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Zürcher, Tobias: Legitimation von Strafe. Die expressiv-kommunikative Straftheorie zur moralischen Rechtfertigung von Strafe. Tübingen: Mohr Siebeck 2014. 201 Seiten. [978-3-16-153182-8]

Im Februar 2014 schlug der deutsche Justizminister in einem Zeitungsinterview eine Reform des Mordparagraphen des Deutschen Strafgesetzbuches (§ 211 StGB) mit der Begründung vor, dass neben der veralteten Sprache eine täterbezogene Straftatbestandsbeschreibung nicht dem tatbezogenen StGB entspreche. Ein Jahr später, im Zuge des Terroranschlags auf das Redaktionsbüro der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ in Paris, wird wieder über eine Reform des Europäischen Strafrechts diskutiert, insbesondere über Fragen nach der Vorratsdatenspeicherung. Ebenso steht im Zuge dieser Ereignisse das Verbot der Bekenntnisbeschimpfung (§ 166 StGB) zur Debatte. Derartige Reformvorschläge des Strafrechts bringen immer auch die generelle Frage mit sich, ob und inwiefern staatliches Strafen überhaupt legitimiert werden kann.

Diesem Unterfangen hat sich Tobias Zürcher in seiner Arbeit Legitimation von Strafe gewidmet. In seiner Dissertation unternimmt Zürcher nach einer Einleitung in fünf Kapiteln das Projekt, staatliches Strafen als nach moralphilosophischen Standards legitim zu erweisen. Dazu motiviert er im ersten Kapitel, dass es sich bei der Frage nach der Legitimation von Strafe um ein genuin moralphilosophisches Problem handelt. Zudem klärt er das Verhältnis von Recht, Moralphilosophie und Strafe weiter auf, um dann im zweiten Kapitel die gängigen Hauptpositionen in der Strafbegründung, Konsequentialismus und Retributivismus, vorzustellen. Diese Diskussion dient neben der Zurückweisung beider Hauptansätze dazu, Kriterien zu entwickeln, denen jede Strafrechtfertigung Zürcher zufolge genügen muss. Sein eigenes Legitimationsvorhaben beginnt im dritten Kapitel, in welchem er auf der Grundlage des Ansatzes reaktiver Einstellungen Peter F. Strawsons eine allgemeine Theorie des Vorwerfens und der Zuschreibung von Verantwortung entwickelt. In diesem Zusammenhang setzt sich Zürcher auch mit der Willensfreiheitsthematik und dem Phänomen des moral luck auseinander. Anschließend geht er im vierten Kapitel zur eigentlichen Legitimation staatlichen Strafens auf Grundlage seiner Theorie des Vorwurfs über. Darin vertritt er eine expressivistische Theorie, die Strafen selbst als Ausdruck von Missbilligung versteht. Im fünften und letzten Kapitel wird dann knapp zum einen eine mögliche Grenze des Ansatzes in Bezug auf das sogenannte Feindstrafrecht diskutiert und zum anderen ein Ausblick auf Reformen der Strafpraxis in Bezug auf die Strafform gegeben.

