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Condoleo, Nicola: Vom Imaginären zur Autonomie. Grundlagen der politischen Philosophie von Cornelius Castoriadis. Bielefeld: transcript 2015. 195 Seiten. [978-3-8376-3189-0]

Rezensiert von Simon Herzhoff (Kunstakademie Düsseldorf)

Die Philosophie Cornelius Castoriadis’ (1922–1997), stellte Hans Joas 1989 fest, sei in Deutschland ungeachtet der „fast modisch zu nennende[n] Bereitschaft, französischsprachige Autoren zur Kenntnis zu nehmen“ (Joas 1989: 586), ohne große Resonanz geblieben. Daran hat sich bis heute kaum etwas geändert. Zwar haben neben Joas etwa auch Jürgen Habermas (1988), Axel Honneth (1985) oder Bernhard Waldenfels (1989) auf Castoriadis’ Bedeutung hingewiesen, von einer regen Rezeption seiner Schriften konnte und kann im deutschsprachigen Raum aber nicht die Rede sein. Dies mag damit zusammenhängen, dass neben Castoriadis’ Hauptwerk Gesellschaft als imaginäre Institution bis vor einigen Jahren nur wenige seiner kleineren Schriften in deutscher Übersetzung erhältlich waren. Mit der sieben Teilbände umfassenden Edition der Ausgewählten Schriften Castoriadis’, die seit kurzem vorliegt, sind nun die Voraussetzungen für die Diskussion einer „der imponierendsten Leistungen“ (Honneth 1985: 807) gesellschaftskritischer Theoriebildung deutlich besser. Auch die Studie von Nicola Condoleo präsentiert Castoriadis als einen dezidiert gesellschaftskritischen und politischen Denker. Mit dieser Studie hat sich die Autorin zum Ziel gesetzt, insbesondere die Grundlagen der politischen Philosophie von Cornelius Castoriadis zu erhellen. Genauer bedeutet dies, die nach Ansicht Condoleos von Castoriadis selbst nur angedeutete „Verknüpfung zwischen dem Begriff des Imaginären und der Autonomie“ (10) offenzulegen.

Es kostet jedoch manche Lesemühen, um zu Condoleos Erläuterung dieser beiden für die (politische) Philosophie Castoriadis’ in der Tat zentralen Konzepte und ihrer Verbindung vorzudringen. Im ersten Kapitel nämlich widmet sich die Autorin zunächst dem Konzept des staatlichen Gewaltmonopols, um damit vorab ein Beispiel für Castoriadis’ Begriff der imaginären Institution zu geben. So recht scheint Condoleo selbst von der Notwendigkeit dieser Ausführungen nicht überzeugt, gibt sie ihren Leser_innen doch den Hinweis, sie könnten auch, um „sogleich auf den Zusammenhang mit Castoriadis’ Theorie“ zu kommen, „die Lektüre mit den Kapiteln 1.6 oder 1.7 beginnen“ (10) – also etwa 30 Seiten einer Arbeit von knapp 200 Seiten unbesehen überblättern.

Versteht Castoriadis unter einer Institution – Beispiele hierfür sind „Normen, Werte, Sprache, Werkzeuge, Herstellungsprozesse oder -methoden, Individuen“ (61) – einen „Ausdruck, eine Erscheinungsform, gesellschaftlich imaginärer Bedeutungen“ (15), so geht es Condoleo vor allem darum, die „imaginären Anteile“ (55) und den symbolischen Gehalt der Institution des staatlichen Gewaltmonopols heraus zu präparieren. Sie liefert dazu im ersten Schritt eine dichte und ausführliche Beschreibung einer Vereidigungsfeier von Zürcher Kantonspolizist_innen, um dann mit dem Schlagstock und dem Gummischrot zwei polizeiliche Zwangsmittel in ihrer nicht nur funktionalen, sondern zuvorderst symbolischen Dimension in Augenschein zu nehmen. Theoretisch ergiebiger als die Beschreibung der Vereidigungsfeier sowie die sich anschließende Erläuterung der rechtlichen Verankerung des Gewaltmonopols in der Schweizer Bundes- und der Zürcher Kantonsverfassung ist die Frage nach der Legitimation des Gewaltmonopols, die Condoleo mit einer Skizze seiner historischen Genese verquickt. Sie widerspricht im Anschluss an Hans Peter Duerr der von „teleologische[n] Voraussetzungen“ (37) kontaminierten Behauptung, es handele sich bei der Entstehung des Gewaltmonopols um eine Begleiterscheinung oder Folge des Zivilisationsprozesses. Hinter dieser These stehe meist eine funktionale Begründung des Gewaltmonopols nach hobbesschem Muster: Nur ein mächtiger Leviathan könne den Krieg aller gegen alle befrieden. Die Begründung des Gewaltmonopols, so Condoleo, beruhe mithin auf „Vorstellungen“ (52) von einem zu vermeidenden Naturzustand, bedürfe also des Rückgriffs auf Imaginäres. Die Krux sei, dass die Legitimation des Gewaltmonopols durch imaginäre Vorstellungen kein Gedankenexperiment bleibt, sondern zu einer rational nicht mehr kritisierbaren Wirklichkeit gerinnt und somit in die Heteronomie führt. (47ff.) Mit Castoriadis gesprochen: Die imaginären Anteile der Institution des Gewaltmonopols verselbständigen sich gegenüber der Gesellschaft.

