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Editionskritik

Althusser, Louis, Étienne Balibar, Roger Establet, Pierre Macherey und Jacques Rancière: Das Kapital lesen. Vollständige und ergänzte Ausgabe mit Retraktationen zum Kapital. Hg. von Frieder O. Wolf unter Mitwirkung von Alexis Petrioli. Übers. von Frieder O. Wolf und Eva Pfaffenberger. Münster: Westfälisches Dampfboot, 2015. 764 Seiten. [978-3-89691-952-6]

Christian Schmidt (Universität Leipzig)

Mit seiner Susanna im Bade hatte Rembrandt es sich wirklich nicht leicht gemacht. Wie vor allem Zeichnungen seiner Schüler und von Besuchern der Werkstatt belegen, veränderte er zehn Jahre lang immer wieder Details der Komposition, die Haltung der Figuren und den Hintergrund. Was er danach von dem Ergebnis hielt, ist ungewiss. Sicher aber ist, dass der englische Malerfürst Sir Joshua Reynolds das überlieferte Bild dem Stil des Meisters nicht angemessen fand. Für Reynolds war das allerdings kein allzu großes Problem. Wie er es auch mit anderen Bildern getan hatte, verbesserte er kurzerhand die Susanna im Bade „im Geiste Rembrandts“. Großflächig trug er Farbschichten ab, veränderte einen Gesichtsausdruck, übermalte einen Faltenwurf und verwendete vor allem reichlich von jenem gelblich-braunen Firnis, der einen echten Rembrandt für Reynolds und sein Publikum charakterisierte.

Ganz so verheerend ist das, was Frieder Otto Wolf als Herausgeber und Übersetzer und der Verlag Westfälisches Dampfboot mit der Neuausgabe1 von Louis Althussers Das Kapital lesen veranstaltet haben, freilich nicht. Aber der Wille zur Verbesserung hat sich auch hier als unheilvoll erwiesen. Zwar hat sich Frieder Otto Wolf bei seiner Übersetzung streng an den französischen Originaltext gehalten und ostentativ jeder Eleganz und Lesbarkeit abgeschworen, die bei einer allzu strengen Übertragung des französischen Satzbaus zwangsläufig verloren gehen, aber dafür hat er den Text mit überflüssigen Füllworten geflutet, die er für dessen Verständnis hilfreich hielt.

Es ist Segen und Fluch zugleich, dass Wolf in einem Anflug übersetzerischer Redlichkeit seine eigenen Ergänzungen in eckige Klammern setzte. So lässt sich einerseits stets nachvollziehen, wie eingegriffen wurde, und in einigen Fällen sogar die stilistische Eleganz des Originals rekonstruieren. Aber dafür wird der Lesefluss Seite für Seite durch diese ausgesprochen ärgerlichen Einschübe vom Schlage „etwa“, „gleichsam“, „also“, „genau“, „zumindest“ und dergleichen mehr unterbrochen.

Ein Lektorat hätte hier der Personalunion aus Übersetzer und Herausgeber Einhalt gebieten müssen. Denn der Satz – um nur eines der unzähligen Beispiele zu zitieren –: »Den meisten Interpreten gelingt es nicht, mit dieser Frage wirklich ›fertig zu werden‹, weil sie sich nämlich nicht darauf einlassen, sie in den ihr adäquaten Begriffen zu stellen, d. h. auf dem Feld der für diese Frage erforderlichen Problematik«, ist vollständig und – um das Mindeste zu sagen – inhaltlich und grammatisch nicht weniger verständlich als die »verbesserte« Version, die nun im Buch dargeboten wird: »Den meisten Interpreten gelingt es nicht, mit dieser Frage wirklich ›fertig zu werden‹, weil sie sich nämlich nicht darauf einlassen, sie [überhaupt erst] in den ihr adäquaten Begriffen zu stellen, d. h. auf dem Feld der für [die Behandlung] diese[r] Frage erforderlichen Problematik.« (69)

