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Zeitschrift für philosophische Literatur 3. 1 (2015), 60–68

Von der pragmatischen Unmöglichkeit eines reinen Pragmatismus

Lachs, John: Stoic Pragmatism. Bloomington/Indianapolis: Indiana Univ. Press 2012. 204 Seiten [ISBN 0253223768]

Rezensiert von Guido Karl Tamponi (Universität Potsdam)

In seinem Beitrag zum Sammelband „Die Gegenwart des Pragmatismus“ diagnostiziert Philip Kitcher mit Blick auf die Entwicklung, die der Pragmatismus von seinen Formulierungen durch Peirce, James und vor allem Dewey an im 20. Jahrhundert eingeschlagen hat, eine ironische, ja tragische Wendung: Als „pragmatische Herausforderung“ (Kitcher 2013: 60) für Philosophie und Geisteswissenschaften mit dem Ziel gestartet, diese an das alltägliche Leben zu binden, landete er nach der Übernahme des akademischen Ruders durch den Positivismus in der philosophiewissenschaftlichen Vitrine, zu einem weiteren Objekt innerakademischer „Forschung“ herauspräpariert. Ausgeblieben ist die auf die Fundamente der Gesellschaft abzielende „Reconstruction“ (Dewey), vorerst wird (bestenfalls) nur mehr über sie gesprochen – und manchmal gar auch nur über diejenigen, die über sie sprechen.

Wäre es unfair und falsch, würde man suggerieren, dass es sich bei einer solchen Entwicklung, bei der die Kinder und Kindeskinder die Revolution gefressen haben, um einen Sonderweg der Philosophie handelt, so wäre es gleichermaßen unfair und falsch zu suggerieren, ein solcher Parentizid sei von allen unwidersprochen hingenommen worden. Als ein Beispiel für ein Rebellen- und Freidenkertum gegenüber dem philosophischen Mainstream und dem akademischen Habitus überhaupt können John Lachs und dessen hier zur Besprechung vorliegendes „Stoic Pragmatism“ dienen. Der Inhaber der Centennial-Professur für Philosophie an der Vanderbilt Universität in Nashville (TN), der 1934 in Ungarn geboren wurde, bereits früh mit seinen Eltern in die USA emigrierte und 1997 mit dem Herbert Schneider Award für sein Lebenswerk für die amerikanische Philosophie ausgezeichnet wurde, führt dazu in diesem Spätwerk die zahlreichen Fäden seines philosophischen Schaffens zusammen, um sie unter dem titelgebenden Begriff vom stoischen Pragmatismus als einer Lebens- und Weltanschauung zu systematisieren und mit diesem Beitrag an das klassisch-pragmatische Vorhaben wieder anzuschließen, die akademische Philosophie im guten Sinne „less academic“ (189) werden zu lassen. In diesem Sinne auf einen auch außerakademischen Adressatenkreis zielend, zeichnet Lachs im ersten Kapitel („What Can Philosophy Do to Make Life Better?“) einen Kurzabriss der Philosophiegeschichte hin zum Pragmatismus. Den Kerngedanken, diesen um Elemente des Stoizismus zu erweitern, entwickelt er im zweiten Kapitel („Stoic Pragmatism“), um in den beiden folgenden („Infinite Obligations“ und „An Ontology for Stoic Pragmatism“) George Santayanas „animal faith“ als argumentatives Mittel hierfür herauszuarbeiten. Da dieses ein besonderes Augenmerk auf die Rückgebundenheit an das philosophierende Individuum legt, lässt Lachs das Buch mit einem Epilog („The Personal Value and Social Usefulness of Philosophy“) ausklingen, in dem er auf autobiographische Weise seine Position motiviert.