Was genau meint Castoriadis, wenn er vom Imaginären spricht, und wie hängt dieser Begriff mit den Begriffen ‚Symbol‘ und ‚Institution‘ zusammen? Den Antworten hierauf ist das zweite Kapitel gewidmet, in dem die Autorin das „Begriffsskelett von Castoriadis“ (10) aufrichten möchte. Die Wendung ‚Begriffsskelett‘ ist dabei treffend gewählt, da in der Darstellung insgesamt leider zu wenig Fleisch an die Begriffe kommt. Insbesondere zu dem Schlüsselbegriff des Imaginären hätte man sich eingehendere und mehr noch: kritischere Ausführungen gewünscht. So verzichtet Condoleo etwa darauf (ohne dies jedoch als bewussten Verzicht zu markieren), Castoriadis’ Verständnis des Imaginären in den größeren Rahmen seiner radikalen Kritik an der abendländischen Philosophie zu stellen, der er vorwirft, eine „Ontologie der Bestimmtheit“ (Joas 1989: 594) verfolgt zu haben. Stets habe man, so Castoriadis, das Sein als ein bestimmtes Sein denken wollen – damit aber gerade das gesellschaftliche Sein verkannt. Castoriadis’ ausführliche Auseinandersetzung mit funktionalistischen, strukturalistischen und marxistischen Theorien der Gesellschaft gründet in seiner Kritik an dieser Bestimmtheitsontologie, die das Imaginäre falsch verstanden habe: Als Reproduktion oder Kombination von etwas schon Vorhandenem, wodurch die Veränderbarkeit und der Wandel jedweder Gesellschaft nicht in den Blick geraten konnte.

Condoleo gelingt es, das von Castoriadis selbst nicht immer übersichtlich bestellte Begriffsfeld rund um das Imaginäre zu ordnen. Das sogenannte radikale Imaginäre tritt in zwei Formen auf: Als „radikale Imagination“ der Psyche und als „gesellschaftliches Imaginäres“, das Castoriadis auch die „instituierende Gesellschaft“ (Castoriadis 1990: 603) nennt. Gegen die philosophische Tradition begreift er das Imaginäre als ein „Vermögen (dynamis) etwas für sich und aus sich heraus zu setzen“. (Castoriadis 2010: 16) Anders gesagt: Das Imaginäre ist „Schöpfung ex nihilo“ (Castoriadis 1990: 12), was bedeutet, so erläutert Condoleo, dass sich das Geschöpfte nicht auf etwas „sinnlich Wahrgenommenes oder rational Begriffenes“ (111) beziehen muss. Das Imaginäre gründet allein in dem, was Castoriadis ‚Magma‘ nennt, ein grundloser „unversiegbarer Quell neuer Bedeutungen, die institutionalisiert werden können“ (72f.). Diese Quelle, aus der das Imaginäre Sinn schöpft, könne selbst nicht näher bezeichnet werden, „da die Bezeichnung durch Symbole und einen geronnenen Sinn dem, was Magma ‚ist‘, entgegensteht“. (73) Man müsse das Magma transzendental verstehen: „Das heißt, es bezeichnet eine Bedingung gesellschaftlicher Sinnstiftung wie auch das radikal Imaginäre. Insofern ist das Magma Residuum/Reservoir, während das radikal Imaginäre die schaffende Kraft ist, die aus dem Magma schöpft, zugleich aber ebenso transzendental zu verstehen ist.“ (73)

