheiten an Pflichten und Zwänge bindet, postuliert ein konstitutives „Zusammenspiel zwischen Politik und Epistemologie“ (98). Jede Wahrheit wird so zu einer gemachten, auferlegten, ja, erzwungenen Wahrheit, auch wenn dies sicher drastischere und harmlosere Formen annehmen kann. Damit wird die Wahrheitsfrage zur Frage nach der ‚Politik der Wahrheit‘ und auch zu der Frage nach den möglichen Formen von Resistenz gegen eine bestimmte Wahrheitsordnung, die Teil werden können einer „Produktion anderer Subjekte und Lebensweisen, ein Experimentieren mit möglichen Formen des Widerstands“ (98). Nigro scheint nahezulegen, dass das philosophische Verdienst Foucaults weniger in konkreten Auflösungen spezifischer zeitgenössischer Wahrheitszwänge als im generellen Eröffnen von Spielräumen auf dieser Ebene liegt: In den Spielen der Wahrheit sind mit der Errichtung und dem In-Kraft-sein bestimmter Wahrheitsregime zwar viele Würfel gefallen, aber es wird immer nächste Spielzüge geben.

II.

Auf der Ebene der philosophischen Interpretation scheinen mir drei große Vorzüge von Nigros Vorschlag eindeutig. Erstens liegt hier ein elegant geführter Nachweis der konstanten Nähe von Foucaults Arbeit zur marxistischen Theorieentwicklung vor. Die Gegenüberstellungen und Entgegensetzungen, die, auch ausgehend von einigen Zuspitzungen Foucaults, immer wieder polemisch inszeniert wurden, verlieren vor dem Hintergrund dieser Deutung ihre Triftigkeit. Schon Marx lässt sich als Denker der sozialen Konstitution von Subjektivität lesen, seine Kapitaltheorie als eine allgemeine Theorie sozialer Kräfteverhältnisse. Foucaults vielfältige Versuche, der orthodoxen Ideologiekritik etwas entgegenzusetzen, teilen mit Marx den Ausgangspunkt, nämlich das Projekt einer nicht-idealistischen, praxisbasierten Analyse der Genese von Denk- und Handlungsformen. Man könnte sogar sagen, dass die Prominenz des Wahrheitsthemas unter anderem mit genau dem in vielen materialistischen Ideologietheorien ungelösten Problem zusammenhängt, das Reale oder Wirksame ideologischer Konstruktionen artikulieren zu können, einer etwa für das Theorieprojekt von Foucaults Lehrer Louis Althusser vordringlichen Problematik (vgl. Saar 2015). Foucaults Vorschläge in Richtung ‚Politik der Wahrheit‘ und ‚Wahrheitsregime‘ sind damit, und dies zeigt Nigro trefflich, selbst Operationen im Innern einer weitgefassten Theoriegeschichte des Marxismus (vgl. Barrett 1991).

Zweitens stellt sich Nigros Deutung, ohne dass er es ganz explizit machen würde, Interpretationen in den Weg, die Foucaults Projekt eher anti-philosophisch, nämlich rein historisch oder soziologisch rekonstruieren. Im Kern von Nigros Foucault-Bild stehen ontologische Fragen: der Konstitution von Subjektivität, der wechselseitigen Erzeugung von Wissen, Macht und Praxis, des Sich-verhärtens von Identitäten und Normen im Zuge der Herausbildung von Mustern der Bezugnahme und Interaktion. Diese Fragen berühren aber philosophische Grundkategorien (Sein, Identität, Geltung, Wahrheit), deren Revision Foucault eben – neben den empirischen und historischen Analysen – auch konsequent betreibt (vgl. etwa Han 1998). Nichts daran ähnelt übrigens dem Zerrbild einer Auflösung aller materialen Robustheiten in Diskurseffekte, wie es heute im Rahmen der Debatte um den New Materialism oft gezeichnet wird (vgl. Barad 2012 und dagegen Lemke 2014). Im Gegenteil ist, wie Nigro zeigt, Foucault als eine Art unorthodoxer Materialist zu lesen, für den das Materiell-Werden, Wirksam-Werden von gesellschaftlichen Kräften und politischen Steuerungen das eigentlich zu Erklärende ist.

