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Donaldson, Sue und Kymlicka, Will: Zoopolis. Eine politische Theorie der Tierrechte. Berlin: Suhrkamp 2013. 608 Seiten. [978-3-518-58600-6].

Rezensiert von Valerie Lux Schult (Humboldt-Universität Berlin)

„Wir sind alles andere als Utopisten“ (43), deklariert das kanadische Ehepaar Sue Donaldson und Will Kymlicka in ihrer neuen Monographie Zoopolis. Eine politische Theorie der Tierrechte. Ihr Buch handelt von der radikal neuen Erschaf­fung einer gleichberechtigten Gesellschaftsordnung zwischen Tieren und Menschen. Zoopolis, im Jahr 2011 veröffentlicht und seit 2013 in deutscher Sprache erhältlich, ist die Vision einer möglichst gewaltfreien Gesellschaft, in deren Städten Tiere und Menschen gleichgestellt zusammen wohnen, arbei­ten und am politischen Leben partizipieren. Für den Wissenschaftsbereich der Tierethik ist Zoopolis eine Erweiterung bestehender Theorien, als konkre­ter Vorschlag für die lebensweltliche Praxis eine radikale Vision: Tiere sollten ebenso wie Menschen Staatsbürgerschaft genießen.

Eine politische Theorie der Tierrechte

Donaldson und Kymlicka etablieren in Zoopolis drei Kategorien von Staats­bürgerschaft: Erstens „Mitbürger“, das sind Haustiere wie Katzen und Hunde, die aktiv in Gesetzgebungsprozesse mit eingebunden werden, zwei­tens „Einwohner“, sogenannte Schwellenbereichstiere wie Ratten oder Eich­hörnchen, deren Interessen passiv in der Politik berücksichtigt werden, und drittens „Bewohner“, wildlebende Tiere, die ihre eigenen souveränen Habi­tate ohne menschlichen Besiedlung besitzen sollten (vgl. 128). Indem sie den Begriff Staatsbürgerschaft in die drei Elemente territoriale Staatsangehörig­keit, Volkssouveränität und politische Handlungsfähigkeit aufspalten, kom­men Donaldson und Kymlicka zum Schluss, dass für Tiere ebenfalls mit ei­ner Staatsbürgerschaft verbundenen Rechte und Pflichten einhergehen.

Donaldson und Kymlicka beginnen mit einer Abrechnung mit den Schlussfolgerungen gängiger Tierrechtstheorien. Sie befürworten, dass Tieren dieselben universellen Rechte wie Menschen zugesprochen werden sollten – eine Debatte, die in den 1970er Jahren mit Peter Singer begann und sich in­zwischen als eigener philosophischer Zweig etabliert hat. Jedoch, bemängeln sie, gebe es aus dieser Richtung keine kohärente normative Theorie, die einen Vorschlag mache, wie sich denn eine friedliche Koexistenz zwischen Tieren und Menschen in einer staatlichen Ordnung manifestieren könnte (vgl. 34). TierrechtsethikerInnen und die Tierschutzbewegung dächten sich immer neue Rechtfertigungen aus, die Tiere als Rechtssubjekte befähigen, niemand jedoch denke an die Folgen dieser Forderung (vgl. 35). Da es laut Donaldson und Kymlicka niemals möglich sein werde, Tiere und Menschen hermetisch voneinander getrennte, eigene Bereiche auf dem Planeten Erde zu geben, formulieren sie eine sogenannte erweiterte Tierrechtstheorie, die positive und relationale Rechte für Tiere umfasst und sie dem Menschen gleichstellt (vgl. 32). Das Tier soll als ein zoon politikon dem Menschen ebenbürtig betrachtet werden, da der geographische, städtische und politische Raum mit ihm geteilt wird. Ihre Theorie richtet sich besonders gegen die Gruppe der Abolitio­nistInnen der Tierethik, die alle Beziehungen zwischen Tieren und Menschen zugunsten der Tiere kappen wollen (vgl. 175).