Was es mit diesem transzendentalen Charakter des Imaginären auf sich hat, verdeutlicht Condoleo im dritten Kapitel. Hier zeigt sie, dass das Imaginäre – ähnlich wie der ‚Gattungscharakter‘ des Menschen bei Marx – auf einer versteckten Anthropologie beruht. Diese komme ans Licht, wenn Castoriadis behauptet, „dass die Menschen eine Fähigkeit hätten, etwas zu schaffen oder aus einem unversiegbaren Quell zu schöpfen, welchen er das radikal Imaginäre nennt“ (130). Die Fähigkeit zur Imagination sei eine vorausgesetzte „anthropologische Konstante“ (132) und eine „transzendentale Bedingung“ (130) der Möglichkeit, das Gesellschaftlich-Geschichtliche, also die unabweisbare Unterschiedlichkeit und Veränderbarkeit aller Gesellschaften begreifen und praktisch verwirklichen zu können (136, 145).

Als „wirkende Schöpfung“ (71) unterscheidet sich das radikale Imaginäre von der „‚sekundären‘ Imagination […], der rein reproduktiven und/oder kombinatorischen Imagination“ (Castoriadis 2010: 293), als die Castoriadis auch Jacques Lacans Begriff des Imaginären identifiziert: „[W]as gewisse psychoanalytische Strömungen“ mit dem Begriff des Imaginären meinten, sei „nur ein Bild von, ein reflektiertes Bild“, eine „Widerspiegelung und damit ein Abfallprodukt der platonischen Ontologie“ (Castoriadis 1990: 12). In ihrem Exkurs zum Begriff des Imaginären bei Lacan (92–100) schließt sich Condoleo diesem Urteil an: Lacans und Castoriadis’ Auffassungen des Imaginären, so ihr Resümee, stehen einander diametral entgegen. Bei dem einen sei das Imaginäre eine trügerisch-illusionäre Spiegelung, bei dem anderen hingegen ein untilgbares Schöpfungsvermögen. Einwände gegen Castoriadis’ Lacan-Kritik, wie sie etwa Susanne Lüdemann formuliert hat, bleiben unerwähnt: Bei Lacan sei das Spiegelbild gerade keine bloße Widerspiegelung des (schon vorhandenen) Ich, sondern dasjenige, so Lüdemann, was das zuvor als zerstückelt wahrgenommene Ich als Einheit erst hervorbringt; durchaus also auch eine Produktivkraft (vgl. Lüdemann 2004: 54f.). Der weitgehende Verzicht auf eine Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur zu Castoriadis, der Condoleos Arbeit im Ganzen kennzeichnet, macht sich hier deutlich als Manko bemerkbar und führt unter anderem dazu, dass sie kritische Stimmen zu Castoriadis’ Konzept des Imaginären nicht registriert.

Aus einer an Lacan geschulten Perspektive stellt sich nämlich möglicherweise das Imaginäre, das von Castoriadis als ein letztlich unverlierbares Vermögen des Individuums konzipiert wird, als ein metaphysisch-essentialistisches Konzept heraus. Castoriadis, so befürchtet in diesem Sinne etwa Yannis Stavrakakis, vertrete „a romantic and vitalist Cartesianism which fails to account in a coherent way for the dialectics of desire marking human life” (Stavrakakis 2007: 53).

Condoleo stellt zunächst die Verbindung des gesellschaftlichen Imaginären mit dem Symbolischen dar. Für Castoriadis umfasst das Symbolische „Bedeutungen im weitesten Sinne“ (Castoriadis 1990: 200), genauer: „ein gesellschaftlich anerkanntes Symbolsystem wie z.B. ein juridisches System oder eine instituierte Macht (wie bspw. eine Diktatur, Kirche, das Gewaltmonopol etc.)“ (57). Wie an den Beispielen des Schlagstocks und des Gummischrots schon angedeutet, haben Symbole (wie eine Flagge) nicht nur eine rationale Funktion (etwa als Erkennungszeichen oder Sammelpunkt), sondern sind, wie Condoleo hervorhebt (60f.; 79), mit einem gesellschaftlichen Sinn aufgeladen. Symbole sind „Ausdruck imaginärer Bedeutungen“ (62). Mit Blick auf die Verknüpfung von Imaginärem und Symbolischem zeigt sich: Um zu existieren, muss das Imaginäre bestimmte Bilder/Symbole verwenden. Zugleich gibt es das Symbolische aber nur dank der Schöpfungskraft des radikalen gesellschaftlichen Imaginären (57, 59, 111).