I. Konsequentialismus und Retributivismus

Zürcher ordnet im ersten Kapitel die Rechtfertigungsfrage staatlichen Strafens der Ethik als philosophischer Disziplin über die Moral zu. Qua philosophischer Disziplin behandelt die Ethik die Strafpraxis mit genuin philosophischen Mitteln der Argumentation und Begriffsanalyse, so dass die Frage aufgeworfen wird, welchen Status eine moralphilosophische Rechtfertigung der rechtlichen Praxis des Strafens hat. Zürcher bezieht klar Stellung zur Frage nach dem Verhältnis zwischen Recht und Moralphilosophie: „Was im Recht positiviert ist, ist nicht notwendig auch richtig oder gerecht (obwohl es das oftmals ist). Anders formuliert: Das Recht legitimiert sich nicht selbst.“ (9) Zürcher verteidigt das Projekt der Strafrechtfertigung gegen drei Einwände mit dem Hinweis darauf, dass staatliches Strafen eine Übelzufügung ist, die per se gerechtfertigt werden muss. Methodisch ordnet Zürcher in einem bottom-up-Ansatz eine Phänomenbeschreibung der Rechtfertigung vor und beansprucht, eine monistische Rechtfertigung liefern zu können, die nur Bezug auf einen Wert nimmt. Pluralistische Theorien würden entweder in monistische kollabieren, sobald Hierarchisierungsangebote gemacht würden, oder aber ohnehin übersehen, dass Multiperspektivität nicht ausschließt, dass für bestimmte Rechtfertigungsgegenstände monistisch argumentiert würde. Als Arbeitsdefinition der Strafe vertritt Zürcher diejenige Antony Duffs, die bestimmt wird als das Auferlegen eines Übels durch eine Autorität gegenüber einem angenommenen Täter für eine in der Vergangenheit begangene Tat (32f). Das zweite Kapitel handelt dann die beiden Grundpositionen der Straftheorie in ihren verschiedenen Varianten ab. Zweck dieses Kapitels soll zum einen sein, diese Theorien als unzureichend zurückzuweisen, zum anderen jedoch, daraus Kriterien für eine Strafrechtfertigung im Allgemeinen zu entwickeln. Worin genau bestehen nun die Grundpositionen der Straftheorie?

Dem Konsequentialismus zufolge muss die Legitimation des Strafens über den Wert erfolgen, den die Konsequenzen des Strafens haben. Dabei fungiert als dieser Wert der Nutzen für eine Gemeinschaft. Konsequentialistische Theorien zeichnen sich durch vier Elemente aus: erstens den Bezug auf die Handlungsfolgen für die moralische Bewertung, zweitens den Nutzen als Wertmaßstab der Folgen, drittens das Glück bzw. die Interessen als semantische Füllung des Nutzenbegriffs und viertens einen Universalismus, der das Glück aller Betroffenen betrachtet und nicht nur das Glück des jeweils Handelnden. Für eine konsequentialistische Rechtfertigung der Strafe müssen nun die Folgen des Strafens als dem allgemeinen Nutzen dienlich ausgewiesen werden. Dabei fungiert die Vorbeugung zukünftiger Straftaten als Ausbuchstabierung des Nutzens:

Prävention kann dann überzeugend als Nutzen verstanden werden, wenn wir Straftaten als schädigend, verletzend, Schmerzen bereitend etc. verstehen. Prävention ist also kein direktes Gut; aber eines, das den basalen konsequentialistischen Gütern sehr nahe kommt (40).

Wenn demnach eine Straftat Schaden verursacht und das Strafen Straftaten verhindert, befördert die Strafe indirekt den Nutzen, da sie Schaden verringert. Zürcher führt zunächst interne Kritik an, die sich insbesondere auf das Problem der Nutzenbemessung staatlichen Strafens bezieht. Da die Bemessbarkeit der Folgen notwendige Bedingung für eine Rechtfertigung des Strafens ist, steht und fällt letztere mit der ersteren. Zürcher resümiert, dass die Probleme der Bemessbarkeit so gravierend sind, dass eine konsequentialistische Rechtfertigung letztlich scheitern muss. Ein weiteres begriffliches Problem des Utilitarismus bestehe darin, dass er die Rückbezüglichkeit der Strafe auf ein begangenes Delikt nicht einfangen kann (46). Letztlich scheitere die Konzeption jedoch an einem moralischen Problem, und zwar dem der Instrumentalisierung des Täters.

