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Reitz, Tilman: Sprachgemeinschaft im Streit. Philosophische Analysen zum politischen Zeichengebrauch. Bielefeld: transcript 2014. 189 Seiten. [978-3-8376-2889-0]

Rezensiert von Frederic Thomas (Universität Leipzig)

Sprachgemeinschaft im Streit unterläuft die in der Philosophie übliche Arbeitsteilung. Das überrascht nicht, sondern es verraten schon Titel und Form des Buches. Vor uns liegt eine thematische „Auskopplung“ (9) sprachphilosophischer Überlegungen aus Tilman Reitz’ noch unveröffentlichter Habilitationsschrift, dessen eigentliches Thema wiederum Politik und Gesellschaftstheorie sind. Das Politische wird also nirgendwo abwesend sein. Mehr noch: Reitz sieht die Anstrengung, den Begriff des Politischen sinnvoll denken zu können, verknüpft mit entscheidenden Verschiebungen, die sprachphilosophische Aktzentuierungen an gesellschaftstheoretischen Problemformulierungen hinterlassen, und zwar intern. In Aussicht gestellt wird, dass sowohl die (post‑)analytischen als auch Bourdieus, Butlers oder Lyotards Reflexionen auf die Logik unseres Sprachhandelns nicht allein methodische Behelfsbrücken schlagen, um praktisch-politisch relevante Begriffsbildung zu präzisieren. Sprachphilosophische Modellierungen können vielmehr „politische Möglichkeiten […] vielleicht sogar sichtbar machen“ (189). Das mag an Habermas’ diskurstheoretisches Großprojekt erinnern, das in rekonstruktiver Schürfarbeit unablässig die auf Verständigung hin geordnete Binnenstruktur unserer Rede versucht freizulegen. Stattdessen steht Reitz’ Motivlage unter eben genau umgekehrtem Vorzeichen: Es geht um „politische Konflikte […] an den Grenzen der Verständigung“ (149). Und rasch bestätigt sich in der Lektüre, dass für Reitz solch ein sprachlicher Streit gewiss nicht als terminus ad quem, nicht von seinem still gestellten Ende her begriffen werden darf. Manch ein Streit bleibt unausgetragen. Was demnach sprachpragmatisch eingeholt werden soll, ist eine neue systematische Antwort auf die Frage, worin genau die Wirksamkeit widerstreitender Sprechakte ruht, eines Sprechens, das – politisch wirksam – den Bruch mit und die Spaltung von etablierten Praxen anhaltend provoziert. Die grundlegende Frage lautet also kurz: Wann und wie treiben Sprachgemeinschaften im Sprechen auseinander?

Dabei ist besonders bemerkenswert, welch plausiblen, ja eindeutig gegenstandsbezogenen Weg Reitz für seine Antwort wählt. Sie setzt sich auf zwei Weisen in ein kritisches Verhältnis zu zeitgenössischen Theorien gesellschaftlichen Handelns: Einführend formuliert Reitz sein „Unbehage[n]“ (11) an prominenten poststrukturalistischen wie postmarxistischen Philosophien des Politischen, die ihm zugleich als Stichwortgeberinnen für einen ungemäßigten Streit dienen. Lyotards ‚Widerstreit‘, das ‚Unvernehmen‘ bei Rancière oder der ‚Antagonismus‘ im Fall von Laclau und Mouffe blieben jedoch begriffliches Provisorium. Wenigstens liefern sie einen richtungsweisenden Vorbegriff widerstreitenden Sprachgebrauchs, bislang jedoch noch ohne eine mit sprechakttheoretisch reflektierten Mitteln erschlossene Beschreibung von Bedingungen, Handlungskontexten oder, ich greife etwas voraus, der „Verlaufsstruktur der symbolischen Auseinandersetzung“ (151). Das Unbehagen rührt also daher, dass sich sprachliches Tun in den genannten Ansätzen nicht danach sortieren lässt, ob es überhaupt unter den Problemtitel des grundsätzlich Umstrittenen oder sogar unter das Politische als solches fällt. Nicht jedes Sprechen erschüttert die Sprachgemeinschaft im politischen Sinne. Das nachzureichen, wird in weiten Teilen des Buches versprochen, indem Reitz die begriffliche Schärfe (post-)analytischer Sprachphilosophie gegenüber Lyotard bis Rancière zur Geltung bringt.