Endet der zu Beginn zitierte Aufsatz Kitchers allein mit dem Aufruf, zur „Weggabelung“ zwischen Pragmatismus und Positivismus zurückzukehren, um „diesmal der pragmatischen Fährte“ (Kitcher 2012: 61) zu folgen, geht es also bei Lachs nicht nur um ein einfaches Zurück, sondern darum, den Pragmatismus zu reformulieren. Ziel ist die Harmonisierung von zwei scheinbar geradezu antagonistischen und sich gegenseitig verunmöglichenden Momenten: der Bestrebung des Pragmatismus einerseits und dessen zentraler Überzeugung, „that human intelligence can make a vast difference in how well we live“ (40), und andererseits der vom Stoizismus propagierten Einsicht in das Unveränderbare und die damit einhergehende Restriktion der praktischen Perspektive auf eine Kultivierung des Selbst und die Fähigkeit zur Akzeptanz angesichts seines Fatums: „the task of mastering themselves, the heart of which consists of accepting what comes their way“ (46). Doch nur in Symbiose ergeben diese beiden Extreme des Glaubens an die Veränderbarkeit und der Einsicht in die Notwendigkeit von Akzeptanz für Lachs ein realistisches wie gesundes Ganzes.

Dass die Verabsolutierung der stoischen Perspektive mit ihrer selbstregulierenden Fügung unter die äußeren Umstände zu einer unnötigen Passivität gegenüber der Wirklichkeit führt, ist für den Autor kaum der Rede wert, weil mühelos durch den Blick in die Geschichte und die dort realisierten Möglichkeiten zivilisatorischer Projekte zu belegen. Auch ist die Trennung zwischen innerem Selbst und äußeren Umständen keineswegs so strikt, dass sie gänzlich voneinander separiert werden könnten: „life demands that we breathe, find food, and sleep in safe places“ (45). Auch gerade in Bezug auf die Selbstsorge kann sich der Stoiker des praktischen Eingreifens in seine Lebenswelt nicht entledigen, denn „[i]n abandoning the struggle for control of at least some parts of the external world, we leave ourselves powerless to defend even our internal autonomy“ (45). Entscheidender ist für Lachs dagegen die Kritik am Pragmatismus, der als ein von Möglichkeiten getragenes Denken und mit seinem primären Augenmerk auf die Zukunft leicht in Gefahr gerät, einen unstillbaren Glauben an Verbesserung, ein Ethos des Nimmersatts zu entwickeln, und das Gute nicht mehr in einem gegenwärtigen Zustand, sondern allein noch in dessen melioristischer Überwindung, in einem endlosen „growth“ erkennen kann (vgl. 42ff.). Ganz abgesehen davon, dass dieses Modell rein logisch ignoriert, dass zur Verbesserung mindestens die Mittel, die in Anspruch genommen werden, aus dem, was verbessert wird, heraus- und hingenommen werden müssen (vgl. 50), kann es als seinen Protagonisten nicht den Menschen in seiner gesamten Lebensspanne und Natürlichkeit meinen. Büßt er doch im Alter an Kraft und Energie ein, wird in seinen Möglichkeiten immer mehr beschränkt und am Ende vom Tod überwältigt: Diese Szene der Ohnmacht des Menschen ist das Paradebeispiel für Lachs’ Konzept des stoischen Pragmatismus (vgl. 52f.).

Ob diese palliative Kritik an einem vermeintlich allein am kurativen Tatendrang interessierten klassischen Pragmatismus diesem und seinen Vertretern gerecht wird, kann hier nicht diskutiert werden. Lachs selbst erwähnt eher beiläufig Deweys Konzept der „consummatory experience“ (s. 39f.), Erfahrungen also, die selbstzweckhaft genossen werden, ohne selbst wiederum hintersinnig als Mittel für Neues zu dienen, und diskutiert auch James’ Eintreten für „moral holidays“ (s. 95ff.) ausführlicher. Doch in beiden Konzepten sieht er kaum mehr als Konzeptualisierungen eines eher unwilligen Zugeständnisses an die Einsicht in die Unmöglichkeit, den Menschen von der Wiege bis zur Bahre zum Dienst an der moralischen wie gesellschaftlichen Verbesserung zu verpflichten (vgl. 40). Entscheidend kann im Folgenden nur die pragmatische Frage sein, ob denn die Position plausibel ist, die Lachs, wenn auch vielleicht nur vermeintlich im Kontrast zum klassischen Pragmatismus, einführt.