Dass aber der Verlag überhaupt kein Lektorat durchgeführt haben kann, offenbart sich auf derselben Seite zwei Sätze später. Dort heißt es: „Das Kapital gibt uns eine ganze Reihe von Antworten in Bezug auf die Identität und die Nichtidentität der ‚logischen‘ mit der ‚historischen‘ Ordnung. Diese Antworten sind aber Antworten, denen eine ausdrücklich gestellte Frage entspricht.“ (69) Wer dem Text Althussers bis an diese Stelle auch nur oberflächlich gefolgt ist, kann nicht umhin zu bemerken, dass hier etwas nicht stimmen kann. Denn zuvor hatte Althusser eindringlich darauf aufmerksam gemacht, dass es die Antworten ohne ausdrücklich gestellte Frage sind, denen unsere größte Aufmerksamkeit gelten sollte. Und tatsächlich erweist ein kurzer Blick ins Original, dass es Althusser hier um „réponses sans question explicite“ geht.

Es ist beileibe nicht der einzige Fehler dieses Kalibers in dem Band, der an der Oberfläche den Anschein editorischer Genauigkeit erweckt. Mal wird Philosophie und Politik verwechselt (340, Fn. 82), mal wird ein Gramscizitat zwar im italienischen Originalwortlaut zitiert, den die französische Ausgabe gar nicht bietet, dieser dann aber zu übersetzen vergessen (345, Fn. 89). Dafür wird jedes falsche und vom Herausgeber korrigierte Semikolon eigens in einer Fußnote angemerkt, als handle es sich bereits um jene historisch-kritische Ausgabe, die Wolf bedauert, noch nicht vorlegen zu können. Aber als wie verlässlich kann eine Übersetzung noch gelten, wenn selbst offenkundig sinnentstellende Fehler nicht bemerkt und korrigiert wurden, obwohl der Herausgeber an der zitierten Stelle auf Seite 69 gleich im Anschluss einen augenscheinlichen Fehler Althussers ausweist und in seiner Übersetzung behebt?

Es ist der Verlag Westfälisches Dampfboot, den es für die Nachlässigkeit, mit der er diese Neuausgabe veranstaltet hat, vor allem zu schmähen gilt.2 Wie andere Verlage dieser Größenordnung ist er längst dazu übergegangen, die kostspielige Lektoratsarbeit stillschweigend auf Autorinnen und Herausgeber abzuwälzen. Aber bei Das Kapital lesen handelt es sich nicht um einen beliebigen Sammelband, sondern um ein wesentliches Element der deutschen Edition der Schriften von Louis Althusser. Und Althusser hätte wahrlich Besseres verdient.

Er ist nämlich ein Philosoph, der das Denken aufbricht. Dabei kommt er auch in der Einleitung zu Das Kapital lesen zunächst ganz dogmatisch daher und zitiert im Brustton der Überzeugung Sätze wie Lenins: „Der historische Materialismus ist siegreich, weil er wahr ist.“ Aber ein solches Dogma hat in Althussers Epistemologie nichts Beruhigendes. Denn Althusser benutzt einen solchen Satz nicht, um sich des historischen Materialismus zu vergewissern, sondern um die These zu widerlegen, dass die Wahrheit dem Erfolg gehört, dass sie mit der „siegreichen“ Praxis identisch ist. Vielmehr müsse die Wahrheit im Inneren einer Wissenschaft selbst, das heißt in den für sie spezifischen Praktiken, etabliert werden. Die Wahrheit der Mathematik braucht nicht die Physik zu ihrer Bestätigung, wohl aber die Techniken des mathematischen Beweises.

Man mag diese Zurückweisung des Pragmatismus kritisch sehen und zu seiner Rettung auf komplexe Verhältnisse von Protopraxis, Theorie und Anwendung verweisen. Aber mit Althusser ist klar, dass es hier Probleme zu lösen gilt und dass die immanente Logik der wissenschaftlichen Diskurse eines dieser Probleme ist. Doch Althusser sieht noch mehr. Wird nämlich die Wahrheit an die wissenschaftlichen Praktiken und die in ihnen etablierten Techniken der Wahrheitsbeglaubigung gebunden, dann droht unmittelbar die Unterscheidung zwischen Ideologie und Wissenschaft zusammenzubrechen. Und nun nehmen die Schwierigkeiten, die sich Althusser selbst bereitet, richtig an Fahrt auf.

