Artikel als PDF herunterladen

Kripke, Saul: Referenz und Existenz. Übersetzt von Uwe Voigt. Stuttgart: Reclam 2014. 236 Seiten. [978-3-15-010966-3]

Rezensiert von Sebastian Krebs (Universität Bamberg)

Saul Kripkes neuestes Buch ist weder neu noch, streng genommen, ein Buch. Stattdessen handelt es sich bei Referenz und Existenz um die von vielen seit langem herbeigesehnte Veröffentlichung der berühmten John-Locke-Lectures, die der wohl bedeutendste analytische Philosoph der Gegenwart 1973 in Oxford gehalten hat. Die sechs Vorlesungen wurden von Kripke nur minimal bearbeitet und um Kommentare ergänzt. Die deutsche Übersetzung von Uwe Voigt, die dieser Rezension zugrunde liegt, trifft äußerst wortgetreu den „Tonfall des Originals“ (223) und bietet dazu prägnante und hilfreiche Erläuterungen zur Übersetzung problematischer Fachtermini.

Kripke analysiert in Referenz und Existenz, was er als das „verwickeltet[ste] philosophisch[e] Rätsel“ bezeichnet: die „Verwendung von Namen, die sich auf nichts beziehen“ (14). Kripke geht dieses Rätsel an wie Sherlock Holmes einen Kriminalfall – und bleibt dabei der wohl konsequenteste Verfechter des „Kampfes gegen die Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache“, mit dem Wittgenstein (2003: §109) die Philosophie einst gleichsetzte.

Obwohl Kripke an ganz unterschiedlichen logisch-philosophischen ‚Kriminalfällen’ arbeitet, ist sein Gesamtwerk viel systematischer, als er selbst vermutlich eingestehen würde. Kripke ist in erster Linie Logiker. Seine Beiträge zur (Weiter-)Entwicklung der Modallogik sind die Voraussetzung dafür, dass Richard Rorty (1980) ihn charakterisiert als Neuentdecker eines aristotelischen Weltbilds, der die Rede von „metaphysischer Notwendigkeit“ wieder populär machte – gegenüber einer durch Kant vorgezeichneten, empiristisch-pragmatischen Denklinie, die in Russell und Quine ihren Höhepunkt fand. Naming and Necessity, 1970 ebenfalls zuerst als Vorlesungsreihe dargeboten, bietet die philosophische Rechtfertigung metaphysischer Notwendigkeit in der formalen Logik. In diesem Zusammenhang grenzt sich Kripke von der bis dato tradierten Kennzeichnungstheorie von Frege und Russell ab, um ein neues, ‚besseres‘ Bild von Referenz skizzieren.

Dies alles sollte man wissen, um Referenz und Existenz gewinnbringend zu lesen, denn Kripke widmet sich darin einem Problem seiner Referenzauffassung: dem Gegenstandsbezug von ‚leeren Namen‘ und, damit verbunden, die Frage nach der Existenz von Entitäten wie etwa Sherlock Holmes oder Einhörnern.

Kripke löst das Problem nicht – zumindest dann nicht, wenn ‚lösen‘ bedeutet, eine abgeschlossene Theorie zu entwickeln (vgl. Kripke 1980: 64). Stattdessen geht es Kripke darum, Unstimmigkeiten in den Auffassungen anderer Theoretiker, insbesondere von Frege und Russell, herauszustreichen und eigene, ‚bessere Bilder‘ (Kripke 1980: 193) zu skizzieren. Evidenzkriterium ist dabei stets die Intuition in Bezug auf die Alltagssprache. Anders als Holmes löst Kripke also keine Rätsel, sondern er analysiert sie – und das vielleicht im besten Wittgenstein’schen Sinne.

Vorlesung I: Existenz und bekannte Gegenstände bei Russell

Existenz ist für Kripke kein Prädikat zweiter Stufe, wie Russell und Frege in ihrer jeweils eigenen Terminologie behaupteten (17–18) und bereits Kant in seiner Widerlegung des ontologischen Gottesbeweises geltend macht. Kripke geht es aber nicht um göttliche Existenz, sondern um banale Einzeldinge: Er wählt das Beispiel eines fiktiven gelben Flecks namens Matilda. Gemäß Russell wäre es sinnlos zu fragen, ob Matilda existiert, da Existenz nur von Prädikaten, nicht aber von Individuen ausgesagt werden kann. Dieser abstrakten Auffassung hält Kripke die Alltagssprache entgegen, in der es durchaus sinnvoll ist, zu fragen, ob Matilda, Sherlock Holmes oder Moses existieren.