Die Ablehnung einer solchen Instrumentalisierung des Menschen ist der Kern der zweiten moralphilosophischen Grundposition: des Retributivismus. Nach einer Darstellung der kantischen Straftheorie geht Zürcher dazu über, das Element des Verdienstes zu erläutern, das sich aus dem Gerechtigkeitsprinzip ergibt, dem Strafe dient. Verdienst soll die rechtfertigende Relation zwischen Delikt und Strafe herstellen und Zürcher zufolge gemeinsames Merkmal aller retributivistischer Theorien sein (60). „R [Verdienst; T.M.] gibt also an, dass aufgrund von D [Delikt; T.M.] jemand S [Strafe; T.M.] verdient.“ (60) Somit ergebe sich ein formales Kriterium, das nun inhaltlich gefüllt werden müsse. Drei verschiedene retributivistische Theorien werden im Anschluss diskutiert, die über jeweils alternative Bedeutungsbestimmungen von ‚Verdienst‘ bestimmt werden. Dabei handelt es sich um (i) Verdienst als Wiedervergeltung (gemäß Talion), (ii) Strafe als intrinsisches Gut und (iii) um eine Güter-Lasten-Theorie. Die vierte retributivistische Theorie, die Zürcher diskutiert und die sich nicht als Auslegung des Verdienstes verstehen lässt, besagt, dass Strafe deshalb gerechtfertigt ist, weil sie die Normordnung stabilisiert, die durch ein Delikt verletzt wurde. Diesem Ansatz zufolge sollten die Normen, die eine Gesellschaft sich zur Ermöglichung der Freiheit eines jeden Einzelnen gibt, von jedem Einzelnen als solche akzeptiert werden. Das Strafrecht besteht gerade darin, solche freiheitsverwirklichenden Rechte zu schützen. Werden diese dennoch verletzt, ist Strafe die adäquate Reaktion der Normordnung. Die Geltung des Normensystems muss im Falle nicht-normkonformen Handelns aufrechterhalten werden. Dies geschieht durch die Strafe. Ein theoretisches Problem dieser Theorie besteht nach Zürcher darin, dass sie metaphysisch zu viele Beweislasten mit sich bringe, da die Rede vom Recht als Recht, das durch die Tat zugleich verletzt würde, eine Entität einführe, deren Existenz fragwürdig sei, die aber zugleich die rechtfertigende Rolle übernehme. Außerdem führe diese „Verdinglichung“ (74) des Rechts dazu, dass Reformen des Strafrechts schwer zu begründen seien.

Als Ergebnis der Diskussion der klassischen Positionen ergeben sich zwei Annahmen, denen Zürchers Theorie gerecht werden sollte. Einerseits hält Zürcher die Grundannahme, dass Strafe qua Übelzufügung etwas Schlechtes und damit Rechtfertigungsbedürftiges ist, für eine zentrale Einsicht utilitaristischer Theorien. Aus der Diskussion der retributivistischen Theorien nimmt er andererseits als Maßstab für Straftheorien die Forderung mit, dass eine solche den zu Bestrafenden als Subjekt, das eine Würde besitzt, ernst zu nehmen habe.

II. Die expressive Straftheorie Zürchers

Das dritte und vierte Kapitel enthalten nun Zürchers eigene expressive Straftheorie. In seiner Argumentation geht er in zwei Schritten vor, die den beiden Kapiteln entsprechen. Im dritten Kapitel entwickelt er im Ausgang von Peter Strawsons Theorie der reaktiven Einstellungen eine Theorie des Vorwerfens, die Grundlage einer jeden Moralphilosophie und damit a fortiori auch einer Straftheorie sein soll. Erst im vierten Kapitel wird diese dann auf den Bereich der Strafe angewandt.