Er verwirft den Hegelianismus als empiristisches Programm, das annehmen muss, dass tief im Inneren der Phänomene deren wahrnehmbares Wesen schlummert und dass dieses Wesen durch die phänomenale Oberfläche hindurch, die es verzerrt und verbirgt, erfasst werden kann. Das ist ausgesprochen scharf beobachtet, denn in der Tat setzt Hegel beispielsweise in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte voraus, dass auf dem Grund der Geschichte, die Freiheit immer schon vorhanden ist und selbst in den Formen der Tyrannei noch gefunden werden kann. Für Althusser aber verbietet es sich, eine Abstraktion wie „die Freiheit“ als Kandidatin für ein Reales zu etablieren, das den Wissensanspruch der Wissenschaft gegen jenen der Ideologie beglaubigen soll. Für ihn unterscheidet die Wissenschaft von der Ideologie nicht, dass jene einen Bezug zum Realen habe, der dieser fehle. Beide konstituieren ihre vom Realen geschiedenen Gegenstände als Erkenntnisobjekte. Das Material der Wissenschaft ist nicht das Reale, sondern die Ideologie samt der von ihr produzierten und von der Wissenschaft zu überwindenden Evidenz.

Wie es sich für einen Denker der Problematisierung gehört, enden diese Überlegungen nur in weiteren Charakterisierungen der Ideologie, etwa in ihrer Abgeschlossenheit, die sich an jenen Fragen zeigt, die bloß vorgegebenen Antworten entsprechen, und jener berühmten symptomalen Lektüre, die dagegen Antworten aufspüren will, zu denen es noch gar keine Frage gibt, um so die Ideologie, in der es für solche Fragen keinen Platz gibt, von innen aufbrechen zu können.

Zu einer positiven Bestimmung von Wissenschaft führen Althussers Beiträge in Das Kapital lesen also nicht. Das macht aber nichts. Denn weit über seinen unmittelbaren Kreis an Mitarbeitern hinaus, deren Beiträge in Das Kapital lesen nicht an Althussers verstörende Wirkung heranreichen, ist Althusser im französischen Denken um 1968 exemplarisch dafür, wie plötzlich die Dinge, auf die es in der Philosophie ankommt, immer komplizierter werden.

Diesen Althusser, der im dogmatisch-autoritären Gestus die antiautoritäre Praxis der sich überschlagenden Problematisierungen vorführt,3 die keine Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei Frankreichs zu zügeln vermag und deren Radikalität der maoistisch inspirierten Aufstand seiner Schüler gegen ihn verkannte, gilt es auch in Deutschland noch zu entdecken. Deshalb ist es so bedauerlich, dass Althussers deutsche Edition seit jeher unter keinem guten Stern steht. Bereits Ende der 1980er Jahre ist ein erster Versuch einer deutschen Ausgabe der Schriften Althussers (damals von Wolf gemeinsam mit Peter Schöttler im Argument Verlag herausgegeben) nach nur zwei Bänden gescheitert. Nun hat es Wolf allein erneut in Angriff genommen, die längst vergriffenen und aufgrund der Editionslage teilweise noch nie ins Deutsche übersetzten Texte Althussers wieder beziehungsweise überhaupt einem hiesigen Publikum zugänglich zu machen. Bände bei Suhrkamp und im Hamburger VSA Verlag sind bereits erschienen. Aber für alles, woran diese beiden Häuser keine Rechte halten und das sind teilweise bedeutende Texte aus dem Nachlass, ist der Verlag Westfälisches Dampfboot als Publikationsort vorgesehen. Er – und keiner der beiden anderen Verlage – ist somit als die eigentliche Heimstatt dieser Althusser-Edition anzusehen. Und offenkundig ist der Verlag mit einer solchen Aufgabe heillos überfordert.