Dabei legt Kripke sein von ihm als bekannt vorausgesetztes, intuitives Bild der Referenz zu Grunde (vgl. Kripke 1980), das er John Stuart Mill zuschreibt und mit der er sich von der Russell’schen Kennzeichnungstheorie abgrenzt: Eigennamen sind ‚rigid designators‘, d.h. sie nehmen starr auf ihren jeweiligen Träger Bezug. Ein Name wie „Moses“ bezeichnet in allen möglichen Welten (d.h. in allen denkbaren Situationen) dieselbe Person – ganz egal, ob Moses das Volk Israel tatsächlich aus Ägypten geführt hat.

Allerdings stellen sowohl negative Existenzaussagen als auch ‚leere Namen’ diese Mill’sche Theorie vor ein Problem, wenn es den Bezugsgegenstand aktual gar nicht gibt oder seine Nicht-Existenz behauptet wird. Der Name „Moses“ im Satz „Moses existiert nicht“ läuft also genauso leer wie der Name „Sherlock Holmes“ im Satz „Sherlock Holmes wohnt in der Baker Street“. Um dieses Problem zu erhellen, hält Kripke fest:

Die Existenz von Fiktion ist ein starkes Argument für absolut gar nichts: Sie kann nicht den Streit zwischen der Russellschen Theorie und der Millschen Theorie […] entscheiden. (41)

In der ersten Vorlesung untergräbt er vor allem die Auffassung von Russell und Frege in Bezug auf fiktionale Charaktere. Gegen Russells Theorie der bekannten Gegenstände wendet Kripke Folgendes ein:

Die beiden Bedingungen, die sie für die Existenz jener Gegenstände erheben – zum einen Unbezweifelbarkeit, zum anderen die Wittgensteinsche Bedingung, dass sie notwendige Existenz besitzen –, sind miteinander nicht zu vereinbaren. (33)

Ein realer gelber Fleck (oder das Sinnesdatum desselben), den Kripke „Aloysius“ tauft, würde beispielsweise für Russell das Kriterium der Unbezweifelbarkeit erfüllen, aber gewiss nicht notwendig existieren.

Vorlesung II: Sherlock Holmes und das einhörnige Scheinhorn

Noch am Ende der ersten Vorlesung führt Kripke das „das Als-ob-Prinzip“ [„The Pretense Principle“] ein (42-49), das er zu Beginn der zweiten Vorlesung wie folgt zusammenfasst:

[D]ie Arten von Namen, die in fiktionaler Rede vorkommen, [sind] sozusagen „Als-ob-Namen“ […], Teil des Als-ob [pretense] der Fiktion. Die Propositionen, in denen sie vorkommen, sind eher Als-ob-Propositionen als echte Propositionen; […] Die Sätze tun eher so, als ob sie eine Proposition ausdrücken, als dass sie dies wirklich täten. (50)

Auf dieser Basis kritisiert Kripke die Kennzeichnungstheorie, vor allem in Bezug auf negative Existenzaussagen wie „Moses existiert nicht“ und ihre modalen Eigenschaften (56ff). „Es hätte der Fall sein können, dass Moses nicht existiert hätte“ und „es ist möglich, dass es nicht eine einzige Person gab, die die Israeliten aus Ägypten herausführte“ müssten gemäß der Kennzeichnungstheorie identisch sein (da die Lesart in großer Reichweite [scope] bei negativen Existenzaussagen widersprüchlich ist). Dies weist Kripke aber (zu Recht) zurück und setzt seine Mill’sche Auffassung dagegen, die Philosophen „berechtigt, Existenz Individuen dazuzuschreiben“ (60). Kripke will die formale Logik also wieder um ein Existenzprädikat E(x) ergänzen, vor dem Russell, Frege und Kant (59, Fn. 6) gewarnt hatten, weil nach deren Theorien Existenz kein gewöhnliches Prädikat sei.

Kripke gibt Russell dabei sogar Recht, dass „es nicht der Fall hätte sein können, dass ‚etwas‘ nicht existiert“ (62), was nur Kripkes Tendenz zu einem metaphysischen Aktualismus unterstreicht, demzufolge keine Dinge existieren, die es nicht gibt. Jedoch wirft Kripke Russell eine Verwechslung vor zwischen ⧠(x) E(x) und (x)⧠ E(x), wobei Kripke die zweite These „alles besitzt notwendige Existenz“ als kontraintuitiv ablehnt. Es ist ja, wie Kripke richtig erkannt hat, eine Situation vorstellbar, in der Moses gar nicht geboren worden wäre.