Im Zentrum der stoischen Erweiterung steht für den Autor George Santayanas Argumentationsfigur des „animal faith“, wie dieser sie in „Scepticism and Animal Faith“ (1923) entwickelt hat und wo er aufzeigt, dass ein konsequenter Skeptizismus zwar möglich ist, aber nur um den Preis des Versandens in der reinen Bewusstseinsimmanenz, in einem „solipsism of the present moment“. Im Beschreiten dieser Sackgasse, die alles außerhalb eines Hier-und-Jetzt-Bewusstseins preisgibt, steckt gleichzeitig die Therapie in Form der Umkehrung: „It points to the irrelevance of wholesale skeptical doubt and the artificiality of the standard on which it rests.“ (64) Statt nun in das ebenso rigorose Gegenteil eines Dogmatismus umzukippen, geht Santayana – und mit ihm Lachs – den Weg zu einer „sensible and honest philosophy“ (65) mittels einer Explikation der „beliefs“, die in der Praxis als Quelle des Alltags als die gesichertsten gelten müssen, derer der Mensch habhaft werden kann. Ihnen Widersprechendes zu behaupten, wäre unglaubwürdig, da gemessen an unserer Praxis irreal (vgl. 78). Deklassiert der von Hegel vererbte Weitlinsenfokus des pragmatischen Meliorismus, der sich in Hinblick auf Kollektive wie „scientific community“ oder gar Menschheit definiert, den Tod, das Tragische oder das sonstwie Unrelativierbare im Leben des Einzelnen als vernachlässigbare Marginalie, will Lachs genau diese Elemente der Wirklichkeit wieder in den Fokus rücken. Seine Methode setzt hierzu basal und animalisch an der Existenz des Einzelorganismus und seinen grundsätzlichsten Bedürfnissen an, noch vor jedweder ideeller Anstellung im gesamtgesellschaftlichen Großbetrieb. Auf dieser „materiellen“ Ebene besteht Leben vor allem im Überleben, in „embodied activities of animals trying to survive in a treacherous environment” (65). Ohne dessen kreatürliche Abhängigkeit („ontological“, „ultimate dependence“) zu leugnen, wird als Grundpfeiler das Individuum als irreduzible biologische Organisations- und Handlungseinheit („operational independence“) ausgemacht: „The human race is fragmented into individuals. Each is an agent entrusted with taking care of itself and endowed by nature with the tools to do so.” (130, vgl. auch 127ff.)

Hieraus ergeben sich für Lachs weitere Grundanschauungen, destruktive wie konstruktive. So kritisiert er vor allem am Kognitions- und Sprachprimat des linguistic turn und seinen Nachlassverwaltern – ausgeführt am „Cognitive Pragmatism“ von Nicholas Rescher (61ff.) –, dass diese sich am Begrifflichen und an Vernunftgründen orientierenden Strömungen nicht nur die Existenz der „nonverbal nonintellectuals who constitute the bulk of humankind“ (184f.) übergehen, sondern noch grundsätzlicher den unausgeleuchteten und dennoch weit umfassenderen Kontinent von „arational forces“ (71) im Lebensvollzug der Menschen ignorieren und diese als „intelligent beings“ (66) definieren. Ein voreiliger Schluss, den er sowohl in der „dominance of language“ (66) in unserer Kommunikationsgesellschaft generell, aber auch in der blinden Generalisierung der „isolated academic realm“ (68) begründet sieht, in der Worte und Sprache die Leitwährung bilden und zu einer Überintellektualisierung der „processes of ordinary life“ (68) verführen. Darin wird nicht nur übersehen, dass „[t]he choice of what we do, the skill of doing it, and the expected consequences are rarely if ever verbal” (68), sondern auch, dass das menschliche Treiben weniger einem Wechsel von Gründen entspricht als einem Kampf um Selbstbehauptung (vgl. 71f.).

Weiterhin will Lachs durch Betonung der biologischen Individualität und Diversität ein Gesellschaftsmodell eröffnen, das sich aus der Leibeigenschaft von einem höchsten Gut emanzipiert, welches meist von einer finanziell oder geistig besonders exponierten Schicht diktiert wird und nach dem sich alle zu richten haben, wollen sie nicht als Depravierte deklassiert werden (vgl. 70). Spätestens dies und sein anti-aristokratisches Bekenntnis – „I simply cannot take claims about aristocracy of any sort seriously“ (193) – machen deutlich, dass es sich bei dem „Santayana“, den er als methodisches Gravitationszentrum des Buchs veranschlagt, keineswegs um den historischen Santayana handelt, hatte dieser doch ein konsequent aristokratisches Weltbild, an dessen Spitze die philosophische Lebensweise der Kontemplation, des „living in the eternal“, thront. Zurück bleibt, wie schon beim relativ unqualifizierten Pragmatismus-Begriff, der kaum mehr meint, als „that thought is not an end in itself and that knowledge presupposes purposes“ (186), ein kaum wiederzuerkennender, von allen elitaristischen Ansprüchen entkleideter, plebejischer Santayana, der allein zur Beschreibung der „world as it exists“ (174) dient.