In der Gesellschaftsordnung von Zoopolis ist der Vorrang der Gerechtig­keit das oberste Prinzip (vgl. 97). Das beruht bei Donaldson und Kymlicka nicht auf einer kontraktualistischen, sondern auf der naturrechtlichen An­nahme, jedes Selbst brauche ein „Schutzschild aus Grundrechten“ (61) qua Empfindungsfähigkeit. Der Staat ist in seiner Gesetzgebung, seiner vollzie­henden Gewalt und seiner Rechtsprechung verpflichtet, die Grundrechte der Tiere zu achten. Donaldson und Kymlicka definieren einen allumfassenden Begriff von Staatsbürgerschaft, der zu Menschen und Tieren gleichermaßen passen soll (vgl. 127). Staatsbürgerschaft bedeutet bei Donaldson und Kym­licka das Recht auf Staatsangehörigkeit, Volkssouveränität und politische Hand­lungsfähigkeit (vgl. 128). Genau wie Menschen verfügen Tiere über Staatsange­hörigkeit und Volkssouveränität: Staatsangehörigkeit, weil sie auf dem Gebiet leben, das unter dem Einflussbereich des Staates steht (vgl. 128), und Volks­souveränität, weil die Auswirkung von staatlichen Entscheidungen, den Le­bensraum von Tieren betrifft (vgl. 129). Kymlicka und Donaldson bemän­geln, dass TheoretikerInnen, die Tieren Rechte absprechen, sich zu sehr auf den dritten Teilaspekt, die politische Handlungsfähigkeit als einziges Element der Staatsbürgerschaft konzentrieren (vgl. 127f.). Dennoch sprechen diese TheoretikerInnen auch Kindern, Dementen oder geistig Behinderten nicht den Status der Staatsbürgerschaft ab, obwohl deren politische Handlungsfä­higkeit beeinträchtigt ist (vgl. 132). Um die politische Handlungsfähigkeit von Tieren und geistig Behinderten zu sichern, sollte man ihnen Unterstützung ge­ben, in Form von Ombudspersonen oder PflegerInnen, die für das Wohl der Tiere bzw. Behinderten sprechen, weil sie ihre Präferenzen kennen (vgl. 138).

Donaldsons und Kymlickas Ausführung, dass es für demokratische Teilhabe keine hochkomplexen kognitiven Fähigkeiten braucht, ist schlüssig aufgebaut (vgl. 142). Verfolgt man diesen Gedankengang, stellt man nämlich fest, dass in westlichen Demokratien auch niemals die Forderung zur Debatte steht, eine hohe Punktzahl bei einem Intelligenztest für die Verleihung der Staatsbürgerschaft vorauszusetzen. Des Weiteren gibt es genügend Menschen in Demokratien, die sich aus der aktiven demokratischen Partizipation her­aushalten, indem sie nicht wählen gehen. Dies berechtigt uns aber nicht, die­sen Menschen die Staatsbürgerschaft abzusprechen.

Von deutscher Seite her wurde Zoopolis ausführlich von der Sektion „Politische Theorie und Ideengeschichte“ der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft im März 2014 diskutiert. In den daraus hervorgegan­gen Aufsätzen bemängelte unter anderem Bernd Ladwig, dass Tiere keine Interessen an politischer Handlungsfähigkeit und Autonomie besitzen (vgl. Ladwig 2014: 33) , da sie nicht in der Lage seien ihren „Willen durch eigene Überlegung zu bilden“ (ebd.: 35), weshalb eine Herrschaft des Menschen über die Tieren zu billigen sei. Ladwig brachte den berechtigen Einwand, dass Tiere keine Staatsbürger seien können, weil sie die Prinzipien, nach denen Donaldson und Kymlicka das Leben der Tiere strukturieren wollen, gar nicht verstehen. Sie haben keinen Begriff von einer staatlichen Gemeinschaft, ge­nauso wenig wie von Souveränität oder Einwohnerschaft (vgl. ebd.: 43). Ebendieser Einwand kann man jedoch im Sinne Donaldson und Kymlicka als „extrem kognivistische“ (230) Definition von Staatsbürgerschaft zurück­weisen. Kinder und Behinderte haben auch keinen Begriff von moralischer Gemeinschaft oder Souveränität, trotzdem sind sie Staatsbürger (vgl. 230–231). Tiere haben wie Menschen Interesse daran Autonomie auszuüben, d.h. ihr subjektives Wohl zu verfolgen und sollten deswegen auch – mit Assistenz – Gesetze mitgestalten, die sie selber betreffen (vgl. 229).