Diese modale Argumentation wendet Kripke nun auf einen „Als-ob-Namen“ an, indem er verneint, dass Sherlock Holmes existiert haben könnte (66) und damit einen Fehler in Kripke (1963) eingesteht. Zwar könnte sich herausstellen, dass wir uns getäuscht haben und Sherlock Holmes gar kein fiktiver, sondern ein wirklicher Charakter ist. Aber gemäß der Argumentation aus Naming and Necessity wäre dies eine Frage der Erkenntnistheorie, nicht der Metaphysik. Hier wird Kripkes ‚aristotelischer Essentialismus‘ ganz deutlich, denn man könnte durchaus sagen, dass es eine notwendige Eigenschaft von Sherlock Holmes ist, nur ein Als-ob zu sein, d.h. nicht wirklich zu existieren.

Schließlich weitet Kripke diesen Ansatz auf „natürliche Arten“ aus, deren Benennung nicht so verschieden ist von Eigennamen für Einzeldinge (vgl. Kripke 1981): Auch fiktive Arten wie Einhörner oder Drachen hätten laut Kripke nicht existieren können, ihre Bezeichnungen sind ebenso nur Als-ob-Termini wie „Sherlock Holmes“.

Doch wann ist ein fiktives Tier ein Einhorn? Wie ein Einhorn auszusehen genügt nicht, es sollte auch ein Einhorn sein, d.h. alle Einhörner müssen dieselbe ,innere Struktur‘ haben (75). Während es bei einem Tiger jedoch halbwegs naheliegt, nach der inneren Struktur (d.h. seinen essentiellen Eigenschaften) zu fragen, bleibt die innere Struktur eines Einhorns äußerst rätselhaft. Schon in Naming and Necessity listet Kripke lediglich ein paar (mal mehr, mal weniger intuitive) Beispiele für die essentiellen Eigenschaften von wirklichen natürlichen Arten auf, kann jedoch kein allgemeines Kriterium für deren Bestimmung angeben. Wenngleich Kripke durchaus überzeugend darlegt, warum ein ,Scheinhorn‘ (d.h. ein Tier, das aussieht wie ein weißes Pferd und genau ein Horn hat) kein Einhorn sein muss und ,echte‘ Einhörner stattdessen durchaus auch zwei Hörner haben könnten, wäre es doch ganz interessant zu wissen, wie genau er ein ,echtes‘ Einhorn identifizieren würde. Selbstverständlich gehören solche Fragen aber in die Erkenntnistheorie und nicht in die Metaphysik – und stellen daher kein grundsätzliches Problem für Kripkes Ansatz dar.

Vorlesung III: Kripkes Ontologie der Alltagssprache

Vor allem die dritte Vorlesung macht Kripkes eingangs erwähnte Anknüpfung an alltagssprachliche Intuitionen deutlich:

Sie haben nun eine ungefähre Vorstellung von der Art von Ontologie, die ich für eine direkte Analyse unserer alltäglichen Rede im Sinn habe. Dies soll nicht besagen, dass eine sogenannte wissenschaftliche Sprache diese Entitäten notwendigerweise einschließen muss. […] [I]ch glaube, dass wir bei einer möglichst direkten Rekonstruktion unserer alltäglichen Rede auf diese Art von Ontologie verwiesen sind. (112)

In der erst später eingefügten Fußnote (112, Fn. 16) kritisiert er explizit Quine für seine wissenschaftliche Sprache, die mit alltäglicher Rede nur wenig zu tun habe. Diese alltagssprachliche Ausrichtung scheint aus heutiger Sicht nicht sonderlich bemerkenswert, jedoch muss Referenz und Existenz auch in seinem historischen Rahmen gewürdigt werden – 1973 waren derartige Verweise auf Intuitionen in Bezug auf die Alltagssprache noch immer ein ungeheurer Frontalangriff gegen die von Russells und Quines Doktrinen durch und durch geprägte analytische Philosophie der Zeit.

