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Althusser, Louis, Étienne Balibar, Roger Establet, Pierre Macherey und Jacques Rancière: Das Kapital lesen. Vollständige und ergänzte Ausgabe mit Retraktationen zum Kapital. Hg. von Frieder O. Wolf unter Mitwirkung von Alexis Petrioli. Übers. von Frieder O. Wolf und Eva Pfaffenberger. Münster: Westfälisches Dampfboot, 2015. 764 Seiten. [978-3-89691-952-6]

Rezensiert von Timm Ebner (Wiener Wiesenthal Institut)

Unorthodox. Zur Neuübersetzung von Lire ‚Le Capital‘, Hauptwerk der Althusserschule

I. Zur Bedeutung des Bandes

Sehr zu Unrecht ist der sogenannte ISA-Artikel von 1970 – Ideologie und ideologische Staatsapparate (Althusser 1970) – heute der einzige breiter rezipierte Text der Althusserschule. Dabei waren die Texte der 1960er Jahre viel entscheidender und sind auch heute noch weit aufschlussreicher als der eher experimentelle ISA-Text. Die revolutionäre Neuerung der Lesart von Marx, die Lire ‚Le Capital‘ 1965 einführte, besteht vor allem darin, dem Fetischismusbegriff, den Marx in der Wertformanalyse erarbeitet, einen neuen, gesamtgesellschaftlichen Bedeutungsbereich einzuräumen. Die klassischen Marxinterpretationen hatten den Warenfetischismus zum geheimen Kern des Kapitalismus erklärt und schrieben ihm häufig eine alles umfassende, geradezu fernsteuernde Wirkmächtigkeit zu. Die Althusserschule hingegen betrachtet den Warenfetischismus lediglich als ein Beispiel dafür, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse grundsätzlich der Wahrnehmbarkeit eher entziehen, weil sie nicht einfach durch intentionale Vorgänge zustande kommen, sondern sich als Kompromisskonstellationen gesellschaftlicher Konflikte konstituieren. Soziale Prozesse laufen deshalb im Wesentlichen formbestimmt ab und nicht intentional – eine Perspektive, die den Übergang von der Ideologiekritik hin zur Ideologietheorie eingeleitet hat (vgl. Schöttler 1989).

Diese Transformation lässt sich am Begriff der „metonymischen Kausalität“ (426) festmachen, der auf den Althusser-Schüler Jacques-Alain Miller zurückgeht (vgl. Althusser 1985: 240). ‚Metonymisch‘ ist die Kausalität der gesellschaftlichen Verhältnisse, weil diese Verhältnisse sind und sich nicht unmittelbar in Gestalt handelnder Personen oder anderen empirisch feststellbaren Wirkungen ‚abbilden‘, sondern erst über eine eigenständige Kontextualisierung des empirischen Geschehens begreifbar werden. Der Begriff der metonymischen Kausalität legt Zeugnis ab von Althussers Koketterie mit dem Strukturalismus, jenem Paradigma, das in den 1960er Jahren die französischen Universitäten aufwühlte und von dem eine starke Erneuerungskraft ausging. ‚Struktur‘ meint in diesem Zusammenhang nicht nur, dass der Fokus statt auf Biographien nun auf Institutionen gerichtet wird, wie das etwa im deutschen Begriff der ‚Strukturgeschichte‘ angelegt ist. Der Strukturbegriff trägt dem Umstand Rechnung, dass Gesellschaftstheorien sich darüber hinaus generell mit Symbolsystemen beschäftigen, in denen den Subjekten ihr Stellenwert nur im Rahmen gesellschaftlicher Beziehungen zukommt. Die ‚Vernetztheit‘ des empirischen Geschehens mit seinen Ursachen entzieht sich auf der Ebene der Empirie, ist also ‚metonymisch‘ abwesend beziehungsweise ‚nur in seinen Wirkungen präsent‘. Der Begriff der metonymischen oder „strukturalen Kausalität“ (422) ist also ein Versuch, den Zusammenhang von Ereignissen und ihren Ursachen neu zu konzipieren. Er ist damit eines der zentralen Werkzeuge von Althussers ‚strukturaler‘ Intervention in den marxistischen Diskurs. Wie Althusser Ende der 1970er Jahre erklärte, war diese Intervention auch ein (letztlich gescheiterter) Versuch, über einen akademischen Umweg die kommunistische Partei zu demokratisieren (vgl. Althusser 1978).