Lachs wendet seinen von jeder inhaltlichen Norm unbeaufsichtigten „generous pluralism“ (124), teilweise an neoliberale Rhetorik erinnernd, gegen die „social welfare“, die den Entfaltungswillen des Individuums nicht stärkt, sondern in Paternalismus erstickt und damit einen Angriff auf die Pluralität bedeutet (vgl. 121). Sein Plädoyer lautet, den anderen in Ruhe zu lassen, nicht „in cold unconcern“, sondern aus „caring“ heraus, fest im Glauben verankert, dass jeder, wenn nicht „emergencies“ ein Eingreifen notwendig machen, für sich selber weiß oder herausfinden muss, was gut für ihn ist: „All we need to do is stay out of their way.“ (121) Dies gilt auch für die Beziehungen der Individuen zueinander, die vor ihrem eigenen „human flourishing“ (129) fliehen, indem sie sich zuvorderst in die Lebensentwürfe anderer einzumischen meinen müssen („meddling“ – 128), statt zu erkennen, wie irrelevant der fremde, andersartige Lebensvollzug für den eigenen ist. Der Befriedungsvorschlag für die „Culture Wars“ zwischen konservativen und progressiven Kräften in der amerikanischen Gegenwart lautet für Lachs damit nicht weniger, sondern mehr Selbstbezogenheit (vgl. 127). Dass aber freilich gerade die Ausprägung der Individualität bedeuten kann, Überzeugungen kollektiver Tragweite zu bilden, indem man in sich zwischen Akzidentellem und Substantiellen zu scheiden lernt, verschweigt Lachs und bezieht sich in seinen Beispielen nur allzu oft auf die Bereiche des privaten Geschmacks („improvement of taste“ – 111) und liefert damit ironischerweise Anschauungsmaterial für seine eigene Kritik: „Philosophy suffers from an impoverished selection of examples.“ (75) Diese Betonung „herzlicher“ Indifferenz scheint auch in einem merkwürdigen Kontrast zur anfänglichen Aufforderung an die Philosophen zu stehen, sich gerade außerakademisch zu betätigen und die Gesellschaft mit ihrer Sicht zu bereichern – was er für sich selbst ebenso in Anspruch nimmt: „[…] conveying to others the benefits I receive from philosophy […]“ (189). Darüber hinaus wäre ketzerisch zu fragen, ob nicht gerade ein solcher Pluralismus eher ein elitäreres Projekt ist als ein Monismus, der dem natürlichen Chauvinismus der einzelnen Gesellschaftsmilieus mehr entspräche.

Indem Lachs im Menschen nicht nur den alten Adam erkennt, sondern diesen auch bewusst unter Artenschutz stellen will, erfährt er eine weitere Entlastung: vom moralischen Universalismus und seinen hyperreflexiven und -moralischen „infinite obligations“, die für Lachs Schattenwürfe in Stein gemeißelter Gebote monotheistischer Gotteskonzeptionen sind. Statt diese „disturbing presence of the Absolute“ (103) in seinen stoischen Pragmatismus zu importieren, verabsolutiert er umgekehrt die Endlichkeit zu dem Fundament, zu der „architecture of life“ (56) und lässt damit die Vision einer paradiesisch konstruierten Zukunft hinter sich – eine Gegenwelt zur Gegenwart, welche diese erst als ungenügend erscheinen lässt. Die vorgefundene Gegenwart kann so für Lachs auch wieder in ihrer ästhetischen Selbstzweckhaftigkeit in den Blick genommen und genossen werden, als unmittelbare „absorption in the moment“ (37): „These are the moments when everything feels right, when silence flowers and the wounded soul is healed.“ (38)