Nach diesen Erläuterungen ahnt man, was Castoriadis meint, wenn er die Gesellschaft als imaginäre Institution bezeichnet: Gesellschaftliche Institutionen existieren nur dank der schöpferischen Kraft des Imaginären, das die Errichtung eines Symbolsystems ermöglicht und die bloße Funktionalität der Institutionen überschreitet. Institutionen sind nach Castoriadis’ Verständnis „der Ausdruck einer Verbindung von Symbol, Funktion und Imaginärem“ (111). Jede gesellschaftliche Institution erfüllt eine Funktion, geht darin aber nie völlig auf, was die ihrem imaginären Anteil geschuldete „vielfache Gestaltbarkeit“ (55) von Institutionen belegt. Die Tatsache gesellschaftlichen Wandels und die Differenzen zwischen verschiedenen Gesellschaften in der Art und Weise, wie sie die jeweils gleichen Funktionen erfüllen, könne man einzig durch das Wirken des gesellschaftlichen Imaginären erklären, denn „Funktionalität zeigt […] nicht, warum eine Gesellschaft Probleme genauso und nicht anders löst. Dazu bedarf es des Imaginären, das durch ein Symbolsystem den Institutionen einen Sinn verleiht.“ (56)

Mit dem gesellschaftlichen Imaginären hängen das Problem gesellschaftlicher Heteronomie und die Frage nach gesellschaftlicher Autonomie zusammen. Gesellschaftliche Heteronomie, die Castoriadis auch als Entfremdung bezeichnet, meint „die Verselbständigung und Vorherrschaft des imaginären Moments der Institution, deren Folge wiederum die Verselbständigung und Vormachtstellung der Institution gegenüber der Gesellschaft ist“ (Castoriadis 1990: 226). Da die gesellschaftlichen Institutionen ihre Imaginiertheit nicht mehr erkennen lassen, erfährt sich die Gesellschaft nicht als von sich selbst eingerichtete und damit veränderbare, sondern sieht sich im Gegenteil ihrer „Verfügungsgewalt“ (115) über die Institutionen beraubt. Wie Condoleo zeigt, bleibt Castoriadis durch die Nähe seines Heteronomiebegriffs zu Marx’ Begriff der Entfremdung trotz seiner vehementen Kritik an Marx letztlich doch „marxistischer […], als er selbst noch zuzugeben [sic] mag“ (10). Meint Heteronomie den Verlust der ‚Verfügungsgewalt‘ der Gesellschaft über ihre Institutionen, so bedeutet Autonomie die Rückgewinnung dieser Gewalt. Autonomie ist damit vor allem als Aufklärung im Sinne einer Bewusstwerdung des Umstandes zu verstehen, dass jede Gesellschaft, vermöge des gesellschaftlichen Imaginären, eine autonome „Selbstschöpfung“ (Castoriadis 2010: 37) ist, d.h. ihren Grund nicht in einem unverfügbaren Außen hat. Erst (in) einer aufgeklärten Gesellschaft ist Autonomie möglich, denn erst wenn eine Gesellschaft sich als selbstgesetzte erkennt, erlangt sie die „Macht zurück, die ihr auf- oder eingeprägten gesellschaftlichen imaginären Bedeutungen neu zu ordnen“ (77). Castoriadis’ Antwort auf die Frage, was neue gesellschaftliche Formen oder Institutionen hervorbringe, ist laut Condoleo so einfach wie „undeutlich allgemein: Die Gesellschaft bringt sich selbst hervor und entwickelt sich in der Geschichte“ (75). Das galt und gilt für jede Gesellschaft. Entdeckt wird diese Selbstschöpfungsfähigkeit der Gesellschaft jedoch im antiken Griechenland: Die griechische Philosophie und Demokratie bringen die „explizite Selbstsetzung“ (76) und damit die Kontingenz der eigenen Gesellschaft erstmals zu Bewusstsein und eröffnen damit den Weg zu gesellschaftlicher Autonomie. In diesem Zusammenhang wird die Normativität des radikalen Imaginären deutlich. Ihm entspricht nur eine solche Gesellschaft, die sich als selbstgeschaffene und als fähig zur ständigen Selbstveränderung, kurz: als autonome Gesellschaft weiß (132).