Das zweite Versprechen verläuft spiegelverkehrt: Reitz will erläutern, warum der für die (post-)analytische Traditionslinie relevante Bezug auf die maßgeblich an Wittgenstein angelehnte Idee sprachlicher ‚Gepflogenheiten‘ – des in einer Sprachpraxis Üblichen also – trotzdem konstitutive Merkmale von Streit systematisch ausblendet. Dass dieser Mangel nicht logisch zwingend ist, soll mithilfe eines zusätzlichen, perspektivenverschränkenden Schritts durchsichtig werden. Diesen argumentativen Schritt zu gehen, dessen Notwendigkeit Reitz vollkommen richtig beansprucht, bedeutet, die spätestens von Wittgenstein angestoßene Erläuterung sprachlicher Normativität gesellschaftstheoretisch auszudehnen. So ist pragmatische Sprachphilosophie gewissermaßen „der Hafen“, der für ein robustes Bild fortwährenden Streits stets „angesteuert“ und entlang weiterer Präzisierungen „wieder verlassen wird.“ (30)

Das erste, begründende Kapitel „Zur Semantik politischen Sprachgebrauchs: Umstrittene Begriffe“ hat einen transitorischen Charakter. Es setzt zunächst bei dem Umstand an, dass uns immer schon ein vielfältiger Vorrat an besonders streitanfälligen Begriffen zur Verfügung steht. Für politisch so „unterschiedlich besetzte Begriffe wie ‚Freiheit‘, ‚Demokratie‘ oder […] ‚neoliberal‘“ (30) – auch für manch dichten Begriff wie ‚Treue‘ – scheint zu gelten, dass sie, was die allgemeine Verbindlichkeit ihres Gehalts betrifft, nicht abschließend festgelegt sind. Sie sind grundlegend umstritten. Nun verfolgt Reitz eine Reihe von Modellierungen, die jeweils materiale Kriterien angeben, um wesentlich umstrittene Begriffe von solchen, die es faktisch nicht oder kaum sind, auseinander zu halten. Die anschließende Zurückweisung, „dass über Umstrittenheit selbst hinaus keine Eigenschaft vorliegt“ (44), hat einen rechtfertigenden Sinn: Weil schlicht semantisch zugeschriebene Gründe dafür, worum denn im Konfliktfall gestritten wird, in keinem hinreichenden Sinn greifen, stellt Reitz den genuinen Tätigkeitscharakter von Sprache als Quelle der Wirksamkeit strittiger Rede heraus, in relativer Unabhängigkeit von ihrem Bedeutungsgehalt, während die am Konflikt Beteiligten in ihren Äußerungskontexten umso greller hervortreten. Zugespitzt heißt das: Umstrittene Begriffe wie ‚Freiheit‘, ‚Demokratie‘ oder ‚neoliberal‘ markieren normative Erschütterungen von Lebensformen. Es handelt sich um solche, durch deren Gebrauch hindurch die eingespielten Gründe unserer Lebensform nicht nur ansprechbar, sondern problematisierend verschoben werden. Was den Streit, ausgetragen im „Medium“ (62) oder „Rahmen“ (75) umstrittener Begriffe, nachdrücklich hervorruft, ist demnach „die Kollision praktischer Perspektiven“ (74). Grundsätzlich streitig gemacht wird folgerichtig die normative Geltungskraft von konkurrierenden „Handlungsorientierungen“ (70) im Sprechen. Und anhaltend besteht ein Streit dort fort, wo sich die Rechtfertigung von unvereinbaren Orientierungen auf Sätze der Art ‚So handeln wir eben‘ zurückzieht.