Der Begriff der metonymischen Kausalität bezieht seine Inspiration aus sehr unterschiedlichen Quellen. Zum einen ist er beeinflusst vom Psychoanalytiker Jacques Lacan, der dargelegt hat, dass das Unbewusste nur ‚metonymisch‘ zugänglich ist (vgl. Lacan 1957: 30). Die ‚Struktur‘, die gesellschaftlichen Verhältnisse, sind das, was in den alltäglichen gesellschaftlichen Praktiken unbewusst bleibt. In diesen Sinn handelt es sich bei den Strukturen also gewissermaßen um ‚das Unbewusste der Gesellschaft‘. Die Neuedition des Bandes reflektiert Althussers Bezugnahme auf die Psychoanalyse in der Entscheidung, „objet“ mit „Objekt“ zu übersetzen, wo auch „Gegenstand“ in Betracht kommen hätte können – der französische Begriff umfasst beide Bedeutungsbereiche (263 Fußnote). Die Erstübersetzung hatte meist mit „Gegenstand“ übersetzt (Althusser/Balibar 1972: 13) und damit die Bezugnahme auf die Psychoanalyse kaschiert.

Zum anderen bezieht sich der Begriff der metonymischen Kausalität natürlich auf Marx – und sogar in einem viel direkteren Sinn, als es in Das Kapital lesen dargestellt wird. Schließlich spielt die Metonymie in der Wertformanalyse im ersten Band des Kapital eine absolut zentrale Rolle. Den Fetischismus der Warenform sieht Marx in einer Verschiebung am Werk: Im Warenaustausch wird eine Ware zum allgemeinen Äquivalent für alle anderen Waren, das Gold beispielsweise etabliert sich als allgemein verbindlicher Wertmaßstab. Dieser Art vertritt also das Gold metonymisch alle anderen Waren: Seine Partikularität steht ein für das Allgemeine der Warenform, das Gold vertritt als ein Teil des Ganzen das Ganze selbst. Marx verfolgt diese metonymischen Verschiebungen weiter über Geld- und Kapitalform. Besonders interessant ist dabei die Art in der Althusser das aufgreift: Er macht keinen pauschalen Unterschied zwischen der Undurchsichtigkeit der Objekte im Warenfetischismus oder in der Wahrnehmung allgemein. Dementsprechend führt er auch den Warenfetischismus mit den ‚Sichtfeldbeschränkungen‘ der politischen Ökonomie parallel. Der Begriff der metonymischen beziehungsweise strukturalen Kausalität macht also ernst mit der Rede von der „gesellschaftliche[n] Hieroglyphe“ (Marx 1867: 88), die sich in unterschiedlicher Ausprägung auf jedes soziale Objekt beziehen lässt und nicht nur auf den Fetischismus der Warenform.

II. Zur Neuedition

Der Band ist Teil des Vorhabens des Philosophen Frieder Otto Wolf, sämtliche Texte Althussers in neuer Übersetzung zu veröffentlichen. Im Fall von Lire ‚Le Capital‘ war das besonders dringlich. Zum einen umfasste die Erstübersetzung von 1972 lediglich die Beiträge von Althusser und Balibar, weil sie der zweiten Ausgabe von Lire ‚Le Capital‘ von 1968 folgte. Zum anderen kam die Ausgabe von 1972 offenbar unter recht widrigen Bedingungen zustande, was sich in mitunter sinnentstellenden Übersetzungen niedergeschlagen hat. Hier wird beispielsweise „discours“ (Althusser u.a. 1965: 5) mit „Darstellung“ (Althusser/Balibar 1972: 13) übersetzt anstatt mit „Diskurs“ (22). Das ist vor allem insofern irreführend, als man es bei der „Darstellung“ zugleich mit „dem epistemologischen Schlüsselbegriff der gesamten marxistischen Werttheorie“ (425) zu tun hat, wie Althusser ausführt (vgl. auch Hartley 2003). An dieser Stelle übersetzt die Neuedition also passender, weil sie den französischen Begriff übernimmt, anstatt ihn durch den anderweitig besetzten Begriff der Darstellung zu ersetzen. An anderen Stellen besteht ihr Vorteil gerade darin, dass wirklich übersetzt wird, anstatt sich französischer Lehnwörter zu bedienen. Auch wenn man sich ein sorgfältigeres Lektorat hätte wünschen können (der Text weist relativ viele Flüchtigkeitsfehler auf), ist die Übersetzung der Neuedition weitaus umsichtiger als die der Erstausgabe.