Die Auseinandersetzung mit der Praxis der griechischen Demokratie spielt für Castoriadis’ politische Philosophie eine wichtige Rolle, weshalb es erstaunt, dass man darüber in Condoleos Arbeit so gut wie nichts liest. Castoriadis’ Auffassung des öffentlichen Raums, der als ein Ort des Zusammenkommens und der freien Diskussion die griechische Demokratie prägte, behandelt sie nur in einem kurzen Abschnitt (178–180). Wie man sich eine politische Praxis konkret vorzustellen habe, deutet die Autorin mit Castoriadis’ Überlegungen zur Arbeiterselbstverwaltung zwar an (100–107), unverständlich ist aber, warum sie nicht näher auf die demokratietheoretischen Implikationen der autonomen intersubjektiven Praxis eingeht, wie sie Castoriadis z.B. in seinem Artikel über Die griechische polis und die Schöpfung der Demokratie (Castoriadis 2011) darlegt.

Der Selbstveränderung der Gesellschaft durch das Imaginäre stehen Hindernisse im Weg, da das Schöpfungsvermögen des gesellschaftlichen Imaginären beschränkt ist: Zum einen muss es sich an natürliche Gegebenheiten anlehnen (68f.), zum anderen sieht es sich konfrontiert mit bereits instituierten gesellschaftlichen imaginären Bedeutungen. Zu diesen Bedeutungen müsse man auch die Subjekte rechnen (80). Klar benennt Condoleo das Problem, das sich daraus ergibt, und das auch Habermas, bei all seinem Lob für „den originellsten, ehrgeizigsten und reflektiertesten Versuch [...], die befreiende Vermittlung von Geschichte, Gesellschaft, äußerer und innerer Natur noch einmal als Praxis zu denken“ (Habermas 1988: 380), letztlich zu dem vernichtenden Urteil hatte kommen lassen, in Castoriadis’ Gesellschaftstheorie fehle es an einer „intersubjektive[n], vergesellschafteten Individuen zurechenbare[n] Praxis“ (ebd.: 383). Die „vergesellschafteten Individuen“ seien außerstande, in eine auf wechselseitige Verständigung zielende Beziehung miteinander einzutreten, denn „[i]m gesellschaftlich instituierten Weltbild sind alle, als sei es das transzendentale Bewußtsein, a priori vorverständigt“ (ebd.: 387), und so fehle die „Differenz von Sinn und Geltung“ (ebd.: 385), aus der eine Veränderung des Weltbildes erwachsen könnte. Mit Condoleo formuliert geht es mithin um die Frage, „wie handlungsfähige Individuen aus gesellschaftlichen institutionalisierten Bedeutungen hervorgehen, welche die gesellschaftlichen imaginären Bedeutungen wiederum ändern“ (80), und Autonomie erlangen können.

Condoleos Antwort weist (implizit) den Vorwurf Habermas’ zurück. Ihre These lautet, dass eine gemeinsame, zur Autonomie aller führende Praxis keineswegs „im anonymen Sog einer aus dem Imaginären geschöpften Instituierung immer neuer Welten auf[geht] (Habermas 1988: 384), sondern im Gegenteil durch das Imaginäre erst ermöglicht wird. Ihr Argument nimmt seinen Ausgang von der Sozialisationstheorie Castoriadis’: Zunächst eine Art psychischer Monade, wird das menschliche Wesen zum Subjekt erst dann, wenn es „Gesellschaft ‚einlässt’“ (114), wenn es aus seiner Monadenexistenz herausgebrochen und auf ein Außen hin geöffnet wird, wobei es dann „die gesellschaftlichen imaginären Bedeutungen als eigene Vorstellungen aufnimmt“ (162). Wer nun jedoch in dieser Schilderung der Subjektwerdung einen „metaphysischen Gegensatz“ (Habermas 1988: 388) zwischen Psyche und Gesellschaft ausmacht, übersieht, dass beide durch das Imaginäre verbunden sind. Denn die Fähigkeit, „Vorstellungen hervorzubringen und gewissermaßen auf heteronome Vorstellungen zu reagieren, diese zu absorbieren“ (97), die bereits der psychischen Monade zukommt, ist Bedingung der Möglichkeit, durch das Einlassen gesellschaftlicher imaginärer Bedeutungen sozialisiert zu werden. Dieses Vermögen zur radikalen Imagination verliert das Subjekt Castoriadis zufolge niemals. Darin liegt die Bedingung für den Fortbestand der gesellschaftlichen Institutionen – und für ihre Veränderung. „Man könnte verkürzt sagen, die radikale Imagination muss sich gegen die Institutionen behaupten, die sich perpetuieren ‚wollen‘.“ (87)