Triftig wird die praktische Relevanz streitender Rede aber nur, wenn – wie im Kapitel „Zur Pragmatik der Zeichenpolitik: Sprachgemeinschaft und Opposition“ das angedeutete Argument um zwei Revisionen verlängert wird:

(i) Einerseits sieht Reitz, dass seine Verpflichtung gegenüber Wittgenstein, von dessen Regelbegriff her der Autor praktische Orientierungen aufrollt, kommentierungsbedürftig ist. Der Punkt, an dem Wittgenstein hilft, um sich sprachliches Tun als je schon normativ imprägniert vorstellen zu können, gerät gerade am gesuchten „Entgegenhandeln“ (83) begrifflich trüb, denn darauf scheint Wittgensteins zunächst instruktives Bild sprachlicher Normativität im Sinne eines regelhaften Sprachgebrauchs nicht zugeschnitten. Was hier ziemlich unterbelichtet bleibt, ist, „dass Menschen in vielen Situationen offenbar in der Lage sind, Regeln neu zu deuten, zu missachten, zu brechen oder zu ändern“ (91). Die unglücklich konservative Pointe dieses Bildes – die auf den Normalfall des in einer Praxis Üblichen hin stilisierte „Alternative von Regelbefolgung oder Regelbruch“ (82) – dreht Reitz aber so, dass wir sie weniger streng „auch als Anregung lesen“ können, „selbst Regelwidrigkeiten im Kontext kollektiver Praxis zu begreifen.“ (102) Die entscheidende Pointe ist: Egal, ob wir eine Regel befolgen oder sie subversiv übertreten, konstitutiv ist für die Normativität von Sprache, dass wir „unter den Blicken der anderen“ (104) sprechen. Üblichen Orientierungen anhaltend zuwiderhandeln zu können ist dann nicht allein mit gemeinsamer Praxis verknüpft, solange der Verstoß verständlich und wohlgeformt artikuliert, durch kollektive „Sanktionen“ (94) zurechtgewiesen oder den gemeinsamen „kulturellen Horizont“ des Verstehens als „per se klärungsbedürftig“ (98) markieren wird. Weniger monologisch gelesen: Eben nur aufgrund normativ konfligierender Ansprüche von Artikulation und Sanktion, die wechselseitig Geltung unterstellen, kann der Regelverstoß oder „Ordnungsbruch“ (128) nachträglich einen neuen möglichen Zug im Sprachspiel eröffnen. Denn hält die Spannung an, verfestigt sich der Verstoß zu einer sinnvollen und öffentlich wirksamen Regelvariation. „Regelverletzungen können sich zu einem nachvollziehbaren Muster ordnen“ (105). Tatsächlich generieren Verstöße dann neue, wenngleich streitbare Gründe. „Man lernt die konkrete Regelwidrigkeit dann als Zeichen einer verbreiteten Unzufriedenheit, einer Protesthaltung oder Gegenkultur zu sehen.“ (Ebd.)