Das wohl kontroversere Resultat dieser Lossagung vom Absoluten ist aber die vom moralischen Universalismus zugunsten einer Relativierung der Moral, in der die Forderungen allein an Nahbeziehungen gebunden werden (vgl. 113). Auch die moralische „blindness“ gegenüber der Perspektive des Anderen und der Welt als Ganzer, die William James einst beklagte, wird bei Lachs zu einem Schutzwall, der uns „from being overwhelmed by reality“ (95) bewahrt und damit überhaupt erst zu existieren erlaubt. Das moralische Credo, das er einer Pflichtenethik entgegenhält, lautet: „good enough“! Ab wann jedoch etwas als gut genug gelten kann, überlässt er dem Urteilsvermögen des Einzelnen, der am besten seine Umstände und Befähigungen für Änderungen und Besserungen einschätzen kann: „there is no algorithm to determine when all holidays must be put on hold“ (106).

Der Rückfall des Einzelnen auf sein eigenes Urteilsvermögen, von dem er sich in solch einem individualistischen Paradigma gerade nicht entlasten kann, führt bei Lachs von den Entlastungen zu den Verantwortungen. Mit seiner Position, die allein dem Individuum Handlungskraft zuspricht, attackiert er die Ansicht, es gäbe überindividuelle Akteure wie Institutionen, was für ihn nichts anderes ist als ein bequemer Weg, die eigene Verantwortung zu fliehen (vgl. 130). An Stellen wie diesen wird deutlich, dass das ganze Unterfangen, statt sich auf den Pragmatismus zu beziehen, genauso als ein zwar nicht cartesianischer, aber naturalistischer Existenzialismus deklariert werden kann (vgl. 89, 133 und 152).

An diesem Grenzübergang zur Verantwortung des Einzelnen zeigt sich das entscheidende Problem des gesamten Ansatzes von Lachs. Denn wie kann er, nachdem er das Individuum derart zum Zentrum seiner eigenen Welt gemacht und es von einem allgemeingültigen Horizont losgelöst hat, noch an jemanden jenseits seiner selbst irgendeine Forderung richten und ihn nicht ausschließlich seiner eigenen Urteilskraft überlassen? Denn dass er keineswegs als Urteils-, ja Verurteilungsabstinenzler durchgehen kann, zeigen die Kritiken an Universität und Akademikern, die sich durch das Werk ziehen. In einer durchaus sympathischen Unzufriedenheit mit dem Zustand von Lehre und Forschung an der Universität als einer globalen Gated Community scheint er das außerakademische Jenseits, die „ordinary people“, solidarisch („I see myself as no different from them [ordinary people]“ – 193) in Schutz zu nehmen, denn sie – genauer: nur sie – wissen, was sie tun, und tun es in einem ausreichenden Verhältnis zu ihren Kapazitäten („many others do all they can“ – 114). Die Folge: Eine naiv eindeutige Aufteilung der Menschen in diejenigen, die man kritisieren kann, weil diese in einem produktiven oder (wie hier) defizitären Spannungsverhältnis von Können und Sein stehen, während der andere Menschentypus immer schon für ihn adäquat, dem bon sauvage gleich lebt. Die von Lachs selber geschilderte Brutalität und Ungerechtigkeit, die weite Teile der Geschichte und Gegenwart ausmachen (z.B. 127), blieben somit unerklärlich, wenn man wie er gleichzeitig annähme, die Menschen wüssten wie ein Hund instinktiv „what is good for them and often attain it“ (120), wenn nur die Einzelnen und keine abstrakte Struktur dafür angeklagt werden kann. Entscheidender aber: Entweder übt man Kritik, weil es gemeinsame, am kritisierten Zustand gemessen höherwertige und damit eine Aristokratie implizierende Standpunkte gibt, von denen her eben nicht sämtliche Individuen als gleichwertig anerkannt werden können, weil sie der Wahrheit (noch) nicht teilhaftig, sondern verblendet sind. Oder aber man überführt die libertäre These der „legitimacy of a plurality of goods […] each centered in a feeling agent“ (121) tatsächlich konsequent in einen monadischen Anarchismus, bei dem jeder jeden walten lässt und Kritik einzig noch als monologische Selbstkritik ein Dasein fristen darf. Die aporetische Unstimmigkeit ergibt sich daraus, dass Lachs’ Kompass in beide Richtungen zeigt.