Im Anschluss an die Beobachtungen Strawsons aus dessen klassischem Aufsatz „Freedom and Resentment“ (1962) geht Zürcher im dritten Kapitel davon aus, dass einer adäquaten Moralbegründung eine Beschreibung der Moralpraxis voranzugehen hat. Strawsons Darstellung der reaktiven Einstellungen stelle genau eine solche dar. Danach drückt sich in Einstellungen wie denen der Empörung als Reaktion auf normabweichendes Verhalten anderer, aber auch Lob und Tadel, eine moralische Haltung aus. Zentral dafür sei der Begriff der Verantwortung und derjenige der verantwortlichen Person. Wenn wir im Alltag auf das Handeln einer anderen Person mit Empörung reagieren oder diese gar tadeln, dann unterstellen wir, dass es an dieser Person selbst gelegen habe, dass sie sich so verhalten hat, wie sie es getan hat. Wir halten sie für ihr Verhalten verantwortlich und nur deshalb reagieren wir überhaupt mit Empörung, was wir etwa bei einem Unwetter nicht tun würden. Wir schreiben der Person Verantwortung für ihre Handlung zu, indem wir mit reaktiven Einstellungen auf ihre Handlungen reagieren. Zürcher resümiert knapp, „dass moralische Verantwortung eine durch eine soziale Norm gerechtfertigte Zuschreibung von Verantwortung darstellt.“ (85). Damit verstehe er unter moralischer Verantwortung das, was in der englischen Literatur mit dem Ausdruck accountability bezeichnet wird. Personen wiederum sind Träger moralischer Verantwortung, die auf die genannten reaktiven Einstellungen selbst wieder reagieren, indem sie beispielsweise Entschuldigungen für ihr Verhalten anzuführen versuchen. Sie sind moralische Akteure, die eine gewisse Reife aufwiesen und ihr eigenes Handeln sowohl kausal-deskriptiv als auch evaluativ einschätzen können. Außerdem sind sie in der Lage, aufgrund ihrer Absichten, Überzeugungen und Abschätzungen der weiteren Folgen ihres Tuns zu handeln. Sie besitzen also „neben der kognitiven Einsichtsfähigkeit eine Handlungs- bzw. Kontrollfähigkeit“ (86). Insbesondere negative reaktive Einstellungen des Vorwurfs werden dann eingenommen, wenn sich jemand uns gegenüber mit üblem Willen verhalten hat. Die reaktive Einstellung ist in diesem Fall „Ausdruck unserer Erwartung auf Rücksichtnahme und Berücksichtigung unserer Interessen, die vom Gegenüber verletzt worden sind. Diese basale Rücksichtsforderung („basic demand“) ist also der Maßstab dafür, zu entscheiden, ob jemand den hinreichenden Grad an gutem Willen gezeigt hat und bestimmt die Ausprägung der reaktiven Einstellung. Unser Übelnehmen ist die standardmäßige Reaktion auf eine Missachtung der basalen Rücksichtsforderung.“ (96) Soweit die Grundidee.

Im vierten Kapitel wird dieser Ansatz nun angewandt auf staatliches Strafen. Dieses solle dann gerechtfertigt sein, wenn sich zeigen lässt, dass die Strafe als reaktive Einstellung verstanden werden kann und zugleich adäquater Ausdruck der Missbilligung ist. Daher nimmt Zürcher die Missbilligung als weitere notwendige Bedingung mit in die Strafdefinition auf (129). Der Ausdruck „expressiv“ fungiert dabei zur Kennzeichnung all jener Straftheorien, die „den Ausdruck von Missbilligung, das Vorwerfen oder den kommunikativen Charakter von Strafe in den Mittelpunkt stellen“ (127). Da, wie Zürcher im dritten Kapitel argumentiert hat, im Falle der Verletzung der basalen Rücksichtsforderung in Form reaktiver Einstellungen ein Vorwurf erfolgen muss, wäre staatliches Strafen dann gerechtfertigt, wenn die Strafe selbst auch als ein solcher Vorwurf verstanden werden kann. Um dies nachzuweisen, unterscheidet Zürcher zunächst einen deskriptiven von einem normativen Expressivismus. In Anlehnung an Feinberg bestehe der deskriptive Expressivismus in der Beobachtung, dass Strafe wesentlich einen Symbolcharakter aufweise. Die Strafe ist symbolischer Ausdruck von Missbilligung als Reaktion auf einen Normverstoß. Jedoch ist diese Beschreibung noch nicht hinreichend dafür, staatliches Strafen auch zu rechtfertigen. Insbesondere in Hinblick auf den Charakter der Strafe als „harte Behandlung“ ließe sich nämlich dann immer noch fragen, weshalb nicht das bloße Aussprechen einer Missbilligung ausreichen könnte. Dem normativen Expressivismus entsprechend muss die Strafe zudem ein angemessenes Mittel sein, die Missbilligung auszurücken. Die Angemessenheit wiederum hängt mit der Forderung zusammen, dass die Strafe generell von dem Bestraften als solche verstehbar sein muss. Diese Forderung verweist auf den kommunikativen Charakter der Theorie, der darin besteht, dass die Strafe als dem Delikt angemessene Form des Vorwurfs verstanden werden muss und dass der Bestrafte darauf reagieren können muss, sei es in Form von Entschuldigungen oder Rechtfertigungen oder in Form der Besserung. Die kommunikative Komponente dient der im zweiten Kapitel entwickelten Forderung, dass der Bestrafte als Teilnehmer der moralischen Gemeinschaft ernst zu nehmen sei.