Es wäre zu wünschen, dass es angesichts dieser Überforderung zu einer hilfreichen Intervention einer Stiftung, einer Akademie oder einer Mäzenatin zum Wohle dieser Edition käme, bevor noch mehr Dokumente dieses wichtigen und anregenden Denkens der editorischen Nachlässigkeit anheimfallen und durch die Form ihrer Veröffentlichung die Rezeption für mindestens weitere fünfzig Jahre behindern. Doch wer sollte für einen Autor intervenieren, der sich sein Leben lang bemühte, ein getreuer, gar ein dogmatischer Marxist zu sein und dessen Originalität dafür sorgte, dass ihm das in den Augen der Marxisten nie wirklich gelingen konnte? Es sind scheinbar allein Leute wie Wolf mit ihrer Freude an der Radikalität von Althussers Denken, die sein Andenken befördern wollen, ihm Generation für Generation ein neues Publikum zu erschließen trachten und seine theoretischen Einsichten tradieren. Leider sind sie keine guten Editoren.

Rembrandts Susanna im Bade hat auch in der von Reynolds übertünchten Form ihr Publikum gefunden. Und so steht zu hoffen, dass die Eleganz und Energie des althusserschen Denkens auch durch seine unsägliche deutsche Edition hindurchscheint. Andernfalls stünde nämlich zu befürchten, dass weiterhin der wichtige Beitrag übersehen wird, den die Problematisierungen Althussers etwa zum Verständnis der Schriften des bereits zum Klassiker erhobenen Michel Foucault leisten, für die sie einen der bedeutendsten, wenn auch leider weithin unterschätzten Kontexte bilden.

Literatur

Althusser, Louis. Für Marx. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1968.

Althusser, Louis. Für Marx. Vollständige und durchgesehene Ausgabe. Berlin: Suhrkamp, 2011.

Althusser, Louis. Materialismus der Begegnung. Zürich: Diaphanes, 2010.


  1. Die Ausgabe geht insofern über eine bloße Neuausgabe hinaus, als sie erstmals neben den Texten von Althusser und Étienne Balibar auch die ursprünglich im gleichen Kontext veröffentlichen und aus einem gemeinsamen Seminar hervorgegangen Beiträge von Jacques Rancière (einzeln zuvor bei Merve verlegt), Pierre Macherey und Roger Establet bietet. Die Beiträge von Althusser und Balibar waren bereits 1972 in der flüssig lesbaren, aber den „neuen Ansprüchen“ (12) diese Ausgabe nicht genügenden Übersetzung von Klaus-Dieter Thieme im Rowohlt-Verlag erschienen.

  2. Obwohl hier anzumerken ist, dass selbst die „vollständige und durchgesehene Ausgabe“ von Für Marx, die Wolf im Rahmen seiner Edition 2011 bei Suhrkamp herausgegeben hat, einen weitgehend unlektorierten Eindruck macht und simple grammatische Fehler der Ausgabe von 1968 einfach übernimmt. Vgl. etwa Althusser (2011: 281), wo es nach wie vor heißt, die Diktatur des Proletariats habe „seine“ statt ihre Funktion erfüllt. Die entsprechende Passage findet sich in Althusser 1968 auf S. 169.

  3. In dem kleinen Text »Spinoza«, der ursprünglich ein Teil seiner Autobiographie werden sollte, hat Althusser die paradoxe Erfahrung der befreienden Wirkung von Texten, die der Form nach dogmatisch sind, als Erlebnis bei seiner eigenen Lektüre von Spinoza, später auch von Hegel, beschrieben: „Dieser Mensch, der more geometrico mittels Definitionen, Axiomen, Theoremen, Korrelaten. Lemmata und Deduktionen denkt, also in der ‚allerdogmatischsten‘ Weise, war zugleich ein unvergleichlicher Freigeist. Wie also konnte der Dogmatismus nicht nur in den Jubel der Freiheit münden, sondern ihn sogar ‚produzieren‘? […] Ich bemerkte, dass die Wahrheit einer Philosophie ganz und gar in ihren Effekten liegt, dass sie also eigentlich nur aus der Distanz auf die eigentlichen Gegenstände wirkt, also in dem Raum der Freiheit, den sie der Forschung und Handlung eröffnet, und somit nicht unbedingt in der Form der Darstellung.“ (Althusser 2010: 104)

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