Entscheidend für Condoleos Argument ist, dass mit den bzw. durch die gesellschaftlichen imaginären Bedeutungen auch andere Subjekte ins Spiel kommen. Der gesellschaftliche Sinn muss durch Bezugspersonen vermittelt werden. Der Vorgang der Subjektgenese impliziere damit eine basale Form der Anerkennung: Andere Subjekte, durch welche die psychische Monade den gesellschaftlichen imaginären Bedeutungen begegnet, müssen zunächst einmal anerkannt werden. Auf diese Weise, könnte man Habermas entgegnen, „kommt aber der Begegnung, der intersubjektiven Beziehung vor der Institutionalisierung von imaginären Bedeutungen eine besondere Rolle zu. […] Es bedarf also einer Begegnung als Anerkennung, wenn auch noch nicht als Anerkennung Gleichgestellter, sondern als zwischenmenschlicher Verbindung.“ (140) Die Subjektwerdung bedeute somit stets auch eine „Genese der Intersubjektivität“ (140).

Dadurch liefere die Subjektwerdung, so Condoleo, die normative Begründung der Autonomie. Als Fähigkeit zur Kritik und Veränderung der instituierten gesellschaftlichen imaginären Bedeutungen kann Autonomie nur durch andere und mit anderen erlangt werden – eben jenen anderen, deren Anerkennung im Prozess der Subjektgenese erfolgt. „Sozialisation bedeutet die Aufnahme fremder gesellschaftlicher imaginärer Bedeutungen. Die Genese bedeutet aber auch die Instituierung anderer Subjekte und ihrer Ansprüche. Beiden Aspekten kommt eine wechselseitige Bedeutung zu, den Anspruch der Autonomie zu begründen.“ (143)

Vor diesem Hintergrund leuchtet Condoleos zunächst paradox anmutende These ein, gerade die gesellschaftliche Fabrikation des Subjekts biete die Möglichkeit, Autonomie zu erlangen. Bedeutet die Übernahme des Diskurses der anderen nicht Heteronomie? Die Antwort hängt davon ab, was man unter Autonomie versteht. Für Castoriadis meint Autonomie nicht die selbstherrliche Loslösung vom Diskurs der Anderen. Es gehe vielmehr darum, den fremden Diskurs so zu verarbeiten, „daß der andere für den Inhalt der eigenen Rede bedeutsam wird und nicht bloß als gleichgültiges Material dient“ (Castoriadis 1990: 182). Autonomie ist demnach für Castoriadis ein Relationsbegriff, „eine Frage des Verhältnisses zwischen Subjekt und anderen, denn letztere sind für ersteres konstitutiv“ (89). Wie Condoleo wiederholt hervorhebt, ist Castoriadis zufolge Autonomie für das einzelne Individuum unerreichbar: „Autonomie gibt es nur als Möglichkeit der Autonomie aller in der gemeinsamen Praxis. Denn nur wenn in der gemeinsamen Praxis neue gesellschaftliche imaginäre Bedeutungen und ihre Institutionen geschaffen werden, kann Heteronomie eingeholt und überwunden werden.“ (142) Die Abhängigkeit des Subjekts von anderen, seine Heteronomie, wird so positiv gewendet und verstanden als die Möglichkeit zu gemeinsamem Handeln (144). Castoriadis verknüpft dieses Autonomieverständnis mit einem Freiheitsbegriff, bei dem andere Subjekte mir die Freiheit nicht nehmen, sondern ermöglichen. „Freiheit wird verschoben: vom Anspruch eines Ichs auf Autonomie zum Bewusstsein der einzigen möglichen Autonomie in der Anerkennung und durch das Du.“ (106)