Domestizierte Tiere in Zoopolis

Um zu verhindern, dass tierische Gewalt zum Standard in Zoopolis werden könnte, plädieren Kymlicka und Donaldson dafür, Tiere zur Gewaltfreiheit zu erziehen. Da in Zoopolis Tiere und Menschen die gleichen Rechte und Pflichten haben, ist die „Sozialisierung […] ein Mitgliederrecht“ (271). Hun­den müsste beispielsweise beigebracht werden, Menschen nicht anzusprin­gen, diese Erziehung sei Aufgabe des Staates wie der Eltern (vgl. 274). Genau wie Kinder mit den Normen unserer Gesellschaft in den ersten Entwick­lungsjahren bekannt gemacht werden, sollte dies mit Tierkindern passieren (vgl. 276). Dies sollte nicht durch das Prinzip Zuckerbrot und Peitsche ge­schehen, sondern durch eine Erziehung mit Liebe, Anerkennung und „Me­thoden der positiven Verstärkung und sanften Korrektur“ (276). Die Nutz­tierhaltung wird in Zoopolis nicht völlig abgeschafft, es dürfen zum Beispiel auch Schafe gehütet werden, solange die Koexistenz nicht auf einem Ver­hältnis einseitiger kommerzieller Ausbeutung beruht (vgl. 202). Auch Tiere müssten in der Gemeinschaft Pflichten erbringen, daher spräche nichts dage­gen, dass Menschen die Eier von freilaufenden Hühnern essen dürfen (vgl. 305). Donaldson und Kymlicka gehen davon aus, das jedes Tier eine eigene unverwechselbare Persönlichkeit hat und kein Tier eine bestimmte „Spezies­norm“ besitzt, wie von der Philosophin Martha Nussbaum beschrieben (vgl. 214f.). Dem Argument, dass jedes Tier eine unvergleichlich typische Lebe­weise habe, „ein Leben also, das der seiner Spezies entsprechenden Würde gemäß ist“ (Nussbaum 2014: 191), setzen Kymlicka und Donaldson das kon­struktivistische Argument entgegen, die Würde einer Spezies sei relativ. Da Tiere und Menschen in einer Welt leben, in der sie ihre Speziesnorm nicht getrennt voneinander ausleben, stehen sie in Abhängigkeit zueinander und entwickeln ihr jeweiliges Verhalten und ihre Lebensweisen in Bezug aufei­nander (vgl. 214). Speziesnormen werden interdependent entwickelt, der Speiseplan eines Tieres sei somit nicht festgelegt, sondern flexibel (vgl. 215). Da Gewalt zwischen domestizierten Tieren nach Zoopolis nicht erlaubt ist, müssten Katzen und Hunde somit zu veganen Fressverhalten erzogen wer­den (vgl. 330). Denn Nahrungsverhalten beruht auf Gewöhnung und für domestizierte Tiere gebe es sowieso „keine natürliche Nahrung“ (331). Do­naldsons und Kymlickas Theorie beruht somit auf einem radikalen sozial-konstruktivistischen Fundament: Wenn Menschen von der Umgebung ge­prägt werden, dann ist dies bei Tieren ebenfalls so.

Voraussetzung für eine gerechte Mensch-Tier-Gemeinschaft ist nach Zoopolis das Vorhandensein ausreichender Ressourcen, denn nur in Situatio­nen, in denen das existenzielle Überleben gesichert ist, kann Subjekten Ge­rechtigkeit zukommen. Donaldson und Kymlicka räumen ein, dass in soge­nannten „Rettungsboot-Problematiken“ extreme Handlungen, wie zum Bei­spiel das Töten einer anderen Person, zum Überleben beitragen und die Un­verletzlichkeit der Grundrechte vielleicht aufgegeben werden müsste (vgl. 99). Bezeichnenderweise beziehen die AutorInnen hier keine Stellung, ob in die­sen Fällen das Töten von Tieren eher erlaubt sei als das der Menschen. Das ist verwunderlich, denn die Rettungsbootproblematik dominiert das Leben von vielen Menschen in Entwicklungsländern. 852 Millionen Menschen in Entwicklungsländern sind chronisch unterernährt (vgl. United Nations 2013: 10). Arme kleinbäuerliche Familien können nur überleben, wenn sie ihr Vieh als Arbeits- und Lasttiere zum Bestellen der Felder oder zum Transport ver­wenden. Wenn diese Tiere älter werden, entscheiden viele Familien in Ent­wicklungsländern sich wahrscheinlich, ihre Tiere zu töten, um sie zu essen. Nach Zoopolis ist jedoch schon das Essen eines von Altersschwäche gestorbe­nen Tieres respektlos und nicht angemessen (vgl. 332). Dass Kymlicka und Donaldson diese Zustände der Armut ausschließlich der Vergangenheit zu­schreiben beziehungsweise nur noch einigen „isolierte[n] menschliche[n] Gemeinschaften“ (vgl. 100) in der Gegenwart, wird der tatsächlichen Situa­tion nicht gerecht. Über 200 Millionen Menschen weltweit, die meisten davon in Entwicklungsländern, sind beispielsweise auf Fischerei als Beruf angewie­sen und die Nahrungsaufnahme von Fisch stellt für Menschen in vielen är­meren Regionen dieser Welt die wichtigste Proteinquelle dar (vgl. Global Re­port 2009: 34). Dass Töten von Tieren zum Überleben dazugehört, das heißt, dass die „Rettungsboot-Problematik“ in vielen Entwicklungsländern zum Alltag bedeutet, blenden Kymlicka und Donaldson aus. Gerade in Ländern mit niedrigen Pro-Kopf-Einkommen versorgt das Fleisch von Tieren direkt den Haushalt von Familien und der gesamten Region (vgl. FAO 2015: 11). Die Haltung von Vieh und das Schlachten von Tieren sind essentielle Be­standteile der Ernährung von mehr als eine Milliarde armer Menschen in Af­rika (vgl. ebd.: 24). Für viele bäuerliche Kleinbetriebe stellen Tiere die einzige Quelle für Nahrung und Einkommen dar (vgl. ebd.: 24). Hier zeigt sich, dass die Lebensform von Zoopolis nur mit industrialisierten Demokratien kompati­bel ist, da in diesen tägliche Bedürfnisse schon lange im Überfluss durch nicht-fleischliche Lebensmittel gestillt werden können. Die Vergabe von Staatsbürgerschaftsrechten für Tiere kann nicht auf die Länder in West-Asien und Zentralafrika erstreckt werden, die der Welt-Hunger-Report 2015 als die Regionen mit den am meisten unterernährten Menschen beschreibt (vgl. FAO Welt-Hunger-Report 2015: 17). Hier würden die Menschen ohne das Schlachten ihrer Tiere schlichtweg verhungern.

