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Zeitschrift für philosophische Literatur 3. 2 (2015), 49–64

Martin Saar: Die Immanenz der Macht. Politische Theorie nach Spinoza. Berlin: Suhrkamp 2013, 459 Seiten, [ISBN 978-3-518-29654-7]

Rezensiert von Kerstin Andermann (Leuphana Universität Lüneburg)

Spinoza gehört noch immer nicht zu den »toten Hunden« der Philosophiegeschichte. Sollte es richtig sein, dass jedes Jahrhundert seinen eigenen Spinoza hervorbringe, wie Pierre Macherey behauptet, so ist noch nicht gänzlich absehbar, welcher Spinoza der des 21. Jahrhunderts sein wird. Allerdings zeichnet sich schon jetzt ein neues Interesse an diesem lange marginalisierten Denker ab, das sich nicht nur auf die Ideengeschichte der Aufklärung, die Umbrüche der Frühen Neuzeit oder die Versuche, dem Marxismus mit Spinoza ein anderes Gesicht zu geben, richtet. In seiner gegenwärtigen Rezeption kommt Spinoza vielleicht der Gestalt des Denkers am nächsten, der er für das 19. Jahrhundert war, nämlich ein „Pantheist und Philosoph des Lebens und der Kräfte“ (Macherey 2011: 9). Als solcher, und das heißt als Stimme einer radikalen Ausformulierung der ontologischen Figur der Immanenz, wird er gegenwärtig zur impliziten Grundlage verschiedener Debatten kritischer Kulturtheorie, die sich an den überkommenen Ordnungen „des Lebens und der Kräfte“ abarbeiten.

Zentral für die aktuellen kulturtheoretischen Anschlüsse ist die intensive Aufnahme seines Werks durch Gilles Deleuze, dessen immer wieder von Spinoza ausgehenden Interpretationen im Feld von Kunst, Literatur und Film, Politik und Philosophie ein breites Interesse am Denken des jüdischen Philosophen bewirkt haben. Deleuze habe, so hält Martin Saar in seinem Buch sehr treffend fest, „dem im Entstehen begriffenen Poststrukturalismus die Erinnerung an die Ontologie des 17. Jahrhunderts ins Programm geschrieben“ (8). Auch wenn die Sache der Ontologie im besagten Poststrukturalismus zumeist implizit geblieben ist und die Suche nach charakteristischen Strukturen der Wirklichkeit zwischen Natur und Geschichte weiterhin dem Verdacht der Komplizenschaft mit Theologie und Metaphysik ausgesetzt ist, kann man wohl sagen, dass das im Fahrwasser des linguistic turn entstandene ontologische Denkverbot heute einem Bewusstsein für die ontologischen Vorannahmen einer jeden kulturtheoretischen Analyse gewichen ist. Ein wesentlicher Grund für die Aufnahme des spinozistischen Entwurfs liegt in der Möglichkeit der immanenzphilosophischen Umformulierung der „Großen Trennungen“ (Latour 2008), die das moderne Denken bereits lange in Atem halten. Mit Spinoza wird heute ein Immanenzmodell verbunden, das die etablierte Epistemologie der Unterscheidungen von Subjekt und Objekt, Geist und Natur, Denken und Sein überwindbar erscheinen lässt, und zwar durch eine Untersuchung von Prozessen und Bewegungen, Strukturen und Relationen und durch die Voraussetzung dynamischer Variabilität als Möglichkeitsspielraum des Seienden. Das Gerangel um die Konsequenzen des dualistischen Erbes führt heute nicht mehr zu einer De-Ontologisierung, sondern zu einer Re-Ontologisierung der Theoriebildung unter radikal immanenzphilosophischen Vorzeichen – und dies in ganz unterschiedlichen Feldern wie feministischer Philosophie, Science and Technology Studies, Kulturanthropologie oder eben politischer Theorie.

I.

Das politische Denken Spinozas von seinen ontologischen Grundlagen her zu rekonstruieren und in seinen aktuellen Anwendungen zu zeigen ist das umfassende Ziel des neuen Buchs von Martin Saar, der die „Scheu vor Ontologie“ (419) ablegt und in unorthodoxer Weise an den großen Vorgänger anschließt. Saar nutzt die Figur der Immanenz für eine spinozistische Revision der Frage der Macht, denn die politische Ordnung und das Zusammenleben der Menschen sind ausgehend von Spinozas komplexer Theorie der Macht erklärbar. Mit der prominenten Aufnahme der demokratietheoretischen Konzeption einer „Macht der Menge“ unter dem Begriff der „Multitude“ (Hardt/Negri 2004) durch Hardt und Negri hat Spinozas machttheoretisches Denken bereits einen zeitgenössischen Niederschlag gefunden. Die Arbeit von Saar unterscheidet sich hiervon jedoch deutlich, denn er bedient sich nicht einfach einzelner Elemente, sondern trägt der Einsicht Rechnung, dass frühneuzeitliches Denken nicht ohne seinen metaphysischen Rahmen zu verstehen ist und auch das Feld des Politischen nicht ohne die Aufklärung der elementaren Strukturen der Welt zugänglich ist. Saar nimmt sich den ganzen Spinoza vor, rekonstruiert dessen politische Theorie von innen und kontextualisiert sie von außen, um das spezifische Verhältnis von Philosophie und Politik aufzuzeigen, durch das Spinoza sich von seinen Zeitgenossen wie auch von späteren Theorien des Politischen abhebt.

Im ersten der drei großen Teile untersucht Saar Spinozas Schriften und stellt zuerst die Hauptargumente der beiden politischen Traktate vor, bevor er die wesentlichen Züge der Ethik in den Blick nimmt. Als explizites Ziel des 1670 anonym in Amsterdam erschienenen Tractatus theologico politicus gibt Spinoza – in Ergänzung des Titels seiner Abhandlung – an, zu zeigen, „daß die Freiheit zu philosophieren nicht nur ohne Schaden für die Frömmigkeit und den Frieden im Staat zugestanden werden kann, sondern auch nicht aufgehoben werden kann, ohne zugleich den Frieden im Staat und die Frömmigkeit aufzuheben“ (Spinoza 2012: 1). Geprägt von Aberglauben und Furcht sieht er die Menschen in religiösen Überzeugungen Zuflucht nehmen, deren Verführbarkeitspotenzial sich politische Autoritäten zunutze machen, um die eigene Herrschaft zu sichern.