Drittens scheint mir Nigros Deutung ein weiterer Beleg dafür zu sein, wie abwegig letztlich einige Positionen in der immer wieder aufflammenden Diskussion um Foucaults angebliche Nähe zum Neoliberalismus sein dürften (vgl. Sarasin 2007, Zamora 2014). Überhaupt zu unterstellen, dass Foucault in seiner Bezugnahme auf diese Diskursformation ideologischen oder politischen Sympathien folge, verkennt den methodisch konsequenten Charakter der Gouvernementalitätsvorlesungen völlig. Sie stehen im Kontext genau der von Nigro nachgezeichneten Linie der Analyse von Wahrheitsregimen. Foucaults im Rückblick fast beängstigende Hellsichtigkeit am Ende der 1970er Jahren war es, in den ja gerade erst entstehenden neoliberalen Diskursformationen schon die Umrisse einer in der Tat revolutionären neuen politische Rationalität zu erblicken. Sie als ein Wahrheitsregime und eben nicht als „Ideologie […] [sondern] zunächst und vor allem eine Machttechnologie“ (Foucault 2004: 79) zu analysieren bedeutet gerade, sie in ihrer weltprägenden, konstitutiven Kraft anzuerkennen. Dies dürfte eine Geste sein, die knapp 40 Jahre später, d.h. nach dem globalen Etappensieg des Neoliberalismus, wohl keiner Begründung mehr bedarf, die aber ja nicht mit Zustimmung zu verwechseln ist. Den Neoliberalismus als ein besonderes Wahrheitsregime zu analysieren ermöglicht gerade, ihm seine interne Zwanghaftigkeit, seine „Nicht-Notwendigkeit“ auch dann noch vorzurechnen, wenn sich seine Perspektive, d.h. sein Bild der Welt als totalem Markt, längst durchgesetzt und naturalisiert hat. Mit Nigro lässt sich formulieren, wie eine kritische Analyse, die diese Unausweichlichkeit bestreitet, methodisch und systematisch aussehen könnte (vgl. auch Brown 2014).

III.

Trotz aller dieser Verdienste fallen mir auch an Nigros Buch einige zweifelhafte Tendenzen vieler derzeitiger Foucault-Kommentare auf. Eine Neigung zur heroischen Stilisierung des Meisterdenkers Foucault herrscht in vielen Fällen vor, selbst wenn dies der anti-individualistischen Stoßrichtung seiner Theorie des Diskurses eigentlich zuwider läuft. Schwerer zu wiegen scheint mir die Neigung, auch in der Diskussion der philosophischen Fragen eigentümlich selbstreferentiell zu bleiben und damit die Konturen von Foucaults Vorschlägen weniger scharf zu zeichnen, als es wünschenswert wäre. Vielfach werden Foucaults Fragestellungen als so spezifisch charakterisiert, dass nicht mehr ganz sichtbar wird, im Raum welcher Gegenvorschläge sie eigentlich verortet werden müssen und mit welchen anderen Theorieentwicklungen sie in Verbindung stehen oder sogar zur Verstärkung ihrer systematischen Schlagkraft in Verbindung gebracht werden könnten. An zwei Beispielen lässt sich dieses Problem leicht illustrieren.

Zum einen könnte es sein, dass es kaum mehr ausreicht, die Bedeutung von Foucaults heterodoxer Machtkonzeption herauszustellen, ohne auch die Alternativen in der Debatte deutlicher zu markieren. Die seinerzeit wohlbegründete Ablehnung souveränitätsfixierter oder herrschaftszentrierter Machtkonzepte dürfte inzwischen so etabliert sein, dass es mittlerweile eher notwendig wird, auch wieder die alten ‚harten‘ oder neuautoritären Dimensionen zeitgenössischer Machtkonstellation hervorzukehren, wozu Foucaults eigene Texte übrigens reichlich Anlass geben (vgl. Dean 2002). Ist der Wahrheitsregime-Topos nicht sogar der beste Ansatzpunkt, um die konstitutive Verbindung von Zwang und Konsens, von der Gramsci im Rahmen seiner Hegemonietheorie gesprochen hat, besser zu verstehen?

Nigro scheint fast zu sehr fixiert auf die primäre werkimmanente Bewegung, die Öffnung des Machtkonzepts für die Nichtzwangsmomente, um die entsprechende gegenläufige Pointe der Reintegration des Zwangsmoments in die vermeintliche Freiheit des Erkennens noch klar herausstellen zu wollen. Und lässt sich dies so allgemein, so philosophisch überhaupt verhandeln, wie es hier vorgeschlagen wird? Sollte man hierfür nicht Anschlüsse an Debatten um die sozialen Bedingungen der Erkenntnis (wie in der Wissenssoziologie und social epistemology) oder neuere Versuche eines kritischen Sozialkonstruktivismus suchen (vgl. Haslanger 2012)? Nigros Plädoyer für den Fokus auf die Wahrheitsregime bleibt hier eigentümlich abstrakt. Er gibt sich im engen Rahmen der programmatischen Skizze zu wenig Raum, um die Einschlägigkeit der foucaultianischen Stimme für die Frage nach der Macht in der Wahrheit, die weit über den Bereich der Foucault-Interpretation hinausreichen, deutlicher zu konturieren.