Doch wie genau sieht Kripkes alltagssprachliche Ontologie fiktionaler Charaktere aus? Er rückt sich selbst nahe an den österreichischen Philosophen Alexius Meinong, der eine äußerst komplexe ‚Schattenreich-Ontologie‘ vertritt, in der fiktionale Charaktere wie etwa Sherlock Holmes und Einhörner wirklich existieren. Kripke zitiert Douglas Lackeys Verteidigung von Meinong äußerst zustimmend:

Russell [schien] für gewöhnlich ein Apostel des gesunden Menschenverstands zu sein, während Meinong ein wüster Ontologisierer zu sein schien, der Entitäten nach Belieben hypostasierte. Doch Meinongs Theorie besagt, dass „Pegasus ist ein fliegendes Pferd“ wahr ist, während Russell sagt, dass diese Behauptung falsch ist. Jeder normale Mensch […] würde wahrscheinlich Meinong zustimmen. (84, siehe Russell 1973: 19)

Ein Schüler, der in einer Klausur antwortet, dass Pegasus kein fliegendes Pferd sei, und dies mit Russells Ontologie begründet, erhalte zu Recht eine schlechte Note (vgl. 86ff.). Doch ist Kripkes Ansatz deutlich intuitiver als die komplexe Schattenreich-Ontologie von Meinong:

Meine Auffassung lautet daher, dass die Umgangssprache über einen Bereich von fiktiven oder mythischen Entitäten quantifiziert. Sie existieren nicht von selbst; d.h.: Sie sind nicht meinongianisch in dem Sinne, dass alles in irgendeinem zweitklassigen Sinn existiert, was auch immer Gegenstand des Denkens ist. (106)

Vielleicht sollte man mit Kripke lieber sagen, dass fiktive Charaktere genau deshalb in der Welt existieren, weil fiktive Geschichten ebendas von ihnen behaupten und Menschen sich sprachlich auf solche Charaktere beziehen. Dies entweder (wie Russell) wegdiskutieren oder (wie Meinong) als bizarre Schattenreichexistenz deuten zu wollen, verursacht philosophische Scheinprobleme. Zwar beantwortet Kripke die zentrale Frage, worin die Existenz fiktiver Charaktere genau besteht, sehr uneindeutig und eröffnet damit einen großen Interpretationsspielraum hinsichtlich der genauen Ausprägung seiner von der Alltagssprache abhängigen Ontologie. Wie gesagt geht es ihm aber mehr um eine philosophische Rechtfertigung seiner formalen Logik als um die Begründung irgendeines ontologischen Systems. Kripke sagt daher lediglich, dass Menschen sinnvolle Aussagen von und über fiktionale Charaktere treffen können – und Wittgenstein würde ganz richtig ergänzen: „wenn dadurch keine Probleme erzeugt werden, so ist es harmlos“ (2003: §693).

Vorlesung IV: Zwei Varianten der Prädikation

In der vierten Vorlesung präzisiert Kripke seine Ontologie zumindest ein wenig und hält fest, dass Prädikate sich „auf zweifache Weise“ (121) auf fiktive Gestalten beziehen können. Die Frage „Wann wurde Frankensteins Monster erschaffen?“ kann sich sowohl auf die Zeit beziehen, in der der Roman spielt, als auch auf die Zeit, in der der Roman geschrieben wurde. Im ersten Fall ist das Prädikat mit dem vorangestellten Qualifikator „fiktional“ zu lesen; im zweiten „durch und durch“ (ebd.).

Interessant ist diese Unterscheidung vor allem, weil Kripke sie auf erkenntnistheoretische Probleme zur Wahrnehmung überträgt und dafür argumentiert, dass auch dort Prädikate auf zwei verschiedene Weisen verwendet werden können. Er bezieht sich auf eine von Moore losgetretene und vor allem zwischen Ayer und Austin heftig geführte Debatte (122ff., vgl. Austin 1962): Wenn ich durch das Teleskop einen Stern sehe, sehe ich einen weißen Punkt am Horizont. Dennoch kann ich nicht einfach sagen, dass der Stern ein weißer Punkt ist. Kripke löst diese Debatte wie folgt:

Die Analogie besteht jedoch wie im Fall der von uns zuvor erörterten Dichtung darin, dass man zwei Typen von Prädikation haben kann, nämlich den absoluten Sinn sowie eine rein visuelle Zuschreibung zum Gegenstand, analog zur Prädikation gemäß der Geschichte. (138)

Ähnlich sieht Kripkes Lösung von Beispielen wie „Josefine sieht Gespenster“ aus: Auch hier gibt es eine Variante der ,Durch-und-durch-Prädikation‘ (wenn ich mich auf echte Gespenster beziehen will) und eine ,halluzinierte Prädikation‘, wenn ich ausdrücken möchte, dass Josefine einen visuellen Eindruck von etwas hat, das wie Gespenster aussieht (143). Viele dieser und ähnlicher Überlegungen (insbesondere den hier nicht erwähnten ‚Spielzeugenten-Trugschluss‘) präzisierte Kripke 2008 in einem Vortrag, der mit dem Titel „Unrestricted Exportation and Some Morals for the Philosophy of Language“ (in Kripke 2011) veröffentlicht wurde.