Wie Saar darstellt, ist es Spinozas Anliegen zu zeigen, dass weder die politische Stabilität noch der Glaube auf Furcht und Täuschung aufgebaut sein dürfen und ihre Grundlage nur die Freiheit sein kann, selbst zu urteilen und Gott nach eigenen Vorstellungen zu ehren. Der Theologisch-politische Traktat ist, wie Saar festhält, „eine aufklärerische Untersuchung über die Grenzen theologischer und politischer Autorität“ (20) und eine „Übung in epistemischer wie in politischer Kritik“ (19), die Machtansprüche aus dem Feld der Religion und der Politik zurückweist und die Freiheit des philosophischen Denkens zum Ziel hat. Spinozas Abhandlung ist ein „Plädoyer für die Freiheit der Philosophie“ (30), und in ihr zeigt sich bereits die Verwobenheit der politischen Theorie Spinozas mit seinen erst später in der Ethik systematisch entfalteten ontologischen Überlegungen zur Natur. Saar verdeutlicht, dass Spinozas politische Theorie, „von den ‚natürlichen‘ Eigenschaften von Mensch und Staat“ (33) und damit von einem Naturrecht ausgeht, das die „Fähigkeiten und Möglichkeiten eines Individuums“ (ebd.) nach den „Regeln der Existenz und des Wirkens“ (ebd.) und damit von den allgemeinen Gesetzen der Natur her bestimmt. Das Recht eines Individuums ist das Recht zu allem, was es seiner Natur nach vermag und worin es zu beharren strebt, um sich selbst zu erhalten. Die Sphäre des Politischen wird von der naturhaften Verfasstheit ihrer Elemente ausgehend aufgefasst und gegen die Zumutungen nicht-politischer Autoritäten verteidigt. Damit weist Spinoza die Demokratie in Hinblick auf ihre Legitimität bereits im ersten Traktat als die natürlichste Staatsform aus, in der sich die Verhältnisse von Recht und Macht, Individuum und Staat aus natürlichen Grundlagen ergeben und nicht an einen Souverän abgetreten werden.

Nach Abschluss der Ethik im Jahr 1675 hat Spinoza die Arbeit an seiner zweiten politischen Schrift aufgenommen. Der Tractatus politicus ist 1677 posthum und unvollendet in den von seinen Freunden herausgegebenen Opera Posthuma erschienen. Saar ordnet ihn auch als Reaktion auf die Ereignisse der Zeit ein, d. h. insbesondere auf die Ermordung der Brüder de Witt im Jahr 1672, die zu einer „Destabilisierung des politischen Lebens in Amsterdam und [zur] Rückkehr religiös geprägter Kreise an die Macht“ (52) geführt hat. Diese Erfahrung von Unsicherheit und Instabilität habe Spinozas Nachdenken über den Aufbau des Staates motiviert, und im Unterschied zum ersten Traktat geht es hier nicht mehr um die Verhältnisbestimmung von Religion und Politik, sondern darum, Politik aus der Umklammerung durch Religion zu lösen und als „eine autonome Sphäre mit eigenen Gesetzen und Rechten“ (52) zu begreifen. Der Politische Traktat untersucht die Bedingungen gelingender Staatlichkeit in Hinblick auf die Verfasstheit „kollektiver politischer Akteure wie des Volkes oder der Menge“ (53) und angesichts möglicher Bedrohungen von außen wie von innen.

Saar macht deutlich, dass Spinoza seine Theorie in dem Maße, in dem er sein Interesse auf die Menge und ihre Macht richtet, von der rationalen, imaginären und affektiven Natur des Menschen ausgehend anlegt. Vernünftigkeit und Moralität der Bürger werden nicht vorausgesetzt, sondern als Aufgaben einer realistischen, d. h. an der Natur der Menschen orientierten Lenkung angesehen. Er sieht den Politischen Traktat als auf zwei Ebenen organisiert an: Zum einen auf der Ebene allgemeiner Bestimmungen und Gesetzmäßigkeiten, „die sich aus der ‚Natur‘ der Dinge und der Menschen“ (56) ergeben und die als anthropologisch-psychologische Motive einer naturalistischen Theorie immanenter Macht- und Rechtsverhältnisse auf die Grundlagen der Ethik zurückgehen. Zum anderen geht es um konkrete Fragen zur Stabilität des staatlichen Gefüges, die Spinoza anhand des klassischen Dreierschemas von Monarchie, Aristokratie und Demokratie sowie anhand von historischen Erfahrungen und Einschätzungen untersucht. Der Zweck des Staates ist dabei immer, „Frieden und Sicherheit des Lebens“ (Spinoza 1994: 63) zu gewährleisten und die Gesetze unangetastet aufrechtzuerhalten. Saar identifiziert im zweiten Traktat ontologische und anthropologische Aussagen, d. h. solche über die „Staatsentstehung aus dem Selbsterhaltungsstreben“ (61) und der „Macht der Menge“ (Spinoza 1994: 29), wobei Letztere hier überhaupt erst „zentrale Ermöglichungs- und Legitimierungsinstanz der Macht des Staates oder der Regierung“ ist.