Zum anderen bleibt auch die Darstellung der sprachtheoretischen Implikationen der rekonstruierten Wahrheitsregime-Problematik eigentümlich blass. Im Rahmen der Erläuterung der „Wahrheitspflichten“ zitiert Nigro zustimmend Foucaults Erläuterungen des antiken Wahrheitsdenkens und schreibt kommentierend: „Unterhalb jedes Arguments, unterhalb aller Überlegungen, unterhalb des Umstands, etwas als eine Evidenz anzuerkennen, gibt es immer eine bestimmte Affirmation, die nicht zur logischen Ordnung oder zur Wahrheit selbst gehört.“ (53) In wenigen Zeilen wird dies als zentrale Pointe von Foucaults Vorstellung von Wahrheitspolitik ausgewiesen, dann aber kaum weiter erläutert. Auch hier entsteht der Eindruck, als hätte Foucault eine originäre und weiterhin originelle Einsicht formuliert, deren Brauchbarkeit fraglos ist. Es dürfte aber nötig sein anzuerkennen, dass mit der Frage nach dem Verhältnis von Gehalt und propositionaler Kraft oder Affirmation ein zentraler Topos der modernen Sprachphilosophie (spätestens nach Frege) berührt ist. Die Frage nach der force, die sich im Sprechen mit dem Gesprochenen amalgamiert, ist von höchstem systematischen Rang; und es dürfte der Schlagkraft von Nigros Vorschlag keinen Abbruch tun, wenn solche Bezüge auch vorkämen. Denn von dort aus wäre auch klarer, dass es einen Unterschied macht, ob man diese Frage wie Foucault eher nietzscheanisch und mit Blick auf soziale Kräfteverhältnisse stellt oder wie der Mainstream der Sprachphilosophie nach Brandom neopragmatistisch und mit Blick auf deontische Verpflichtungen – als ob alltägliches, sozial situiertes Denken und Sprechen selbst philosophische Veranstaltungen wären (vgl. Vogelmann 2014).

Nigros Interpretationsskizze scheut hier vielleicht dann doch diese Schritte in Richtung Diskurseinordnung und systematische Produktivmachung, die sie selbst in großer Plausibilität und Dringlichkeit nahelegt. Wünschenswert wäre, mit anderen Worten, ein philosophisches Reden über Foucault, das ihn noch stärker in das aktuelle Gespräch um die philosophischen offenen Fragen bringt. Werkinterne Kontextualisierungen sind hierfür der unerlässliche erste Schritt, sollten aber nicht der letzte sein. Ein schlagkräftiger zeitgenössischer Foucaultianismus darf sich seine Gegner, Sparrings- und Bündnispartner auch in der Gegenwart suchen.

Literatur

Barad, Karen. Agentieller Realismus. Über die Bedeutung materiell-diskursiver Praktiken. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2012 [2007].

Barrett, Michèle. The Politics of Truth: From Marx to Foucault. Stanford: Stanford University Press, 1991.

Brown, Wendy. Die schleichende Revolution. Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2015.

Dean, Mitchell. „Liberal Government and Authoritarianism.“ Economy and Society 31.1 (2002), 37–61.

Foucault, Michel. Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1971 [1966].

Foucault, Michel. Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977 [1975].

Foucault, Michel. Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1991 [1970].

Foucault, Michel. In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesung am Collège de France (1975-1976), hg. von Mauro Bertani u. Alessandro Fontana. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2001 [1996].

Foucault, Michel. „Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit“. In Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, hg. von Daniel Defert u. François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Bd. 4, Nr. 356, 875–902 Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2004 [1984].

Foucault, Michel. Die Regierung der Lebenden. Vorlesung am College de France (1979-1980), hg. von Michel Senellart, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2014 [2012].

Han, Béatrice, L’ontologie manquée de Michel Foucault: entre l'historique et le transcendantal, Paris: Jérôme Millon, 1998.

Haslanger, Sally. Resisting Reality: Social Construction and Social Critique. Oxford: Oxford University Press, 2012.

Lemke, Thomas, „New Materialisms: Foucault and the ‚Government of Things‘.“ Theory, Culture & Society 32.4 (2014), 3–25.

Rölli, Marc. Kritik der anthropologischen Vernunft. Berlin: Matthes & Seitz, 2011.

Saar, Martin. „Das Strafen der Gesellschaft. Rezension von: Michel Foucault, Die Strafgesellschaft. Vorlesung am Collège de France (1972-1973), hrsg. von Bernard E. Harcourt. Berlin 2015: Suhrkamp“. neue politische literatur 61.2 (2015), 342–343.

Sarasin, Philipp. „Unternehmer seiner selbst.“ Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55.3 (2007), 473–493.

Vogelmann, Frieder. Im Bann der Verantwortung. Frankfurt a. M./New York: Campus, 2014.

Zamora, Daniel. „Can We Criticize Foucault?” Jacobin 12.10.2014, ‹https://www.jacobinmag.com/2014/12/foucault-interview/› (letzter Abruf 13. Mai 2016).

Zamora, Daniel (Hg.). Critiquer Foucault: Les années 1980 et la tentation néolibérale, Bruxelles: Éditions Aden, 2014.

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