Staatliches Strafen lasse sich nun Zürcher zufolge in der Tat verstehen als eine stellvertretende reaktive Einstellung. „Mit der strafrechtlichen Verurteilung wird ein Mensch öffentlich dafür moralisch kritisiert, eine bestimmte Handlung getan zu haben.“ (133) Der Vorwurf gegenüber dem Täter besteht darin, „gegen das staatliche Regelwerk verstoßen zu haben.“ (137) Moralisch legitimiert ist der Vorwurf dadurch, dass der Täter durch seine Handlung üblen Willen gegenüber einem anderen Mitmenschen gezeigt hat. Da die Akteure, die die Strafe ausführen, selbst von der Straftat nicht betroffen sind, also nur an Stelle des Opfers agieren, handelt es sich bei der staatlichen Strafe um eine stellvertretende reaktive Einstellung. Da eine Gelingensbedingung für gerechtfertigtes Strafen die Verstehbarkeit der Strafe als Ausdruck von Missbilligung ist, führt Zürcher anhand der Sprechakttheorie Austins und Searles den Unterschied zwischen illokutionärem (= das, was man durch eine Äußerung tut) und perlokutionärem (= das, was aus dieser Äußerung folgt) Aspekt eines Sprechaktes ein. Das Aussprechen des Strafurteils durch einen Richter oder eine Richterin könne man dann als den illokutionären, den Strafvollzug selbst als den perlokutionären Aspekt des Strafens betrachten. Strafende Handlungen, in der gegenwärtigen Bundesrepublik sind das Freiheits- und Geldstrafen, drücken demnach die benannte Missbilligung aus. Wie der Sprechakttheorie entsprechend bestimmte sprachliche Äußerungen Handlungen sind, da man durch sie etwas tut, so kann man strafendes Handeln, das teilweise aus nicht-sprachlichem Handeln besteht, umgekehrt auch als eine besondere Art der sprachlichen Kommunikation verstehen: „So wird auch die harte Behandlung, oder genauer, das natürlich Sichtbare am Prozess des Bestrafens zu einer Art Sprache, nämlich zu einer performativen, die soziale Realität erschafft.“ (153)

Welche Formen von Strafe welchen Formen von Delikten angemessen sind, ist selbst konventional ausgehandelt, wobei Zürcher Wert darauf legt, die Konventionalität nicht als Beliebigkeit zu verstehen. Konventionen seien relativ stabile Grundüberzeugungen von Gesellschaften und könnten sich nicht einfach und in kurzer Zeit ändern (154). Auf diese muss auch letztlich Bezug genommen werden, wenn die Frage aufkommt, weshalb Strafe überhaupt in Form harter Behandlung stattzufinden habe, wenn sie doch lediglich Ausdruck des Vorwurfs sein soll. Diese Frage betrifft die Angemessenheit der harten Behandlung, die lediglich instrumentellen Charakter aufweise: „nicht diese selbst muss dem Delikt angemessen sein, sondern die Missbilligung, zu der die harte Behandlung gehört.“ (130) Da die Rechtfertigungsbedürftigkeit der Strafe gerade aufgrund ihres Charakters als Übel besteht, wie Zürcher zu Beginn ausgeführt hatte, steht und fällt mit der Angemessenheit der harten Behandlung ihre Rechtfertigung. „Warum nicht mit Blumen?“, so der an Thomas Scanlon orientierte prägnant und bildlich formulierte Generaleinwand gegen die expressiv-kommunikative Straftheorie.