Mit einem ähnlichen Verweis auf die Situation in Entwicklungsländern kritisiert Lori Gruen Zoopolis. Sie vermisse bei Donaldsons und Kymlickas Aufbau der Tierrechtstheorie den Hinweis, dass noch heute Millionen von Menschen keinerlei Rechte und demokratische Partizipation besitzen (vgl. Gruen 2013: 357). Ich teile ebenfalls ihre Ansicht, dass Verwirklichung der Menschenrechte und dem Zugang von Kindern in Entwicklungsländern zu ausreichender Nahrung und sauberen Wasser eher Priorität zugesprochen werden sollte, als einer groß angelegten Strategie zur Verwirklichung von Tierrechten (vgl. ebd.).

Die interdependente Staatsbürgerschaft

Staatsbürgerschaft wird von Donaldson und Kymlicka nicht als etwas defi­niert, das dem Menschen singulär zukomme. Im Gegenteil, Staatsbürger­schaft beruhe auf einem interdependenten Fundament von sozialen Bezie­hungen, das einen relationalen Rechtsbegriff nötig mache. Der Mensch und das Tier seien erst in Interaktion miteinander, also relational, zu einem guten Le­ben fähig (vgl. 145). Diese Voraussetzung, dass alle Lebewesen aufeinander angewiesen sind, ist bei Kymlicka und Donaldson die erste Rechtfertigung für die Inanspruchnahme von Rechten (vgl. 238). Wir könnten nicht alleine, sondern nur im Umgang mit anderen Menschen unser eigenes subjektives Wohl erkennen (vgl. 239). Da, wie oben beschrieben, politische Handlungs­fähigkeit oftmals nur mit Unterstützung ausgeübt werden kann, etablieren Kymlicka und Donaldson die Definition einer „interdependenten Staatsbür­gerschaft“ (239) als Grundlage aller gerechten Gesellschaftsordnungen. Sie stellen sich gegen die liberale Gerechtigkeitstheorie von Rawls, der Gerech­tigkeit dem Guten verortet (vgl. 229). Kymlickas und Donaldsons Fokus auf einen relationalen Rechtsbegriff erinnert an die Postulate des Kommunita­rismus, dessen VertreterInnen in den 1980er Jahren eine Rückkehr zum Pri­mat der Gemeinschaft vor dem individualisierten Liberalismus einer aus­schließlich auf Gerechtigkeitsprinzipien basierenden Gesellschaft forderten. Während der Kommunitarist Michael Sandel beispielsweise noch dem Guten, das sich nur in einer altruistischen Gemeinschaft entfalte, Vorrang vor der Gerechtigkeit einräumt, versuchen Donaldson und Kymlicka beide Prinzi­pien zu einer liberalen Position zu vereinen: Gerade weil Tiere subjektive Vor­stellungen des Guten haben, schulde die Gesellschaft ihnen Gerechtigkeit (vgl. 257). Jedes Tier verfolge eigene individuelle Präferenzen wie jeder Mensch auch (vgl. 246). Hier verwickeln sich Donaldson und Kymlicka in einen Widerspruch. Auf der einen Seite gehen sie davon aus, dass Tiere mo­ralische Akteure sind, die die gleichen Empfindungsfähigkeiten zu Fairness, Altruismus oder Gerechtigkeit an den Tag legen wie Menschen (vgl. 257). Auf der anderen Seite geben sie an einer anderen Stelle zu, dass sie gar nicht wissen, welche Eigenschaften von Tieren offenbart werden, wenn sie nicht mehr unter menschlichen Einfluss stehen: „Dass man Tiere als Staatsbürger anerkennt, bedeutet also unter anderem, dass man experimentiert und auf diese Weise in Erfahrung bringt, was die Tiere täten, wenn sie mehr Kon­trolle über das eigene Leben hätten“ (323).