Die eigentlichen Überlegungen Spinozas zur Demokratie als Modell geteilter Macht sind bekanntlich unvollendet geblieben, dafür aber legt er auf den letzten Seiten seines Politischen Traktats noch fest, dass die, die nicht unter eigenem Recht stehen, die also nicht frei, sondern ihnen äußerlichen Gesetzen unterworfen sind, kein Stimmrecht und auch keinen Zugang zu Staatsämtern haben könnten. Dies betrifft neben den Ausländern auch die Frauen und die Knechte, die „der Gewalt ihrer Männer und Herren“ (Spinoza 1994: 225) unterstehen. Die Erfahrung, so Spinoza, zeige uns, dass Frauen regiert werden müssen und nicht selbst regieren können, weil sie „von Natur aus nicht ein gleiches Recht haben wie Männer“ (ebd.) und infolgedessen auch nicht Teil einer sich selbst regierenden Körperschaft wie der Demokratie sein können. Mit diesen Bemerkungen zum exklusiven Charakter der Demokratie, die qua Naturrecht ausschließt, endet der Politische Traktat bedauerlicherweise. Auch diese Einlassungen bleiben bei Saar nicht außen vor, sondern werden, insbesondere in Hinblick auf die Geschlechterproblematik, untersucht.

Saars Darstellung der politischen Schriften zielt darauf, eine ontologisch hergeleitete Theorie immanenter Macht vorzustellen, und dafür ist auch die Auseinandersetzung mit dem ebenfalls kurz nach Spinozas Tod, 1677 in den Opera Posthuma erschienenen Hauptwerk Ethica unabdingbar. In der Ethik kommt Spinozas Denken zusammen, sie bildet die allgemeine Grundlage, und jede Begründung einzelner Aspekte bleibt auf die Herleitung aus diesem System angewiesen, das, wie Deleuze bemerkt hat, aus mindestens drei ganz verschiedenen Büchern besteht (vgl. Deleuze 2000: 187ff.). Auch hier stellt Saar zuerst den werkgeschichtlichen Zusammenhang, die grundsätzlichen Ziele und die Architektur des Textes dar, bevor er auf die verschiedenen Teile und ihre jeweilige Bedeutung für die Frage der Macht und damit zuallererst für die Frage nach dem Menschen eingeht. Da wäre zuerst die Ontologie und Spinozas Darstellung der elementaren Strukturen der Welt, ausgehend von Gott bzw. der Natur als einer Substanz mit unendlich vielen Attributen. Saar versäumt nicht, darauf hinzuweisen, dass diese ersten ontologischen Überlegungen Spinozas bereits als Figur der Immanenz angelegt sind. Sie sind es insofern, als die paradoxe erste Erklärung der Substanz, als Ursache ihrer selbst (causa sui), eine Ablehnung jeder transzendenten Herleitung und jeder übergeordneten Begründung erlaubt, die auf alle weiteren Differenzierungen der Attribute übertragen werden kann. Mit zahlreichen Bezugnahmen auf die Spinozaforschung diskutiert Saar hier eine Reihe wichtiger Aspekte, wie z. B. die radikalaufklärerische Theologiekritik Spinozas, den Nezessitarismus und die daraus resultierende rationale Erkennbarkeit der Natur durch die drei Formen der Erkenntnis.

Saar sieht bereits in den ontologischen Innovationen Spinozas eine Reihe von „anthropologischen Implikationen“ (86), die die „Parameter des Nachdenkens über den Menschen“ (ebd.) verschieben und damit auch nicht ohne Folgen für „den Menschen als ein politisches Wesen bleiben“ (ebd.). In Auseinandersetzung mit der Erkenntnistheorie des zweiten Teils der Ethik stellt er die Relation von Geist und Körper im Hinblick auf die stets beides betreffenden Affektionen dar und untersucht die Typologie der Perspektivierungen und Verbindungen von Erkenntnisakten sowie die dreistufige Hierarchisierung der Erkenntnisformen bis hin zur scientia intuitiva. Auch die wohl prominentesten Teilstücke der Ethik, wie conatus, Affektenlehre und die an Descartes angelehnte physikalische Theorie der Körper, verhandelt Saar nicht in extensiv historisch-exegetischer Detailinterpretation, sondern in Hinblick auf ihre Bedeutung für die spezifischen Züge der Machttheorie Spinozas. Zentral ist dabei wiederum die ontologische Dimension der Dynamik der Selbsterhaltung, der Affekte und der Körper, denn als psycho-physische Einheit ist der Mensch Wirkungen ausgesetzt und steht in Verhältnissen immanenter Kausalität. Der innere Zusammenhang von Selbsterhaltungs- und Affektenlehre ergibt sich aus der Frage der Macht, und zwar insofern, als die Affektökonomie selbst dem Gesetz des conatus untersteht und damit an Machterhaltung als Erhaltung von Wirkungsmacht und Handlungsfähigkeit orientiert ist.

Die Dynamik und die Struktur der Affekte werden hier also von ihrer Wirkungsweise im transindividuellen und intersubjektiven Feld kollektiver Zusammenhänge betrachtet. Zwar erweckt die Affektenlehre prima facie den Anschein, eine individualpsychologisch ausgerichtete philosophische Therapeutik zu sein, doch bietet sie zahlreiche Anschlüsse, die deutlich machen, dass das Affektionsgeschehen von außen durchwirkt und stets relational ist. Saar betont diese ontologisch wesentliche Tatsache immer wieder durch den Hinweis auf die konstitutive Heteronomie des Affektionsgeschehens, d. h. auf dessen stets von außen, aus einer Vielzahl von kontingenten, äußeren Impulsen (wie z.B. Projektion, Assoziation, Nachahmung, Ansteckung, Verwechslung) kommende, transitiv-dynamische Verfasstheit. „Das Erleiden oder Affiziertwerden durch äußere Dinge ist also notwendiger Bestandteil der menschlichen Natur, und ihm kann nur ein Affekt entgegenwirken“ (106), der „dem zu hemmenden Affekt entgegengesetzt ist und der stärker ist als dieser“. (Spinoza 2007: 4P7) Dieser stärkere Affekt ist, darauf weist auch Nietzsche in der Feststellung seiner umfassenden Ähnlichkeit zu Spinoza hin, die Erkenntnis: „die Erkenntniß zum mächtigsten Affekt zu machen“, das ist die Spinoza ähnliche „Gesamttendenz“ Nietzsches, wie dieser in einem Brief an Franz Overbeck vom 30. Juli 1881 notiert (Nietzsche 1981: 111).