(ii) Systematisch naheliegend ist daher Brandoms Lesart sprachlicher Normativität, die dem Zusammenspiel wechselseitiger Sanktionen gerade diesen konstitutiv gewendeten Sinn abgewinnt (zur Übersichtlichkeit meines Arguments lasse ich Reitz’ Auseinandersetzung mit Searle beiseite). Brandoms metasprachliche Metapher symmetrischer Buchführung macht wenigstens denkbar, „wie im Medium der Normen individuelle Besonderheit auftritt“ (127). Die Frage, wie normative Verbindlichkeit im sprachlichen Tun involviert ist, bemisst sich nun relational danach, wie sie von Einzelnen in singulären Sprechakten eingegangen und von anderen BuchführerInnen zugeschrieben wird. Kraft gegenseitiger Statuszuschreibungen wird Normativität bindend. Zwar reorganisiert Brandom sprachliche Normativität immerhin um „partikular[e] Standards“ (113), aber was sachlich für eine politisch angemessene Ausdeutung fehle, seien die „Wirkungszusammenhäng[e]“ (119) und „Ermöglichungseffekte“ (120), unter denen „sozial[e] Normen“ (121) als verbindliche eben stünden. Wenn Reitz hervorhebt, dass in Brandoms Modell sprachlicher Interaktion gerade der Begriff des Sozialen verlorengeht, meint er aber nicht die grundsätzlich problematische „distributive Konzeption“ (Haase 2007: 235) wechselseitiger Buchführungen. Denn begrifflich prekär gerät hierdurch wiederum, wie ebendiese Sprachgemeinschaft von bereits geteilten Normen getragen wird, die im individuellen Tun längst schon in Anspruch genommen sind. Damit aber lässt Reitz’ Erörterung einschlägige Rezeptionsschwierigkeiten an Brandoms „Figur einer gespaltenen Verbuchung“ (111) unausgesprochen, nämlich die auch für kontrovers geteilte Praxen zugrundeliegende Form normativer Gemeinsamkeit, wodurch Wittgensteins Bild – trotz konservativer Schlagseite – eben doch brisant würde. Doch, wenn ich richtig sehe, hängt Reitz’ Vorbehalt gegenüber Brandoms Antwort auf die Frage, wie sprachliches Tun an Normen gebunden ist, an Brandoms reduktionistischer Auslassung von Asymmetrien empirischer Autorität. So scheint die Asymmetrie etwa auf faktische Abhängigkeiten hinauslaufen zu können, die der Autor später auch als „performative Bestätigung oder Entziehung von Sprachhandlungsmacht“ (151) kennzeichnet. Und solche empirischen Abhängigkeiten können sich so verschieden äußern wie im „Einfluss von Macht und Autorität auf Urteile“, als „hierarchische Sozialverhältnisse“ (116) überhaupt, als die in unseren Praxen immer noch maßgeblich „umkämpfte[n] Geschlechterverhältnisse“ oder schlicht in der Möglichkeit, in besonderen Streitfällen „die Polizei zu rufen“ (120). Darin – und weniger in Prozessen symmetrischer Aushandlung – gründet am Ende nur allzu oft die faktische Wirksamkeit oder der wirkliche Entzug politisch erhobener Geltungsansprüche. In überspitzter Paraphrase: „Für eine vollständige Beschreibung der gesellschaftlichen Bindung“ hätte Brandom „eine Theorie dessen [zu entwickeln], was als der Unterschied zwischen ‚der Ausübung normativer Autorität‘ und ‚der Ausübung von Zwangsgewalt‘ gilt.“ (Pippin 2011: 395) Stimmten wir die Beschreibung also auf die Möglichkeit kontingenter Umstände von Macht, Gehorsam, Sanktionen oder Gewalt ab, fände darin der Unterschied jedoch nur einen begrifflich modellierten Platz, „ohne so etwas wie eine viel umfangreichere Gesellschaftstheorie anbieten zu müssen“ (ebd.). Logisch sind kontingente Umstände grammatischen Sätzen – und so sind Brandoms Überlegungen zu lesen – nachgeordnet, deren grundlegende Pointe wir sonst verpassen. Vor dem Hintergrund des Buches bliebe grammatischen Sätzen stets die Präsupposition angeheftet, ‚wenn keine kontingenten gesellschaftlichen Umstände dazwischen kommen‘. Dementgegen könnten wir sprachliches Handeln zwar vorschnell empirisch, jedoch nicht allgemein sinnvoll danach zerlegen, was gelingende ‚Ausübung normativer Autorität‘ oder gegenseitige Buchführung wesentlich heißt. Deshalb hätte es gut getan, die Argumentation gegen genau diesen mit dem Kontrast der Redeebenen verbundenen – also dem Unterschied dazwischen, wie wir faktisch miteinander streiten, und wie oder ob sich unser Streiten in eine generische Formbeschreibung gießen lässt – Einwand ein wenig sichtbarer abzudichten. Für den lesenden Mitvollzug gerät der systematische Kern der Argumente in den vielen verwendeten Beispielen und alltagsnahen Erläuterungen manchmal unübersichtlich.