Das Problem der Judikative

Tieren die eigene Verwirklichung des Guten zuzugestehen heißt bei Donald­son und Kymlicka nicht, sie von der Kooperation mit Menschen auszuneh­men. Wer Rechte hat, hat auch Pflichten. Das bedeutet, der Gesellschaft nicht zu hohe Kosten für das eigene Wohl aufzubürden (vgl. 324). Bei Do­naldson und Kymlicka heißt das beispielsweise, dass eine unverhältnismäßig hohe Fortpflanzungsrate einer Tierrasse, die nicht imstande wäre, ihre Nach­kommen adäquat zu versorgen, von Menschen mit empfängnisverhütenden Stoffen durch Impfung gesenkt werden könne (324f.).

Staatliche Institutionen wie Polizei, Rettungsdienste, medizinische Ver­sorgung, die Rechtsprechung und Sozialhilfe sollen nach Zoopolis von Tieren und Menschen gleichermaßen in Anspruch genommen werden (vgl. 341). Während es nachvollziehbar erscheint, Menschen wie Tieren bei Unfällen gleichermaßen mit Rettungsdiensten zu helfen, könnte die Inanspruchnahme der Judikative von Tieren Probleme aufwerfen, die von Kymlicka und Do­naldson nicht angesprochen werden. Rechte bekommen erst Wert durch Einklagbarkeit. Doch wie soll ein Hund seiner Ombudsperson vermitteln, dass vor einigen Stunden sein Recht, ohne Leinenzwang zu gehen, verletzt wurde? Wie sieht eine faire Gerichtsverhandlung über eine Attacke eines Tie­res auf einen Menschen aus, in der auf einer Seite eine Katze und auf der an­deren Seite der Anklagebank ein Mensch Platz nimmt? Gerade das Rechts­system ist wohl das am meisten von menschlicher Vernunft geprägte Feld des Staates. Das Strafmaß wird nach einem Gesetzbuch in menschlicher Sprache gefällt, und ein gerechter Richterspruch braucht einen richtigen Tatsachen­hergang – auch das Herausfinden von Widersprüchen in der Argumentation des Angeklagten. Tiere wären da klar im Nachteil, da sie in nichtmenschlicher Sprache kommunizieren. Dass Kymlicka und Donaldson den Bereich der Rechtsprechung nicht erläutern, obwohl sie den Anspruch haben, einen neuen, relationalen Rechtsbegriff für Tiere und Menschen zu definieren, ist ein schweres Versäumnis, das hoffentlich in weiteren Aufsätzen klarer umrissen wird. Auf diesen Einwand in einem Meisterkurs an der Universiteit van Amsterdam im März 2015 antwortete mir Sue Donaldson, dass einige Mensch-Tier-Gerichtsverhandlungen von der kanadischen Justizwesen mo­mentan bereits ausprobiert werden, sie erläuterte jedoch keine konkreten Details.