Saar erläutert besonders die Bedeutung der Vernunftorientierung und des Denkens in der Affektenlehre, denn von hier aus erklärt Spinoza, dass der vernunftgeleitete Mensch im Staat, wo er nach gemeinsamen Beschlüssen lebt, freier ist als der Mensch, der nur sich selbst gehorcht. Die politische Pointe der Ethik sei, so Saar, gerade diese letztendliche Übereinstimmung von Vernunft und Freiheit. Die vernünftige Beziehung zu sich selbst impliziert eine vernünftige Beziehung zu anderen, und das bedeutet, dass der vernunftgeleitete freie Mensch auch ein solcher Bürger und die Rationalität des Einzelnen letztlich die Rationalität des Staates ist. Die Ethik endet mit der Frage des individuellen Glücks und der Liebe zu Gott als höchster Erkenntnisform, also strikt individualistisch. Saar bemerkt aber sehr richtig, dass die ontologische Grundlage des freien und erkennenden Individuums, das Spinoza als Idealbild des Menschen vorschwebt, gerade nicht individualistisch zu denken ist, sondern nur von den Kräften und Relationen her, in denen es sich erst ausbildet. Im Hintergrund des individualisierten ethisch-therapeutischen Ziels der Erkenntnis Gottes und der Natur liegen also mannigfaltige Bedingungen und Voraussetzungen, die das Individuum weit überschreiten.

Es ist vollkommen richtig, wenn Saar auch in Spinozas Ethik wichtige Elemente einer politischen Theorie erkennt, denn die Überschreitung des Individuums auf sein Außen hin wird bereits in der Ontologie verbürgt. Das angeführte Zitat Negris bringt die Sache auf den Punkt: „Die wahre Politik Spinozas ist die Metaphysik.“ (Negri 1982: 243) Als das „organisierende Prinzip“ (128) dieser ontologischen Grundlegung wird die Macht identifiziert: „Denn Macht oder potentia ist in der Tat der generelle ontologische Grundbegriff, mit dessen Hilfe sich das ‚Wesen‘ des einzelnen Dings und die Dynamik seiner Verhältnisse zu anderen Dingen beschreiben lassen.“ (128) Erst in seiner ontologischen Wendung zeigt der Begriff der potentia seine relationale Dimension als eine stets das Individuum übergreifende Wirkungskraft. Macht in diesem ontologischen Sinne ist also ein Kräfteverhältnis und eine Wirkungsfähigkeit im natürlichen Zusammenhang von Entitäten. Um diese übergreifende, relationale Verfasstheit von Macht abzubilden, ist Ontologie nötig, und deshalb ist auch die Metaphysik letzten Endes politisch.

Worin also besteht also der spezifische Zugriff Spinozas auf das Feld des Politischen, wenn seine ontologische Konzeption von unbedingt unendlicher Substanz, gleichrangigen Attributen und den Modi als mannigfaltigen Affektionen der Substanz nicht nur Voraussetzung der Erkenntnistheorie, der Affektenlehre und der Frage der Freiheit des Menschen ist, sondern auch Grundlage des Politischen? Zwar ist die Politik, wie Alexandre Matheron gezeigt hat, nicht Teil des deduktiven Argumentationsganges von Spinozas Ethica, doch sie kommt gerade dort ins Spiel, wo der kluge Umgang mit den Affekten nicht mehr nur als Problem des Individuums, sondern als Problem der Gemeinschaft behandelt wird (vgl. Matheron 1969). Spinoza durchmisst den Raum des Politischen anhand eines Grundgedankens seiner Philosophie, der es erlaubt, die gesamte Natur als einen dynamischen Wirkungszusammenhang von Entitäten in den Blick zu nehmen, die sich aus der Macht ihrer Natur heraus zueinander verhalten. Macht ist nicht die Macht des Staates und nicht die Macht der politischen Institutionen, Macht ist die immanente „Macht der natürlichen Dinge, durch die sie existieren und tätig sind“, und aus dieser Macht der Natur folgt auch ein Recht der Natur, d. h., dass „ein jedes natürliche Ding von Natur aus so viel Recht hat, wie es Macht hat zu existieren und tätig zu sein“. (Spinoza 1994: 15) Nach Saar wird diese immanente Macht nicht durch transzendente Souveränitätspositionen überschritten, sondern sie verfährt im Rahmen von „Konstitutionsprozessen“ (9), und daher ist die politische Theorie Spinozas eben als eine politische Ontologie zu verstehen. Die letztendliche Frage nach Rationalität und Freiheit als den Grundlagen der Demokratie muss aus dieser Funktion von Macht als unhintergehbarer Bedingung des Menschen hergeleitet werden.

II.

Im zweiten Teil seiner Arbeit diskutiert Saar Spinozas Machtkonzeption detaillierter und hält noch einmal fest, dass der Begriff der potentia ein metaphysischer Begriff und im Ausgang der aristotelischen Tradition als eine „Signatur des Seienden“ (137) zu verstehen ist, die nichts mit dem üblichen Verständnis „asymmetrische[r] Beziehungen zwischen konkreten Personen, Gruppen oder Institutionen“ (ebd.) zu tun hat. „Über das Sein einer Sache zu reden impliziert, von Macht zu sprechen.“ (ebd.) Spezifisch für diese Konzeption Spinozas ist eben die Ableitung der Macht des Einzelnen aus der unendlichen und absoluten Macht Gottes bzw. der Natur. Als Modi der einen Substanz hängen die einzelnen Dinge von der Macht Gottes oder der Natur ab und damit ist das Selbsterhaltungsstreben eine Macht, sich durch den klugen Umgang mit den Affekten und der Erkenntnis in dieser Natur zurechtzufinden. Macht liegt in diesem Sinne also vor und muss genutzt werden. Die ontologische Tiefe dieser Machtkonzeption erlaubt es, anders über Macht zu sprechen als in den überkommenen Modellen individualistischer, aktivistischer oder intentionalistischer Prägung. Sie wird aus verschiedenen Perspektiven beschreibbar, die Saar vorerst nach den Modellen von „Konstitution“, „Relationalität“ und „Steigerung“ gliedert. Dabei geht es ihm immer um Macht als ein Phänomen unter Menschen, d. h., die metaphysischen, das göttliche Ganze betreffenden Voraussetzungen Spinozas werden vorerst ebenso ausgeklammert wie die Frage der Macht im Bereich nicht-menschlicher Akteure. Die Begriffe der Konstitution, der Relationalität und der Steigerung werden zur Charakterisierung der spezifischen Züge der Machttheorie Spinozas ausgeführt: „In Spinozas Denken wird Macht konstitutiv und radikal relational verstanden und durch das auf Steigerung gerichtete conatus-Prinzip grundlegend dynamisiert.“ (414) Dass Macht ein Konstitutionsverhältnis ist, heißt, dass sie nicht auf das Handeln reduzierbar, sondern eine Potenzialität aktiver oder passiver Verhaltensweisen ist. Es gibt keine Kontexte ohne Macht, denn als grundlegendes Konstitutionsprinzip liegt sie immer schon allem zugrunde. In diesem Sinne ist der soziale Raum ein „Potentialitätsfeld“ (141), in dem sich verschiedene Elemente auf unvorhersehbare und unterschiedlichste Weise zu Ereignissen und Handlungen verknüpfen können. Der Raum des Sozialen und des Politischen konstituiert sich also erst über Macht, und es geht darum, sie als Möglichkeit zu aktualisieren.