Einen spannenden Gedanken entwickelt der Autor, indem er in Anschluss an Bourdieu die einzigartig tempusbestimmte Form politischer Sprechakte herausarbeitet. Sie sind wesentlich auf Zukünftiges hin ausgerichtet. Ich springe vor zum Unterabschnitt „Abweichende Vorstellungen“ im Kapitel „Individuelle Abweichung und kollektiver Vorgriff“. Aufgrund der pragmatischen Rolle einer „Vorher-Sage […], die auf ihr eigenes Eintreten hinwirkt“ (135), können wir politische Äußerungen folgerichtig nicht darauf reduzieren, dass sie lediglich bereits realisierte Orientierungen oder Gründe zur Geltung bringen. Soll heißen, die Geltung streitender Rede erhält ihre genuin normative Verbindlichkeit – sozusagen auf Pump – kraft eines erst noch einzulösenden Geltungsanspruchs. Ihr Vollzug bestätigt nicht nur vorfindliche ‚Grenzen der Verständigung‘, sondern verlängert sie noch zukunftsoffen über den situativ gegebenen Streitfall hinaus. Exemplarisch: „Wer lässt sich als ‚Arbeiter‘ ansprechen“, welche gesellschaftlich wirksame ‚Grenze‘, welches proletarische Subjekt verstetigt sich aus der Gemeinsamkeiten konstituierenden Redeform des Klassenkampfes, wenn Adressatin der Rede „eine noch nicht ganz formierte Klasse (die Arbeiter)“ (175) darstellt? In diesem praktisch-politischen Sinn treiben Sprachgemeinschaften im Sprechen, womöglich auf Dauer gestellt, auseinander. „Ohne Ausgriffe aufs Nicht-Jetzt und Nicht-Hier keine fortsetzbare Gegnerschaft (sowie klarerweise keine zielstrebige Gründungs-, Vereinigungs- oder Trennungskommunikation).“ (136) Ob Reitz hier, wenigstens am Fall zukunftsgerichteter Artikulation, nicht stillschweigend eine Antwort auf Brandoms tieferliegendes Problem vorlegt – wie Einzelne sich eben in progressiv-geteilten Orientierungen doch „wieder erkennen können“ (138) –, kann hier leider nicht in ausführlicher Weise diskutiert werden.

Im abschließenden Kapitel, „Zur Gesellschaftstheorie symbolischer Konflikte: Widerstreit und Hegemonie“, bindet Reitz den bisherigen Ertrag seiner Erörterung noch einmal fest mit Philosophien des Politischen zusammen, allen voran Lyotard. Der Streit wird nun doch zum ‚Widerstreit‘. Das soll noch einmal, die Wechselbeziehungen zwischen Sprache und Politischem synthetisierend, zu verstehen helfen, wie „die Bestreitbarkeit sprachpraktischer Regeln“ (148) die Grenzen und Möglichkeiten vornehmlich politischer Aushandlungsprozesse verschiebt. Nur wird Lyotards tief skeptizistische Idee einer unaufhebbaren Hetereogenität am Grund gesellschaftlichen Sprechens überaus stichhaltig eingehegt: Plausibel lesen lässt sich die Idee, der zufolge uns keine übergeordnete „Meta-Regel“ (152) an die Hand gegeben ist, mit deren Hilfe die kollidierenden Orientierungen gemäß eines ‚Rechtsstreits‘ beizulegen wären, genau dann, wenn sprachliche Erschütterungen unserer Lebensformen weniger „das Ganze“ der Sprache, sondern vielmehr das „Medium [praktischer, F.T.] Auseinandersetzung“ (161) erläutern. Fügen wir Brandoms Einsicht ein, können Regelverstöße schließlich normativ verbucht werden und generieren neue oder variierte, in jedem Fall aber öffentlich verfügbare, regelhafte Orientierungen. Nicht nur Sprachgemeinschaften bleiben in Bewegung. Denn hält der eingehegte ‚Widerstreit‘ an, zeigt sich im Zuge der Kollision einmal mehr die praktische Relevanz von Orientierungen. Ein ‚Rechtsstreit‘ ist sprachlich unbefugt und muss scheitern, eben weil „nicht um kritisierbare Geltungsansprüche, sondern um (be-)streitbare Durchsetzungsansprüche“ (159) gestritten wird. Sprachlich ausgetragener Streit bestimmt sich wesentlich als ein praktisch aufgegebenes Problem. Ihn zu entscheiden, hebt unhintergehbar auf eines ab, die „Gestaltbarkeit von Verhältnissen“ (170), in denen fortwährend gestritten wird. Aufgegeben bleibt demnach die tätig gelingende Verwirklichung von noch zukunftsoffenen Geltungsansprüchen, auf die progressive Regelverstöße sich immer schon notwendig beziehen: „auf ein[e] alternativ[e], erst einzurichtend[e]“ (185) Lebensform.