Althussers Beitrag besteht aus zwei Teilen, die insgesamt fast 260 Seiten umfassen und deren Bedeutung ich oben zu skizzieren versucht habe. Dazu kommen – am Ende des Bandes unter der Rubrik „Retraktationen“ – etwa 50 Seiten späterer Texte Althussers zum Kapital, allen voran das ebenso dichte wie luzide Marx’ Denken im ‚Kapital‘ von 1977.

Zentral für den Band ist zudem der knapp 100 Seiten umfassende Beitrag des Philosophen Jacques Rancière. Ihm kommt das Verdienst zu, die wichtigsten Thesen Althussers auf die Probe eines close readings am Marxschen Text gestellt zu haben. In einer in Anbetracht der Komplexität des Gegenstands bewundernswerten Klarheit des Ausdrucks, die man in aktuellen Texten Rancières manchmal vermisst, belegt er die These vom „Bruch“ (Althusser 1960: 82, vgl. 101) im Marxschen Werk an seinen Wegmarken. Anhand der Pariser Manuskripte arbeitet er zunächst die ‚humanistischen‘ Konzeptionen des Frühwerks heraus und zeigt im längeren zweiten Teil detailliert auf, wie sich in der Wertformanalyse des Kapital einerseits die Begriffe verschieben, die Konzeptionen transformiert werden und in welchen Ausdrücken sich andererseits lokal Rückfälle in die alten Problematiken finden. Rancière bewältigt hier eine äußerst schwierige Aufgabe, um die Althusser sich gedrückt hatte (in einem Zeitungsartikel beschränkte er sich auf den „praktischen Rat“ [663], den Abschnitt zur Wertformanalyse erst nach der Lektüre der späteren Teile des ersten Bands zu lesen). Die Neufassung gibt Rancières zentralen Begriff der „perception“ nicht wie die Erstübersetzung von 1972 mit dem Fremdwort „Perzeption“ (Rancière 1972: 71) wieder, sondern übersetzt tatsächlich, und zwar ebenso einfach wie treffend durch den Begriff der „Wahrnehmung“ (158).

Der Literaturwissenschaftler Pierre Macherey setzt in seinem Beitrag am Begriff der „Darstellung“ an und bleibt ebenfalls sehr nah am Text von Marx’ Wertformanalyse. Dabei geht es ihm darum, aufzuzeigen, dass es Marx’ Anliegen ist, „jede Vermengung zwischen dem Wirklichen und dem Gedachten auszuschließen.“ (245) „Der Wert vermengt seine Wirklichkeit (als Begriff) nicht mit den Etappen seiner Erforschung.“ (246) Macherey vertieft so jene zentrale These Althussers, dass die begriffliche Verarbeitung der Wirklichkeit nicht aus ihr selbst hervorgeht (vgl. v.a. Althusser 1963). Ein Thema, das Althusser in seinem Beitrag in jener berühmten Abwandlung einer Wendung von Spinoza auf den Punkt bringt: „[D]er Begriff der Geschichte [ist] genauso wenig empirisch, [...] wie [...] der Begriff des Hundes bellen kann.“ (308)

Der Beitrag des Philosophen Étienne Balibar befragt das Marxsche Werk nach „eine[r] allgemeine[n] wissenschaftlichen Theorie der Geschichte“ (441). Dabei bezieht er sich weniger auf Das Kapital als auf Texte, die diesem vorangingen. Balibars Ziel ist eine Neuverortung des klassischen Begriffsregisters des Marxismus – ein politisches Ziel, das wohl den Anlass gab, den Beitrag als einzigen neben jenen Althussers in die zweite Ausgabe aufzunehmen. Allerdings transportiert auch bei Balibar der orthodoxe Gestus eine sehr unorthodoxe Herangehensweise, wenn er etwa Marx’ Analyse der industriellen Revolution mit Sigmund Freuds Darstellung der sexuellen Entwicklung vergleicht, um in beiden ein Konzept der Transformation aufzuzeigen, das sich nicht auf eine einfache „Evolution“ reduzieren lässt (499–507).