Die Figur der Relationalität zeigt an, dass Spinozas Theorie der Macht sich auf die unendliche Vielfalt der Modi bezieht, die untereinander Verhältnisse bilden. Macht ist hier also immer schon auf anderes bezogen und erfordert stets mehr als nur ein Individuum, d. h. mehr als nur einen Körper. Saar verweist auf Negri und Balibar, die von einer inter- bzw. transindividuellen Perspektive Spinozas sprechen (vgl. Negri 1982; Balibar 1997). Der Begriff der Steigerung kennzeichnet die Balance des Mehr oder Weniger an Macht und damit die Möglichkeit der Zunahme von Wirkungsmacht (potentia agendi), d. h. der Handlungsfähigkeit eines Körpers oder eines Dings. Diese Perspektivierungen werden immer wieder auf das Feld des Politischen bezogen, und sie zeigen, so Saar, „neben dem Repressions- auch den Konstitutions- und Konstituierungscharakter der Macht“ (135) auf. Nun lässt sich, wie ich meine, über den Begriff der Konstitution in diesem immanenzphilosophischen Kontext streiten, zeigt er doch gerade die Hierarchisierung zwischen Konstituiertem und Konstituierendem als transzendentale Bedingung der Möglichkeit an, die Spinoza durch eine – dezidiert gegen die cartesianische Hierarchisierung gewendete – parallelistische Anlage ersetzen wollte.

Deutlich wird aber, dass die drei Aspekte der Formierung von Realität durch Macht, des Vollzugscharakters von Macht zwischen mindestens zwei Polen und der dynamischen Steigerung von Macht die systematische Tragfähigkeit von Spinozas Konzeption der machtförmigen Verfasstheit alles Seienden ausmachen. Saar grenzt die Konzeption eines allgemeinen Wirkungsverhältnisses dann auch gegen zu handlungstheoretische, zu individualistische oder zu herrschaftstheoretische (Weber) Verengungen von Macht ab und zeigt produktive Analogien zur Systemtheorie auf (Parsons und Luhmann). Ebenso erkennt er im Denken der Macht bei Arendt und Foucault eine tiefe Verwandtschaft zu Spinoza, wobei der Spinozismus Foucaults wohl vor allem durch Deleuze erkennbar gemacht wurde (vgl. Deleuze 1987).

Saar macht wiederholt deutlich: Spinozas Machtbegriff ist „entgrenzt und unspezifisch“ (191) angelegt, und seinem „metaphysischen Monismus, der sich auf das Ganze […] richtet, entspricht ein methodologischer Holismus, der auf einer allgemeinsten Ebene alle Prozesse und Dinge unter ein Ensemble von Begriffen bringen will“ (191). Der Begriff der potentia kennzeichne den allgemeinsten Wirkungszusammenhang, der sich im, die Individuen übergreifenden, Aktionsraum der Gesellschaft findet. Gerade darin liege seine Stärke, denn er lasse es zu, die Koordinaten von Macht, also ihre „Orte“, „Szenen“ und „Effekte“ einer grundlegenden Revision zu unterziehen und auf diese Weise zu einem anderen Bild der Praxis des Machtgeschehens und damit auch der Verfasstheit von Gesellschaft zu kommen.