Vorlesung V: Semantische Referenz und Sprecherreferenz

Kripke schiebt in der fünften Vorlesung ein ‚neues‘ Thema ein, das mit dem übergreifenden Thema von Referenz und Existenz eher am Rande zu tun hat: Seine Analyse von referenterieller und attributiver Verwendung bei Donnellan (1966), die er durch seine Unterscheidung von ‚semantischer Referenz‘ und (pragmatischer) ‚Sprecherreferenz‘ präzisieren will.

Statt sich aber mit der fünften Locke-Vorlesung auseinanderzusetzen, sollte man lieber gleich Kripkes späteren Aufsatz „Speaker’s Reference and Semantic Reference“ (in Kripke 2011) lesen: Darin sind sämtliche Beispiele, Argumente und Positionen viel eingängiger analysiert als im hier zu rezensierenden Werk. Daher kann man die fünfte Vorlesung guten Gewissens überspringen, wenn man nicht gerade ein historisch-genetisches Interesse an Kripkes Philosophie hat.

Vorlesung VI: Negative Existenzaussagen als ungelöstes Problem

Während die sechste Vorlesung mit einer weiteren Präzisierung des „Exkurses“ zu semantischer Referenz beginnt (186–201), kommt sie endlich doch noch beim „abschließende[n] Problem der negativen Existenzaussagen“ (202) an. Dieses Problem, das ursprünglich vor allem für Einzeldinge, z.B. Moses oder Sherlock Holmes, geltend gemacht wurde, weitet Kripke (als erster Philosoph überhaupt) auch auf die Leerheit von Prädikaten aus:

Ebenso wie es keine bestimmte Person Sherlock Holmes gibt, der Nichtexistenz zugeschrieben wird, gibt es keine bestimmte Eigenschaft, nämlich diejenige, ein Einhorn zu sein, von der in der Aussage „Es gibt keine Einhörner“ behauptet wird, dass sie eine leere Extension hat. (201)

Zunächst hält Kripke fest, dass negative Existenzaussagen mit echten Namen (also z.B. „Napoleon hat in Wirklichkeit nicht existiert“) kein Problem für seinen Ansatz darstellen, da dabei einem rigid designator lediglich das Prädikat der Existenz abgesprochen würde (203–204). Deshalb konzentriert sich Kripke nur auf leere Namen und leere Prädikate. Neben der Russell’schen Theorie, die Kripke „ein für alle Mal abgetan“ (202, Fn. 9) hat, macht er dann zwei Vorschläge dafür, was man mit einer Aussage wie „Es gibt keine Einhörner“ meinen könnte: Erstens könnte man einfach „das Instrumentarium für fiktive Gestalten […] verwenden“ (205), welches Kripke in den ersten Vorlesungen entwickelt hat. Jedoch ist er „sehr argwöhnisch gegenüber einer Auffassung, der zufolge das Bestreiten von Existenz ‚fiktiv‘ oder ‚nicht real‘ bedeutet“ (208): Die Aussage „Angenommen, Moses hätte nicht existiert“ bedeutet nämlich nicht „Angenommen, Moses wäre bloß eine fiktive Gestalt“. Außerdem „haben wir es nicht nur mit fiktiven Gestalten zu tun, sondern auch mit fiktiven fiktiven Gestalten“, also Gestalten, die innerhalb der Fiktion nur Fiktion sind, wie etwa Gonzago aus dem Stück „Die Ermordung des Gonzago“, das eine Fiktion in Shakespeares Drama Hamlet darstellt (209).

Zweitens könnte man die Negation einer Existenzaussage metasprachlich analysieren (vgl. 211–215), doch hier stört sich Kripke an der damit verbundenen Annahme, „dass sich eine metasprachliche Analyse in einer gewöhnlichen Aussage versteckt“ (215).