Schwellenbereichstiere

Während domestizierte Tiere die volle Staatsbürgerschaft in Anspruch neh­men sollten, schreiben Donaldson und Kymlicka den sogenannten Schwel­lenbereichstieren einen „Einwohnerstatus“ zu. Schwellenbereichstiere sind beispielsweise Mäuse auf dem Dachboden, Eichhörnchen oder Spatzen (vgl. 156). Solche Tiere sind nicht domestiziert, und ihr Verhalten ist nicht auf ein rechtliches Kooperationsverhältnis zu Menschen angelegt (vgl. 487). Deswe­gen erhalten sie den Einwohnerstatus, der analog für menschliche Besucher aus dem Ausland oder saisonalen Arbeitsmigranten gilt (vgl. 478). Einwohne­rInnen sollten angemessen und gleich behandelt werden, institutionalisierte Gerechtigkeitsnormen (wie Sozialhilfe oder Wahlrecht) gelten jedoch nicht für sie (vgl. 512). Hier spielt Kymlicka seine Rolle als Experte für multikultu­relle Philosophie aus, denn der Einwohnerstatus könnte als neue Kategorie auch heutigen menschlichen Gemeinschaften helfen, besser mit ihren Asyl­bewerberInnen umzugehen. Schwellenbereichstiere können analog zu Mig­rantInnen drei Schutzpflichten des Staates durch den Einwohnerstatus er­warten: Aufenthaltssicherheit, faire Reziprozität und keine Stigmatisierung (vgl. 530). Aufenthaltssicherheit bedeutet, nicht als andersartiger Fremder, sondern als jemand, der dazu gehört, behandelt zu werden (vgl. 534). Faire Reziprozität heißt, man spricht EinwohnerInnen die Kompetenz zu, mit den Risiken ihrer Umgebung umgehen zu können, ohne staatlichen Schutz vollständig in An­spruch zu nehmen, was zum Beispiel impliziert, Schwellenbereichstiere nicht zu füttern, da sie sich selbst versorgen können (vgl. 536f.). Die Verwandlung eines Schwellenbereichstiers zu einem Tier mit Staatsbürgerschaft sollte je­doch möglich sein, etwa indem verwaiste Tiere besondere Beziehungen zu Menschen entwickeln (vgl. 536). Gegen Stigmatisierung sollte Offenheit und Transparenz im Umgang des Staates mit den Einwohnern herrschen (vgl. 551), Schwellenbereichstiere sollen als Einwohner erkannt und in Gesetzes­vorhaben mitberücksichtigt werden. Dinesh Joseph Wadiwel (Sydney) führt an, dass der Willkür Tür und Tor geöffnet werden, da der Mensch wieder mal entscheidet, wer Schwellenbereichstier und wer domestiziertes Tier sein darf. Zoopolis sei damit viel anthroprozentischer aufgebaut, als es sich auf den ers­ten Blick vermuten lasse, so Wadiwel (2013: 753).

Donaldson und Kymlicka legen detaillierte Vorschläge für die Kommu­nalpolitik vor, die den Interessen von Schwellenbereichstieren in urbanen Räumen entgegenkommen sollen. Damit weniger Vögel auf Fenster aufpral­len, schlagen sie eine Änderung der Bauvorschriften für Gebäude vor (vgl. 541). Damit Schwellenbereichstiere Straßen überqueren können, sollten na­türlich belassene Wald -und Wiesenkorridore angelegt werden (ebd.). Aber auch Maßnahmen zur Abschreckung sind erlaubt, um diese Tiere beispiels­weise durch akustische Signale von Flughäfen fernzuhalten (vgl. 544). Statt Tauben zu vergiften sollten von ehrenamtlichen Mitarbeitern versorgte hygi­enische Taubenschläge in Städten eingerichtet werden (vgl. 546). Kymlicka und Donaldson können glaubhaft darstellen, dass die Berücksichtigung des Verhaltens von Schwellenbereichstieren bei der Planung von Infrastruktur unnötiges Leiden der Tiere vermeidet.

Wildtiere

Neben domestizierten Tieren und Schwellenbereichstieren sind Wildtiere die dritte und letzte Tiergruppe, für dessen Wohlergehen in Zoopolis eine neue Rechtsform etabliert wird. Damit der Wohnraum von frei in der Natur le­benden Tieren nicht weiter beschnitten wird, schlagen Kymlicka und Donal­dson die Übertragung von Souveränitätsrechten auf Wildtiere vor (vgl. 374). Spezielle Gebiete sollten als Wildtierhabitate deklariert werden, die der Vor­mundschaft eines menschlichen Sachverwalters unterstehen (vgl. 375). Der Sachverwalter handelt treuhänderisch im Auftrag seines Volkes der Wildtiere. Wild lebende Tiere genießen Souveränität, weil sie, wie ein Staat, einen Rah­men bereitstellen können, in dem „die einzelnen Mitglieder sich entwickeln und gedeihen können“ (388). Tiere in der freien Natur von Wildtierhabitaten können sich, anders als domestizierte Tiere, selbst organisieren. Sie können für sich selbst Nahrung beschaffen, Unterschlupfe finden oder durch die Herde schwächere Mitglieder ihre Gruppe versorgen (vgl. 389). Im Ökosys­tem und Prädationszyklus der Natur gäbe es keine „failed states“ wie in menschlichen Gebieten, da die Raubtier-Opfer-Beziehung in das Sein der Natur eingraviert ist (vgl. 390).