Eine sehr ausführliche Besprechung durch Saar erfährt die Aufnahme Spinozas in den Arbeiten von Antonio Negri, der Spinozas philosophisches Denken insgesamt politisch und von der Frage der Macht ausgehend begriffen hat. Negri sieht Spinoza als einen materialistischen Denker, der „als erster protomoderner Philosoph an der Schwelle zur Moderne die radikale Immanenz des Gesellschaftlichen ahnt und zu begreifen beginnt, der die Widersprüchlichkeiten des frühbürgerlichen Zeitalters, das den kapitalistischen Markt gerade erst erfindet, in seiner zerrissenen Form des Denkens zugleich spiegelt und ihm einen subversiven Traum vom sich selbst bestimmenden sozialen Leben entgegensetzt“ (169). Negri interpretiere Spinoza vor einem materialistischen Hintergrund und setze damit besonders bei der Ontologie an, die, so Saar, „gewöhnlich als Vorstufe idealistischer Positionen verstanden wird“. (170) Im Anschluss an Althusser suche Negri aber gerade den materialistischen Metaphysiker Spinoza stark zu machen und fasse dessen Ontologie, insofern sie Verhältnisse der Konstitution abbildet, als „Lehre von der Produktivität des Seins in einem ganz allgemeinen Sinne“ auf. (170) In Anlehnung an Deleuze sei die Ontologie für Negri somit eine Theorie der Immanenz, die sich um dynamische, variable und nicht-repräsentierbare Ausdrucksbeziehungen drehe. Saar stellt den Antagonismus von potentia und potestas als Vermögen und Gewalt bei Negri heraus und erklärt, wie dieser die potentia als Verknüpfungsinstanz der Vielheiten einsetzt und von hier aus zur potentia multitudinis als legitimer Grundlage des Staates kommt. Am Konzept der Multitude kritisiert Saar, dass die demokratische Selbstermächtigung der Menge bei Hardt und Negri letztlich zu harmonisch gedacht wird, während Spinoza in der Immanenz gerade die Unaufhebbarkeit antagonistischer Differenzen und Konflikte gesehen habe und eine politische Theorie entwerfen wollte, die dieser Voraussetzung gerecht wird. Negri wird als origineller Spinoza-Interpret gewürdigt, der die herausragende Bedeutung der Machtkonzeption erkannt habe, ihr eigentliches analytisches und kritisches Potenzial aber nicht zu nutzen wisse. Negri ist zwar einer der wichtigsten Autoren der aktuellen Diskussion Spinozas in der politischen Theorie, aber eben bei Weitem nicht der einzige. Zum Ende des zweiten Teils seines Buches zeigt Saar zahlreiche Spuren auf, die von Spinoza ausgehend in Kontexte der aktuellen politischen Theorie führen, z. B. zur Diskussion des Lebensbegriffs bei Foucault, Agamben, Deleuze und zu einer ganzen Reihe anderer Autorinnen und Autoren. Ein sehr fruchtbarer Effekt der ontologischen Perspektive, die sich im Ausgang Spinozas eröffnet, ist die Heuristik, die sich aus dem grundlegenden Blick auf Strukturen, Relationen und Operationen ergibt. Von der Ontologie ausgehend wird es möglich, Theoriefelder in ihren modellhaften Voraussetzungen zu sehen und zu kritisieren. Saar nutzt diesen heuristischen Effekt und nimmt die aktuellen Debatten immer wieder ordnend in den Blick.

III.

Die Begriffe „Imperium“, „Imaginatio“ und „Multitudo“ dienen Saar im dritten und abschließenden Teil seiner Arbeit dazu, die gesamte politische Theorie Spinozas noch einmal nach drei Richtungen zu ordnen und ihre Anschlussfähigkeit aufzuzeigen. Unter dem Stichwort „Imperium“ wird die Frage des Regierens in ihrem semantischen Feld dargestellt, um Spinozas sehr offene Fassung sowohl der Instanz als auch der Tätigkeit des Regierens zu verdeutlichen. Damit wird die allgemeine Theorie der Macht als potentia ebenso aufgerufen wie die Theorie der menschlichen Wirkungskräfte und Mechanismen. Als „metaphysischer Grundbegriff“ (226) ist die potentia nicht einfach auf Individuen zu übertragen, sondern vorerst als eine „ontologische Größe“ (ebd.) zu behandeln. Aus dieser Orientierung an einem naturgesetzlich bestimmten Ganzen ergibt sich die Dynamik des Politischen und so rekonstruiert Saar auch die spezifischere Frage der Regierung im Zusammenhang der naturalistischen Begründung. Diese Frage betrifft zudem die stoisch inspirierte, therapeutische Dimension der Ethik, insofern die Regierung des Individuums und der Menge durch sich selbst als ein praktisches Selbstverhältnis angesehen wird. Spinozas naturalistischer Ansatz macht das Regieren zur Frage der Natur des Menschen, und insofern diese Natur sich durch die Mechanismen der Macht und der Selbsterhaltung auszeichnet, untersteht sie einem Drang zur Freiheit und zur Selbständigkeit. Regieren heißt also für Spinoza, auf der Basis dieser Natur die Freiheit des Menschen und seine Sicherheit zu ermöglichen. Institutionen sind in diesem Sinne „verkörperte, auf Dauer gestellte Regierungsweisen“ (238), die der Handlungsfreiheit des Bürgers dienen und dabei Effekte erzeugen, die wiederum dem Staat als Ganzes nützen. Saar diskutiert auch Spinozas Vorschläge und historische Herleitungen der drei grundlegenden Regierungsformen der Demokratie, der Aristokratie sowie der Monarchie und zeigt an der Praxis der Regierung mögliche Vorläuferlemente der politischen Rationalität der Moderne auf.

Die naturalistische Grundlage der politischen Theorie Spinozas betrifft immer das menschliche Individuum, und von hier ausgehend kann auch die Frage nach den Affekten und der Imagination nicht ausgelassen werden. Unter dem Begriff der „Imaginatio“ behandelt Saar dementsprechend das emotionale und imaginäre Leben des Menschen als politische Psychologie. Seine Auffassung von „Anthropologie“ und „Psychologie“ scheint mir im vorliegenden Kontext allerdings zu sehr an der modernen Herausbildung des Vernunftsubjekts Mensch und der Abgrenzung seiner Innerlichkeit von der Außenwelt orientiert zu sein. Spinoza bietet doch gerade das Modell für einen komplexen, relationalen Begriff des Individuums, das sich in pragmatischen Kontexten variabel reflektiert, sich mikropolitisch organisiert und vor allem dadurch, dass es sich der Anthropologisierung und der Psychologisierung widersetzt, seine Macht entfalten kann. Mit der Ablehnung der Begriffe „Anthropologie“ und „Psychologie“ hätte gerade diese − für die aktuellen Debatten so interessante − vormoderne Absetzung von den epistemischen Wirklichkeiten und Standards der Wissenschaften vom Menschen markiert werden können.