Der Beitrag des Soziologen Roger Establet beschäftigt sich mit der Abfolge der Darstellung im Kapital und vergleicht die entsprechenden Äußerungen im dritten Band mit Marx’ Einleitung von 1857. Ausgehend vom Eindruck, dass der theoretische Status der jeweiligen Gegenstände des Kapital sehr heterogen und ungeklärt ist (wie verhalten sich die theoretischen Abschnitte zur Wertform und zum Kapital zu den scheinbar historischen Einschüben zum Arbeitstag etc.), was sich in fehlenden Übergängen ausdrückt, stellt Establet detailliert die Einschnitte dar (609–652) und erklärt ihr Zustandekommen.

Es mag im ersten Moment überraschen, wenn Althusser scheinbar szientistisch den „metaphorischen Charakter[]“ (425) von Marx’ Begrifflichkeit problematisiert. Das ist freilich kein Votum für eine sterile Wissenschaftssprache (was immer das sein sollte), sondern hier geht es um den Einsatzpunkt des Bandes, sprich: Dass Marx keine Metatheorie seiner Untersuchung ausformuliert hat. Umgekehrt liegt auf der Hand, dass es nicht zuletzt der Reichtum an Metaphern ist, die den Texten der Althusserschule ihre Inspiration verleiht. Ein Beispiel ist Machereys Illustration des Empirismus:

Man liest dabei, als ob die Wörter Löcher in den Seiten wären, durch welche die Wirklichkeit spürbar wird; oder auch Luken, durch die hindurch der reale Prozess in einer Art von spekulativen Voyeurismus studiert werden könnte. (219)

Die inhaltliche Rigorosität und Präzision lebt durch diese Schreibe, die sich bei aller Komplexität nicht vor Veranschaulichung scheut und damit erklärt, ohne zu belehren.

Literatur

Althusser, Louis. „Über den jungen Marx. Fragen der Theorie.“ In: ders.: Für Marx, 55–104 [Erstveröffentlichung 1960].

Althusser, Louis. „Widerspruch und Überdeterminierung.“ In: ders.: Für Marx, 105–160 [Erstveröffentlichung 1962].

Althusser, Louis. „Über die materialistische Dialektik.“ In: ders.: Für Marx, 200–280 [Erstveröffentlichung 1963].

Louis, Althusser, Étienne Balibar, Roger Establet, Pierre Macherey und Jacques Rancière. Lire ‚Le Capital‘. Paris: PUF, 2008 [Erstausgabe 1965].

Althusser Louis. Für Marx, hg. v. Frieder O. Wolf. Berlin: Suhrkamp, 2011 [Erstausgabe 1968].

Althusser, Louis. Ideologie und ideologische Staatsapparate. Hamburg: VSA, 2010 [Erstveröffentlichung 1970].

Althusser, Louis, und Étienne Balibar. Das Kapital lesen I. Übers. von Klaus-Dieter Thieme. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1972.

Althusser, Louis. Die Krise des Marxismus. Übers. v. Peter Schöttler u.a. Hamburg: VSA, 1978.

Althusser, Louis. „Die Zukunft hat Zeit“. In: ders.: Die Zukunft hat Zeit. Die Tatsachen. Zwei autobiografische Texte, hg. von Olivier Corpet und Yann Moulier Boutang. Übers. V. Hans-Horst Henschen, 19–325. Frankfurt am Main: Fischer, 1993 [Erstveröffentlichung 1985].

Althusser, Louis. „Der Unterstrom des Materialismus der Begegnung.“ In: ders.: Materialismus der Begegnung, hg. von Marcus Colen und Felix Ensslin, 21–65. Zürich: diaphanes, 2010 [engl. Erstveröffentlichung 2006].

Hartley, George. The Abyss of Representation. Marxism and the Postmodern Sublime. Durham, NC: Duke University Press, 2003.

Marx, Karl. Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Bd. 1. Berlin: Dietz, 1981 [Erstveröffentlichung 1867].

Lacan, Jacques. „Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud.“ In: ders.: Schriften II, 15–55. Olten: Walter, 1975 [Erstveröffentlichung 1957].

Rancière, Jacques. Der Begriff der Kritik und die Kritik der politischen Ökonomie von den „Pariser Manuskripten“ zum „Kapital“. Übers. v. Eva Pfaffenberger. Berlin: Merve, 1972.

Schöttler, Peter. „Mentalitäten, Ideologien, Diskurse. Zur sozialgeschichtlichen Thematisierung der ‚dritten Ebene‘.“ In: Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, hg. von Alf Lüdtke, 85–136. Frankfurt am Main/New York: Campus, 1989.

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