Ein weiteres Vorurteil neben diesem gnostischen Dualismus von Lob und Tadel, Licht und Schatten erwächst aus seiner grundsätzlichen Perspektive: die einer biologischen Mittelschicht, in der das Drama von Armut, verzehrender Krankheit oder äußerster politischer Bedrohung auf ein Minimum, auf die Peripherie der eigenen Existenz, räumlich wie zeitlich, beschränkt ist. Statt Tragik und Elend des Menschen wirklich ins Auge zu schauen, was implizierte, die Perspektive der zahlreichen humanen Worst-Case-Szenarien nicht nur aus der Distanz – kaum mehr als verbal – zuzugestehen, sondern aus diesen heraus die Potentialitätsspanne menschlicher Existenz zu entfalten, vertritt Lachs ein „Bürgertum“ und dessen vermeintliche Normalität, das sich vor allem gegen die moralische Überforderung durch das Hilfe einklagende Opfer zur Wehr setzen will und ein Recht auf eigene Existenz unabhängig von den Exzessen der Inhumanität beansprucht. So kommt es immer wieder zum nietzscheanischen Entlarvungsversuch des moralischen Universalismus als „devoted to keeping others miserable through failure or guilt-ridden for lack of trying“ (113). Gerade in Hinblick auf die von ihm selbst attestierte Freiheitsflucht wären schon aus Klugheitsgründen eher „infinite obligations“ als Hintergrund geeignet, ein authentisches „good enough“ zu erwirken, das nicht nur eine moralische Frühpension kaschiert – unendliche Forderungen, die keineswegs automatisch suggerieren müssten, wie Lachs eher karikierend-polemisch behauptet, der Einzelne könne alles erreichen („can accomplish anything“, 114). Es kommt ihm durch diese protektionistische Perspektive ebensowenig in den Sinn, dass vielleicht gerade diese unendlichen Forderungen keine sklavenmoralische Verschwörung gegen die von der Natur Begünstigten sind, sondern die einzig adäquate Übersetzung des unendlichen, i.S. des letztlich nicht kompensierbaren Leids und der Ungerechtigkeit. Und dass ein Abwenden hiervon eben nur aus der Perspektive seines Klientels, das sich überhaupt abwenden kann, während der übrige Teil die Gewalt ertragen muss, als Befreiung und Gewinn in den Blick kommt, obwohl es aus der Gesamtperspektive der Wirklichkeit vor allem eins ist: Grausamkeit gegenüber der Grausamkeit, ein Weghören davon, was sie uns als Mensch im Allgemeinem wie den nicht direkt Betroffenen im Speziellen zu sagen hat. Diese den kontingenterweise zugefallenen Wohlstand (im weitesten Sinne) transzendierende, umfassende Perspektive wäre allein des Anspruchs würdig, den Lachs selber an den Philosophen heranträgt: „to look into the abyss“ (188).

Doch auch hier scheinen zwei Herzen in seiner Brust zu schlagen, wenn er sich und uns selbstkritisch in Anbetracht der Gräuel des 20. Jahrhunderts die jede existentielle Saturiertheit aufs Spiel setzende Frage stellt: „Would I, would we, be able to rise to the occasion, on every occasion of possible help, and even at great personal cost treat human beings humanely?“ (142) Die unerbittliche Forderung und Betroffenheit durch den sich auftuenden äußersten Abgrund, der dennoch konstitutiver Teil menschlicher Realität ist, scheint hier ihr legitimes Recht einzuklagen. Man könnte diese Stelle moralisch-radikaler Selbstinfragestellung als einen unerklärlichen Fremdkörper in einem Buch, das als Hymne der Endlichkeit auftritt, interpretatorisch abstoßen. Ebenso aber könnte man dem Autor positiv zusprechen, er hätte an einer Stelle wie dieser die perspektivische Verengung seines stoischen Pragmatismus und seines beschwichtigenden Gelassenheits-Lobbyismus auf eine Schicht, die es sich für einen bestimmten Abschnitt der Welt und Weltgeschichte meint leisten zu können, durchschimmern lassen. Nichts wäre stoischer von ihm.

Literatur

Kitcher, Philip. „Der andere Weg“. In: Hartmann/Liptow/Willaschek (Hrsg.): Die Gegenwart des Pragmatismus. Berlin: Suhrkamp 2013, S. 35–61.

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