Dass die Frage nach dem Menschen für Spinoza selbst wie auch für die Aktualisierungen seines Denkens zentral ist, liegt auf der Hand. Im Problem der Subjektivität kristallisiert sich alles: Moral und Ethik, Natur und Geschichte, Macht und Freiheit, Erkenntnis und Emotion. Vor allem aber ist das Politische vom Menschen aus anzugehen, sei es vom Einzelnen oder von der Menge her. Das war Spinozas Überzeugung, und deshalb eröffnet er seinen Tractatus politicus auch mit einer erneuten Rehabilitierung der Affekte. Er verurteilt die Philosophen, die die Affekte nur als selbstverschuldete Fehler ansehen und verdammen und die nicht begreifen, wie die menschliche Natur wirklich ist. Eine politische Theorie, die nicht auf „Utopia“ ausgerichtet ist, sondern sich auf das wirkliche Leben anwenden ließe, habe es nie gegeben, denn die Philosophen stellten sich die Menschen nicht vor, wie sie seien, sondern wie sie sie gerne hätten. Die natürlichen Grundlagen des Staates sind also aus der gemeinsamen Natur der Menschen und aus ihrem Sein als Modi einer unendlichen Substanz in einem Gesamtzusammenhang von Affektionen zu verstehen. Von ihren Affektionen her betrachtet bilden die Modi besondere, dynamisch-transitorische Formen von Substanz, und im Ganzen des Naturzusammenhangs stehend ist ein Modus nichts anderes als sein Vermögen, affiziert zu werden. Die Geschichte eines Modus ist also die Geschichte seiner Affektionen (vgl. Macherey 1995: 39). So ist auch die Geschichte eines Menschen eine Geschichte seiner Affektionen. Im Mittelpunkt der Lehre von den Affekten steht der Körper in seiner Einheit mit den Ideen, und diese emotional wie imaginär verfasste Einheit wird durch Affektionen in ihrer Macht gefördert oder gehemmt.

Saars Perspektive auf Spinozas ontologische Grundlegung der Körper in einem Feld horizontaler Verbindungen zielt darauf ab, plurale und kontingente Affektionswirkungen aufzuzeigen, die den Menschen auf mannigfache Weise beeinflussen und seine wesenhafte Veränderlichkeit zeigen. Affekte, so lässt sich allgemein formulieren, sind Empfindungen von Lust und Hingezogensein oder Unlust und Abgestoßensein durch etwas und als solche auch Stellungnahmen im Sinne der Bejahung oder der Verneinung, sie besitzen wertenden Gehalt insofern, als dass ich erkenne, ob ihr Korrelat gut oder schlecht für mich ist, Lust oder Unlust in mir hervorruft. Im Sinne eines zuständlichen Selbstverhältnisses sind Affekte also aktive und gerichtete Stellungnahmen und nicht einfach passive Reaktionen, wenngleich gerade im Falle der affizierbaren Menge schon Impulse reichen, um Reaktionen zu erzeugen. Im Sinne dieser Verschränkung von Affektdimensionen betrifft die Frage der Macht den Körper und die Ideen. Emotion und Imagination gehen miteinander einher und bilden die Grundlage der Affektivität als Macht der Erhaltung und der Steigerung des Selbst. Spinozas ontologische Konzeption macht deutlich, dass die Frage nach den Affekten eben nicht nur das Individuum betrifft, sie ist mitnichten allein eine individualpsychologische Angelegenheit, sondern vielmehr die Grundlage einer „politischen Psychologie“. Denn für Spinoza ist klar, dass alle Menschen, „ungebildet oder gebildet“, sich allenthalben zu „geselligem Umgang“ verbinden und „irgendeinen staatlichen Zustand herstellen“ (Spinoza 1994: 13). Und so ist weder das Handeln des Einzelnen noch das Handeln der Menge beschreibbar, ohne den Blick auf die Affektionen und die Affizierbarkeit der Körper zu richten.

Der Raum des Politischen wird hier nach Affektionsbeziehungen durchmessen, denn Affektionen sind nicht nur in einem positiven Sinne konstitutiv für politische Ordnung, sie können diese auch gefährden. Durch sie wird die Gliederung zwischen Einzelnen und Vielen überschritten und positive wie negative Kräfte freigesetzt. Deshalb besteht der kluge Umgang des Einzelnen mit diesen Beziehungen in der Kunst der Selbstführung, so wie der kluge Umgang der Menge mit diesen Beziehungen in der demokratischen Kunst der Regierung besteht. Die Unwahrscheinlichkeit der Stabilität von Ordnung wird hier besonders deutlich, und es eröffnet sich eine Perspektive auf die Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit und stabiler Ordnung des Einzelnen und der Menge. Für Spinoza ist Macht auch als Affektionsgeschehen eine unhintergehbare Bedingung des Naturzusammenhangs, die nicht aufgelöst, sondern nur besser oder schlechter, mehr oder weniger deutlich erkannt werden kann.

Die Kräfte, die das politische Feld bestimmen, kommen also allein aus diesem selbst, und damit wird die Macht in der Menge der politischen Individuen angesiedelt. Spinoza ist überzeugt, so Saar, „dass die Orientierung für das Handeln des Einzelnen aus ihm selbst kommen muss, dass staatliche Macht nur dann legitim ist, wenn sie die Macht derer bleibt, über die sie ausgeübt wird, und dass die Ziele kollektiven Handelns nur in der Gemeinschaft der Handelnden selbst gefunden werden können“ (9). Das politische Handeln des Einzelnen und der Menge wird verstehbar als ein Machtgeschehen in einem natürlichen Affektionszusammenhang von immanenter Kausalität. Regieren heißt damit, die aufeinander wirkenden Kräfte in ihren Wirkungsweisen umsichtig zu steuern und zu regulieren, sie zu institutionalisieren und mit den vorfindbaren Machtbeziehungen umzugehen. Die Macht der Natur und das Recht der Natur, an dem die Einzelnen teilhaben und auf dessen Basis sie sich zu Mengen mit spezifischen Vermögen verbinden können, wird so zum allgemeinen Grund für Politik. Macht steht im Zentrum der politischen Theorie Spinozas und wir haben es hier mit einem immanenztheoretisch begründeten Machtbegriff zu tun, der Demokratie als Macht der Menge ontologisch erklärbar macht. Aus der Vereinigung von Individuen ergeben sich für Spinoza die neuen Möglichkeiten einer „potentia multitudinis“ (Spinoza 1994: 29) zur Durchsetzung gemeinsam zu findender Regeln. Damit bildet die Macht der Vielen die Macht des Staates. Von Macht ausgehend sind also nicht nur Verhältnisse zwischen Individuen, sondern auch Zusammenschlüsse von Machthabern zu Mengen beschreibbar. Die „Macht der Menge“ zeigt sich in ihrem freien Zusammenschluss als eine Macht und ein Recht von anderer Ordnung. Die Menge ergibt durch die Natur ihrer Macht ein anderes Individuum, als jedes einzelne Individuum zu sein vermag. Saar identifiziert also mit Spinoza eine Macht der Menge, die gerade nicht auf Individuen zu reduzieren, sondern von ganz anderer Qualität ist.