Sprachgemeinschaft im Streit ist ein lesenswertes Buch, nicht allein in Perspektiven übertretender Hinsicht. Reitz fordert uns auf, dasjenige, das sich logisch kaum unter Regeln bringen lässt, den Regelverstoß, als sinnvollen Bezugspunkt politischen Handelns zu denken. Die Pointe des Buches, nach der diese Einheit keine zufällige ist, liest sich in zwei Richtungen. Für eine an Wittgenstein geschulte Sprachphilosophie bleibt der Verstoß deswegen schwer abzubilden, gerade weil er nicht als wesentliche Artikulationsform im politischen Streit, eben nicht als praktischer „Bruch“ (181) begriffen wird. Anhaltender Streit heißt Demontage von praktischen Gründen einer etablierten Lebensform. Andersherum gehört zu seinem Begriff, für die normative Verbindlichkeit „zukünftig geltende[r] Äußerungsbedingungen“ (182) zu streiten. Sprachgemeinschaften treiben demnach auseinander, indem der Regelverstoß politisch tätig in eine gegebene Lebensform eingreift und damit doch zur öffentlichen, regelhaften ‚Gepflogenheiten‘ wird.

Zum Schluss noch ein Einwand, den ich Reitz nicht so recht vorwerfen mag, da er sich zumindest aus der Perspektive seiner Erörterung heraus nicht treffen lässt. Mich verwundert die Geste wertender Zurückhaltung, die seine Darstellungsweise insgesamt prägt. Das irritiert schon insofern, als durchweg Gegenstände wie normative Verbindlichkeiten, praktische Orientierungen, Gründe oder politische Umgestaltung Thema sind, in denen sich offensichtlich immer schon Urteile des praktisch Guten ausdrücken. Und anderes verspricht auch der schöne Kommentar, den der Autor seiner Rekonstruktion voranstellt, dass sich nämlich trotz des „gewählten Abstraktionsgrad[s] ab und zu eine anarchistische und materialistische Haltung abzeichnen“ (20) wird. Nun, die rekonstruierte Modellierung unterbietet jedenfalls seine, wenn auch dezent gesetzte, Haltung. Reitz kann – oder mag – kein begriffliches Kriterium benennen, wonach ein progressiver, im Streit erhobener Geltungsanspruch zwar einen zukunftsoffenen, aber eben nur in materialistischer Hinsicht ernstzunehmenden Anspruch erhebt. Was aber wäre mit der Idee eines streitenden Miteinanders, das nicht auf Konsens, sondern auf ein gelingendes Miteinander im Streit – oder schlichter: auf Sprechen als solches – hin geordnet wäre? Lässt sich der Streit nicht etwa auf eine Weise denken, dass er irgendwie doch unter das Maß des Guten fällt? Falls ja: Am Sprechen, das nicht abreißen soll, hätte Gesellschaftstheorie nicht viel, aber wenigstens ein Modell.

Literatur

Pippin, Robert B. „Brandoms Hegel.“ In: Hegel in der neueren Philosophie, hg. von Thomas Wyrwich, 369–408. Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2011.

Haase, Matthias. „Drei Formen der Ersten Person Plural.“ Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55.2 (2007), 225–243.

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