Durch die Souveränität der Wildtierhabitate, schreiben Donaldson und Kymlicka, sollten Respekt und Gerechtigkeitspflichten gegenüber wild leben­den Tieren institutionalisiert werden (vgl. 460). Obwohl ohne Staatsbürger­schaft, müssten Wildtiere durch ihre Sachverwalter nach dem Ombudsprinzip auch in internationalen Institutionen wie der UN vertreten sein, damit ihre Interessen gehört werden, was den Umgang ihrer Wildtierhabitate betrifft (vgl. 465). Menschliche Interventionen, die die Souveränität der Wildtiere be­drohen, sind in Zoopolis strikt untersagt. Jedoch gibt es auch einige Fälle, in denen Kymlicka und Donaldson es für richtig und nötig halten, dass der Mensch den Bestand der Wildtiere sichert: beispielsweise um ein virulentes Bakterium zu vernichten, das droht, ein Wildtierhabitat auszurotten (vgl. 395). Hier fragt man sich, ob die Klassifizierung zwischen guter und schlechter Intervention bei Donaldson und Kymlicka nicht arg willkürlich geschieht – hat sich der Virus nicht auch selbst als Teil der Natur entwickelt? Donaldson und Kymlicka geben die passende Antwort: Es kommt immer drauf an. In Zoopolis wird man das „Zuwenig-Zuviel-Dilemma“ nie voll­ständig lösen können, nämlich die Abwägung der Frage, was in einem Fall zu wenig, in einem anderen Fall zu viel menschliche Intervention ist. Donaldson und Kymlicka geraten allerdings selber in das von ihnen beschriebene „Zu­wenig-Zuviel-Dilemma“, wenn sie einen Beispielfall entwerfen, in dem das Abholzen des Waldes von Menschen für Wildtiere erlaubt sei, damit dort le­bende Tiere mehr Licht und Luft bekommen (vgl. 398). Den offensichtlichen Widerspruch sehen sie nicht – durch das Abholzen des Waldes hätte der Mensch einer oder mehreren Tierrassen einen nahrungstechnischen Vorteil gegeben: ein Zuviel menschlicher Intervention, das zu Speziezismus führt.

Aber hier finden Donaldson und Kymlicka einen Ausweg: Wenn schon der erste Schritt getan wäre, nämlich domestizierten Tieren Grundrechte und Wildtieren Souveränität zuzugestehen, hätten Folgeentscheidungen keine verheerenden negativen Konsequenzen für Tiere (vgl. 396).

Resümee

Die Stärke und gleichzeitige Schwäche der Zoopolis-Theorie: Sie bietet einen pragmatischen Rahmen, in dem Widersprüche und Ausnahmen zugelassen werden dürfen, da sie eine konkrete politische Anweisung und keine Me­tatheorie über Tierrechte darstellt. Während viele politische Philosophien sich darauf beschränken, die polity, die Gesellschaftsordnung, zu beschreiben, be­wegen sich Donaldson und Kymlicka oft auf der Ebene der politics, der kon­kreten Inhalte von Politik, indem sie eine Vielzahl gehaltvoller Gesetzesnor­men zum Umgang mit Tieren vorschlagen. Ihre Theorie beruht nicht aus­schließlich auf abstrakten Prämissen, sondern auch auf empirischen Belegen, die keinen kennzeichnenden Unterschied zwischen Tieren und Menschen feststellen. Nachdem sie einmal das normative Feld abgesteckt haben, Terri­torialität, Souveränität, Handlungsfähigkeit zum Herzstück der Staatsbürger­schaft erklärt haben, müssen Donaldson und Kymlicka viele Zugeständnisse machen, damit ihre Theorie für die politische Praxis umsetzungsfähig bleibt. Auf praktisch jeden Einwand, der eine Situation zeigt, in der Tierrechte und Menschenrechte nicht gleichberechtigt bestehen können, weichen sie von ihrer Theorie ab. So präsentieren sie im ersten Kapitel das theoretische Fun­dament von Zoopolis, nämlich das Gebot, dass niemand das Recht habe, Tiere oder Menschen zu töten. Gleichzeitig wird in der Mitte des Buches lapidar erwähnt, die „Menschen hätten gar nicht überlebt, ohne Tiere zu Nahrungs- und Kleidungszwecken oder zum Selbstschutz zu töten“ (433). Das ist ein Widerspruch.