Deshalb hält Kripke in für ihn typischer Manier fest: „Für mich wirkt [eine negative Existenzaussage mit einem fiktiven Namen] wie ein echtes und ungelöstes Problem – vielleicht das schwierigste auf diesem Gebiet“ (215). Es verwundert daher kaum, dass Kripke seinen Kriminalfall gegen Ende der Vorlesungsreihe nicht löst, sondern lieber unterschiedliche Beispiele in Bezug auf Einhörner, Geißelpralle, den Weihnachtsmann etc. analysiert – und das Publikum mit dem wunderschönen (weil wahren) Satz entlässt: „Was auch immer die wahre Theorie hierzu sein mag, sie wird nicht die Einfachheit besitzen, die man im voraus erwartete.“ (221)

Fazit

Referenz und Existenz war zweifelsohne schon ein philosophischer Klassiker, bevor es überhaupt veröffentlicht wurde. Jeder, der sich ernsthaft mit analytischer Philosophie beschäftigen will, wird nicht um dieses Buch herumkommen. Viele der darin vorgestellten Thesen, Positionen und Argumente sind aus heutiger Sicht selbstverständlich nicht neu – und Kripkes alltagssprachliche Analyse von Fiktionalität ist inzwischen durch viele Theoretiker so kanonisiert worden, dass man die genuine Leistung Kripkes kaum mehr richtig würdigen kann.

Doch obwohl auch die BBC-Serie „Sherlock“ durchaus zu gefallen weiß, kann sie mit der originären Genialität der Geschichten von Conan Doyle nur bedingt mithalten. Das gleiche könnte man über alle Fort- und Weiterentwicklungen der Locke-Vorlesungen sagen, die sich Kripkes Durchbrechung der kantianisch geprägten Dogmen der frühen analytischen Philosophie zunutze machen. Dank Kripke war es der analytischen Philosophie überhaupt erst möglich, mit der Russell’schen Kennzeichnungstheorie und der Quine’schen Metaphysikskepsis abzuschließen, Existenz als gewöhnliches Prädikat in die formale Logik zu integrieren und damit echte analytische Metaphysik zu betreiben, die sich wieder mit dem Seienden qua Seiendes beschäftigt. Mit der Veröffentlichung von Referenz und Existenz ist dieser zentrale Teil der originären Genialität von Kripkes Philosophie nun erstmals für die Wissenschaftsgemeinschaft zugänglich.

Kripke analysiert philosophische ‚Kriminalfälle‘ darin so brillant wie kaum einer vor ihm – und wer seine durchaus überzeugenden Grundannahmen (etwa ‚rigid designation‘, metaphysische Notwendigkeit, seine Mögliche-Welten-Semantik und sein intuitives Evidenzkriterium) teilt, wird ihm kaum Fehler in der Argumentation nachweisen können, sondern höchstens an seiner beinahe schon methodischen Theorieskepsis (ver)zweifeln. Überzeugte Anhänger von Russell, Quine oder sogar von Kant werden Referenz und Existenz dagegen wohl als pure, gegen ihre philosophischen Grundfesten gerichtete Provokation empfinden. Denn Kripkes intuitive Kriminalphilosophie zeigt nicht nur, warum sich das Rätsel so leicht nicht lösen lässt, sondern auch, warum die Fährte, die die großen Detektive der Vergangenheit verfolgt haben, so gänzlich falsch ist.

Literatur

Austin, John. Sense and Sensibilia. Oxford: Clarendon Press 1962.

Donnellan, Keith. „Reference and Definite Description.“ Philosophical Review 75 (1966), 281–304.

Kripke, Saul. „Semantical Considerations on Modal Logic.“ Acta Philosophica Fennica 16 (1963), 83–94.

Kripke, Saul. Naming and Necessity. 1980. Cambridge, MA: Harvard University Press 1980.

Kripke, Saul. Philosophical Troubles. Collected Papers. Oxford: Oxford University Press 2011.

Rorty Richard. „Kripke versus Kant.“ London Review of Books 17.2 (1980), 4–5.

Russell, Bertrand. Essays in Analysis. Hg. von Douglas Lackey. London: George Allen & Unwin 1973.

Wittgenstein, Ludwig. Philosophische Untersuchungen. Neu hg. von Joachim Schulte. Frankfurt: Suhrkamp 2003.

© 2015 Zeitschrift für philosophische Literatur, lizenziert unter CC-BY-ND-3.0-DE