Im vierten Kapitel bringt die Autorin Castoriadis mit einem seiner frühen Kommentatoren ins Gespräch: Axel Honneth. Dessen Begriff der Anerkennung vergleicht sie mit demjenigen Castoriadis’, um anhand der Begriffe des Imaginären, der Heteronomie und der Autonomie Schwachstellen in Honneths Gesellschaftsverständnis aufzudecken (147). Als zentrales Problem identifiziert Condoleo, dass Honneths Anerkennungskonzept einer „asymmetrischen Autonomie“ (167) folgt. Übel stößt der Autorin der „etwas gönnerhaft[e] Beigeschmack“ (160) der Autonomie bei Honneth auf, da sie Personen, die noch nicht als Rechtssubjekte gelten, von bereits etablierten Rechtssubjekten nur gewährt werde. Von einem Kampf um Anerkennung könne aus diesem Grund kaum die Rede sein. In den Kreis der Rechtssubjekte „wird man aufgenommen“ (167), was nichts anderes bedeute, als dass man es mit einer „strukturelle[n] Abhängigkeit jener [noch nicht als Rechtssubjekte anerkannten] Subjekte gegenüber den Rechtssubjekten“ (168) zu tun habe.

Dementgegen schlägt Condoleo im Anschluss an Castoriadis ein anderes Verständnis des Kampfes um Anerkennung vor. Dreht sich dieser Kampf bei Honneth vor allem um die Anerkennung als Rechtssubjekt, genauer: um die „Bedingungen, die es erlauben an rationaler Willensbildung teilzunehmen“, so möchte Condoleo zeigen, dass der Kampf um Anerkennung „mit dem Bewusstsein verbunden [ist], dass die Institution in ihrer derweiligen Bedeutung eigenen Ansprüchen nicht gerecht wird und verändert werden sollte“; der Kampf um Anerkennung sei „auch ein Kampf um die der Institution inhärenten Bedeutungen und ihrer Setzungen“ (164). Damit verlöre die Anerkennung ihren gönnerhaften Goût, würde doch die „Abhängigkeit rechtlicher Autonomie von bereits instituierten Rechtspersonen […] relativiert“ (164). Autonomie wird nicht gewährt, da sie aus der Perspektive Castoriadis „mit der radikalen Imagination als Fluchtpunkt vor dem gesellschaftlichen Imaginären immer gegeben“ (166) ist.

Im fünften Kapitel versucht Condoleo, Castoriadis’ Konzept der Autonomie zu erweitern. Sie diskutiert dazu den Begriff des Gemeinsinns, wobei ihre These lautet, „dass der hergebrachte Begriff des Gemeinsinns im Sinne einer autonomen Praxis aller verstanden werden kann“ (171). Condoleo fasst ihn entsprechend als „Anerkennung aller Menschen in ihrer Autonomie und mit dieser auch einer Wechselseitigkeit, welche meine Anerkennung bzw. jene meines Gegenübers jeweils umgekehrt bedeutsam macht“ (180). Die Folgerungen, die sich hieraus ergeben, bergen einigen (insbesondere demokratietheoretischen) Sprengstoff; leider zündet Condoleo die Lunte nicht. Ihre Ausführungen haben eher programmatischen Charakter und bleiben zu kurz. Impliziert sei in dem neuen Verständnis des Gemeinsinns ein „Abschied vom alten Bürger“ (180). Gemeint ist folgendes: Der um das Konzept der Anerkennung bereicherte Gemeinsinn kann sich nicht mehr auf eine „beschränkte starre Gemeinde“ (177) beziehen, denn Anerkennung, wie Castoriadis sie versteht, „kann nicht ausschließlich sein, sondern nur universal. Die Vorstellung, dass Bürger_innen einer Gemeinschaft besondere Rechte (und Pflichten) qua ihres nationalen oder identitären Status’ inne haben, ist zu verabschieden.“ (180) Mit gesellschaftlichen Belangen dürften sich nicht nur solche Personen beschäftigen, die sich dazu kraft einer gefühlsmäßigen Identifikation mit einem Gemeinwesen berufen fühlen oder durch ihren Rechtsstatus dazu legitimiert sind, sondern alle, die sich verantwortlich „um die öffentliche gemeinsame Sache sorgen und sie mitbestimmen“ (180) wollen. Gemeinschaft werde so nicht mehr vorausgesetzt, sondern in der gemeinsamen Praxis „performativ gebildet“ (181).