Ihr großer Verdienst ist es, im Tierethikdiskurs die Lücke gefüllt zu ha­ben, eine gelungene Geschichte der harmonischen Beziehung zwischen Men­schen und Tieren nach der Befreiung der Tiere zu beschreiben. Statt radikaler Revolutionsrhetorik angesichts der vielfachen Verletzung von Tierrechten haben sie eine umfassende posthumanistische Gesellschaftsordnung entwor­fen. Abolitionistische Forderungen anderer TierethikerInnen, die im Hier und Jetzt verharren, wirken viel utopischer, als Zoopolis auf den ersten Blick erscheinen mag. Hier wäre beispielsweise Tom Regan zu nennen, der eine sofortige Abschaffung der Massentierhaltung, mittels der Strategie „Käfige leeren“ (Regan 2014: 113) fordert, ohne die langfristig politischen Auswir­kungen dieses Appells zu durchdenken.

Für eine annähernde Realisierung von Zoopolis sind sehr viele materielle Ressourcen nötig und eine weit verbreitete Akzeptanz, dass Tieren dasselbe Bewusstsein wie uns zukommt. Zoopolis und die Vergabe von Staatsbürger­schaft an Tiere kann man nicht mit gutem Gewissen Entwicklungsländern empfehlen. Nur die Bevölkerung von einigen wenigen Industriestaaten könnte sich eine vollständige vegane Lebensweise erlauben. Der Rest der Menschen würde ohne die lokalen Strukturen kleinbäuerlichen Fleischkon­sums unter Mangelernährung leiden oder erbärmlich verhungern.

Donaldson und Kymlicka können weiterhin noch nicht glaubhaft dar­stellen, wie, ohne die Fähigkeit der menschlichen Sprache, Tieren in Ge­richtsverhandlungen Gerechtigkeit wiederfahren kann. Deswegen sollte die erste praktische Implementation von Zoopolis die Legislative und nicht die Ju­dikative betreffen. Da dieses Verständigungsproblem auch – jedoch nicht so stark - bei Menschen mit geistiger Behinderung zutage tritt, schlage ich vor, das Prinzip der politischen Ombudsperson erst einmal für diese Gruppe zu in­stitutionalisieren. Die Ombudsperson und die Person mit geistiger Behinde­rung gehören wenigstens der gleichen Spezies an. Zwischen den Bedürfnissen der Ombudsperson und der zu vertretenden geistig Behinderten besteht nicht so ein großer Unterschied wie zwischen den Bedürfnissen der Ombudsper­son und denen eines Hundes. In Deutschland haben geistig behinderte Per­sonen mit ständiger Ombudsperson noch kein Wahlrecht (vgl. Petitionsaus­schuss des Deutschen Bundestags 2014: 17), das gilt für schätzungsweise eine halbe Million Menschen. Erst wenn wir sicher und erfahren im Umgang mit Menschen mit geistiger Behinderung sind, können wir unser Augenmerk auf die Interessen anderer Spezies richten. Menschen Donaldson und Kymlicka sind sich dessen bewusst: In einem bislang unveröffentlichten Artikel erwei­tern sie den Staatsbürgerschaftsansatz auch auf geistig Behinderte und Kinder (Donaldson und Kymlicka i.E.).

Wenn man nach Vergleichen in der deutschen Geschichte sucht, so klingen Donaldsons und Kymlickas Zoopolis wie eine Anknüpfung an die Re­formpädagogikbewegung der 1970er Jahre. Als Teil eines langen Marsches durch die Institutionen könnte Zoopolis ein ähnliches Schicksal ereilen. Zoopolis ist ein politisches Experiment. In der Praxis würden einige Elemente ihrer Staatsbürgerschaftstheorie wahrscheinlich nicht lange überleben, andere könnten der deutschen Gesetzgebung angepasst und dauerhaft institutionali­siert werden.

Literatur

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FAO (Food and Agriculture Organization of the United Nations). Towards a water and food secure future. Critical perspectives for Policy Makers. Rom, 2015.

FAO Welt-Hunger-Report. The State of Food Insecurity in the World 2015. Meeting the 2015 international hunger targets: taking stock of uneven progress. Rom, 2015.

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Ladwig, Bernd. „Tierrechte ohne Staatsbürgerschaft.“ In: Mittelweg 36 23.5 (2014), 27–44.

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Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags. Bericht des Petitionsauschusses. 2. Ausschuss, 18. Wahlperiode. Drucksache 18/1300. 21. 05. 2014.

Regan, Tom. „Von Menschenrechten zu Tierrechten“. In: Tierethik – Grundla­gentexte, hg. von Friederike Schmitz, 88–114. Berlin: Suhrkamp, 2014.

United Nations. The Millennium Development Goals Report. New York: UN Headquarters, 2013.

Wadiwel, Dinesh Joseph. „Challenging out Conceptualisation of Political Sovereignity Thorugh Animal Sovereignties.“ In: Dialogue – Canadian Philosophical Review 52.4 (2013), 749–758.

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