Politik findet dort statt, wo Individuen aufeinandertreffen und sich in ihren Ansprüchen verständigen müssen und dieser Raum der Politik ist eine unbeständige und wechselhafte Größe, deren Steuerung höchst unwahrscheinlich ist. Fragt man, was die Individuen im Raum kollektiver Handlungszusammenhänge motiviert, so zeigt sich, dass schon Spinozas Ethik auf die Fähigkeit des Individuums zielt, äußere Affektionen im Inneren zu entfalten und sich selbst zur Quelle von Macht zu machen. Macht wird also mit der Möglichkeit des Menschen verbunden, der Positivität der Natur teilhaftig zu werden und sich selbst so weit wie möglich zur Ursache der Wirkungsverhältnisse zu machen, in denen er steht. Die Frage nach dem freien Leben des Einzelnen, wie die nach dem der Menge, wird hier nicht von normativen oder transzendenten Gesetzlichkeiten her beantwortet, sondern ausgehend von der Affizierbarkeit des Menschen und seinen daraus entstehenden Freiheitsspielräumen.

Will man die politische Philosophie Spinozas verstehen, so macht es Saar unmissverständlich deutlich, muss der durch das Gesamtwerk gegebene ontologische Rahmen sichtbar gemacht werden. Denn erst in der Verbindung von Spinozas Philosophie mit seinen Ausführungen zur Politik zeigt sich seine spezifische politische Ontologie. In ihrem Zentrum steht ein Begriff von Macht, durch den die Fragen des menschlichen Zusammenlebens, der Bildung von Institutionen und der gesamten politischen Ordnung strukturiert werden. Alles Handeln ist ein Machtgeschehen, und Macht ist die Grundlage der Konstitutionsprozesse, die sich im Feld der Körper ereignen – sie ist also ein Wirkungsverhältnis und nicht allein eine institutionalisierte Größe.

Spinoza wird heute als Vordenker einer politischen Philosophie gelesen, die sich von der pluralismusfeindlichen Tradition wesensphilosophischen und dualistischen Denkens zu befreien sucht und sich dem Leben als einem immanenten Zusammenhang von Kräften annähert. Diese politische Philosophie beruft sich auf eine Ontologie, mit deren Hilfe Fundierungen als prekär zu denken sind und die sich zur Verteidigung der mannigfaltigen und wandelbaren Wirklichkeit hybrider Entitäten eignet. Der Machtbegriff Spinozas begegnet uns in der hervorragenden Aufarbeitung durch Martin Saar nicht in ganz neuer Weise. Seiner immanenten Anlage nach und als Begriff einer allgemeinen Wirkfähigkeit von Kräften ist er uns bereits vertraut: zuerst durch Nietzsche und in der Folge durch Foucault und Deleuze. Die Arbeit von Saar zeigt nicht nur, dass die Spur Spinozas implizit schon seit einigen Jahrzehnten das politisch-philosophische Denken beherrscht. Sie macht vielmehr auch deutlich, dass es darum geht, wieder zu Spinoza zurückzukehren, und zwar nicht allein durch exegetische Analysen des historischen Textkorpus, sondern durch die bekannte deleuzianische Bewegung, die sein Denken über sich selbst hinaustreibt, indem sie ihm vorangeht und es für uns noch einmal neu hervorbringt. Denn, falls es tatsächlich eines Tages, wie Foucault meinte, ein deleuzianisches Jahrhundert geben sollte, wird auch dieses nicht ohne Spinoza zu verstehen und auch ein neues spinozianisches Jahrhundert sein.

Literatur

Balibar, Etienne. Spinoza: From Individuality to Transindividuality. Delft: 1997 (Mededelingen vanwege het Spinozahuis Nr. 71).

Deleuze, Gilles. Foucault. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1987.

Deleuze, Gilles. Kritik und Klinik. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000.

Hardt, Michael/Negri, Antonio. Multitude. Krieg und Demokratie im Zeitalter des Empire. Frankfurt am Main/New York: Campus, 2004.

Latour, Bruno. Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. (Paris 1991), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008.

Macherey, Pierre. Introduction à l´Ethique de Spinoza. La troisième partie. La vie affective. Paris: Presses Universitaires de France, 1995.

Macherey, Pierre. „Jedes Jahrhundert hat seinen eigenen Spinoza. Ein Gespräch mit Pierre Macherey“. In: Zeitschrift für Ideengeschichte. Heft V/1, Frühjahr 2011. Schwerpunkt: Spinoza. Marbach: 2011, S. 514.

Matheron, Alexandre. Individu et communauté chez Spinoza (1969), Paris: ²1988

Negri, Antonio. Die wilde Anomalie. Baruch Spinozas Entwurf einer freien Gesellschaft. Berlin: Wagenbach 1982.

Nietzsche, Friedrich. „Briefe Januar 1880 – Dezember 1884“. In: Giorgio Colli und Mazzino Montinari (Hrsg.): Nietzsche Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe, Bd. III. 1, [Nr. 135]. Berlin/New York: de Gruyter, 1981.

Spinoza, Baruch de. Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Neu übersetzt, herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Wolfgang Bartuschat. Hamburg: Meiner 2007.

Spinoza, Baruch de. Politischer Traktat. Neu übersetzt, herausgegeben, mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Wolfgang Bartuschat. Hamburg: Meiner 1994.

Spinoza, Baruch de. Theologisch-politischer Traktat. Neu übersetzt, herausgegeben, mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Wolfgang Bartuschat. Hamburg: Meiner 2012.

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