Insgesamt hinterlässt die Arbeit einen zwiespältigen Eindruck. Ein ausgesprochenes Ärgernis ist die sprachliche Gestaltung der Arbeit. Vor allem stören Passagen, in denen sich Condoleo um eine literarisch ambitionierte Sprache bemüht, etwa bei der quasi-ethnographischen Beschreibung der Vereidigungsfeier oder im Schlusskapitel, wo es etwa resümierend heißt: „Dabei öffnete sich die Büchse der bürgerlichen Pandora und ließ den Gemeinsinn aufsteigen, um zu sehen, was er Bedrohliches an sich hat.“ (184) Befremdlich ist auch die Art und Weise, in der Condoleo Kritik übt; hier driftet sie bisweilen ins Launige ab. So gibt sie in einer Anmerkung zu Martin van Crevelds Aufstieg und Untergang des Staates zu verstehen, der Autor habe, wenn er den Staat ein bedrohliches ‚unsichtbares Wesen‘ nenne, „ein halbes Tausend Seiten verschrieben, ohne einen angemessenen Begriff des Staates fassen zu können. Es ist zu hoffen, dass dieser bedrohliche Geist Creveld bis in seine Träume verfolgt.“ (38, Anm. 75)

Anregende Überlegungen wie die zu einem neuen Begriff des Bürgers bleiben wegen ihrer eher skizzenhaften Darstellung leider zu undeutlich, dagegen nehmen andere, etwa die zum staatlichen Gewaltmonopol oder zu Marx’ Entfremdungsbegriff, zu viel Platz ein. Ein theoretischer Gewinn ist zweifellos die – unverständlicherweise nicht als solche deutlich gemachte – Zurückweisung des Vorwurfs von Habermas, Castoriadis’ „fundamentologisches Gesellschaftskonzept“ (Habermas 1988: 383) lasse eine gemeinsame Praxis nicht zu. Die Konfrontation mit Honneths Begriff der Anerkennung zeigt zudem, dass Castoriadis’ Konzepte aktuelle Debatten bereichern und voranbringen können. Honneths Verdikt, Castoriadis’ Gesellschaftstheorie münde „in eine metaphysische Kosmologie, über die heute kaum noch mit wissenschaftlichen Argumenten zu diskutieren ist“ (Honneth 1985: 821), war damit wohl zu übereilt, und es ist zu hoffen, dass mit Condoleos trotz ihrer Schwächen verdienstvollen Studie nun der Auftakt zu einer breiteren Diskussion der Argumente Castoriadis’ gemacht ist.

Literatur

Castoriadis, Cornelius. Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie. Übers. von Horst Brühmann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1990.

Castoriadis, Cornelius. Ausgewählte Schriften. Bd. 3. Das imaginäre Element und die menschliche Schöpfung, hg. von Michael Halfbrodt u. Harald Wolf. Lich: Edition AV, 2010.

Castoriadis, Cornelius. „Die griechische polis und die Schöpfung der Demokratie.“ In Ausgewählte Schriften. Bd. 4. Philosophie, Demokratie, Poiesis, hg. von Michael Halfbrodt u. Harald Wolf, 17–68. Lich: Edition AV, 2011.

Habermas, Jürgen. Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1988.

Honneth, Axel. „Eine ontologische Rettung der Revolution. Zur Gesellschaftstheorie von Cornelius Castoriadis.“ Merkur 39 (1985), 807–821.

Joas, Hans. „Institutionalisierung als kreativer Prozeß. Zur politischen Philosophie von Cornelius Castoriadis.“ Politische Vierteljahresschrift 30.4 (1989), 585–602.

Lüdemann, Susanne. Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziologischen und politischen Imaginären. München: Fink, 2004.

Stavrakakis, Yannis. The Lacanian Left. Psychoanalysis. Theory, Politics. Edinburgh: Edinburgh University Press, 2007.

Waldenfels, Bernhard. „Der Primat der Einbildungskraft. Zur Rolle des gesellschaftlichen Imaginären bei Cornelius Castoriadis.“ Revue européenne des sciences sociales XXVII, No. 86 (1989), 141–160.

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