Im Ergebnis argumentiert Zürcher gegen diesen Einwand mit dem Hinweis darauf, dass die Härte der Strafe letztlich davon abhängt, wie angemessen eine Gesellschaft diese als Ausdruck der Missbilligung für die jeweilige Tat ansieht. Daher wäre der Verweis auf eine Gesellschaft, die mit Blumen bestraft, irreführend, da das Überreichen von Blumen in dieser alternativen Gesellschaft eine andere Bedeutung haben würde und ebenso als harte Behandlung erfahren werden könnte. Weiter offen bleibt damit die Frage nach einem positiven Argument für die Angemessenheit der Strafe als harter Behandlung. Diese muss Zürchers Ansatz zufolge proportional zum begangenen Delikt sein, um als adäquate Reaktion auf dieses verstanden werden zu können. Dabei bestimmt Zürcher diese Proportionalität lediglich relativ und formal derart, „dass die Missbilligung für ein schwereres Delikt stärker ist als jene für ein weniger schweres“ (166). Somit drücke sich in unserer tatsächlichen Strafpraxis implizit unsere Zustimmung zur Angemessenheit der Härte der Strafe aus und gerade dann, wenn uns diese Angemessenheit nicht mehr einsichtig ist, werden Reformbestrebungen lebhaft.

III. Kritik

Im Folgenden sollen drei kritische Nachfragen formuliert werden. Im dritten Kapitel entwickelt Zürcher in Anschluss an Strawson eine Theorie des Vorwerfens. Diese stützt sich auf die Theorie reaktiver Einstellungen. Da aber der Verweis auf eine Praxis zunächst lediglich eine Faktizität konstatiert, benötigt man für eine normative Argumentation ebenso normative Annahmen. Dessen ist sich Zürcher natürlich bewusst, und so schreibt er:

Der reactive attitudes-Ansatz ist also mehr als nur eine Beschreibung des menschlichen Wesens. Er ist (zumindest implizit) normativ, indem er die Praxis des Lobens und Tadelns, des Wertschätzens und Übelnehmens zu einer Lebensform erklärt, die wertvoll ist und der menschlichen Interaktion eine Reichhaltigkeit und Würde verleiht, die durch rein theoretische Überlegungen nicht unterminiert werden sollte. (106)

Hier ließe sich erstens fragen, wie diese Normativität eigentlich selbst begründet werden könnte. Mit Strawsons’ Ansatz scheint dies schwierig zu sein, da man als Teilnehmer einer solchen Praxis diese selbst nicht längere Zeit rein objektiv aus der Beobachterperspektive betrachten kann. Wie lässt sich aber, die Normativität dieser Praxis vorausgesetzt, ‚richtig‘ und ‚falsch‘ der in dieser Praxis eingenommenen Einstellungen selbst bestimmen? Aus der Tatsache, dass unsere Praxis des Lobens und Tadelns für unser Personsein konstitutiv ist, folgt zumindest noch nicht, wann beispielsweise ein Tadel gerechtfertigt ist. Für Einstellungen wie Empörung oder Verachtung werden durchaus Gründe angegeben. Dass also faktisch so reagiert wird, ist noch nicht hinreichend dafür, dass diese Reaktion auch gerechtfertigt ist. Und für gewöhnlich ist gerade die Reflexion auf solche Gründe erst Teil der Rechtfertigung dieser Praxis.

Ein zweiter Kritikpunkt ist die Frage, ob die expressive Theorie nicht letztlich ein Retributivismus in anderem Gewand ist. Dies lässt sich zumindest folgender Aussage Zürchers entnehmen: „Die Strafe ist an ein Mitglied der moralischen Gemeinschaft gerichtet, das durch seine Tat einen teilweisen Verzicht auf unseren guten Willen verdient hat.“ (136) Demnach baut die expressive Theorie wie retributive Theorien auf Verdienst auf, nur dass das Übel, das der Täter verursacht und dasjenige, das in der Strafe besteht, über den Begriff des guten bzw. üblen Willens ausbuchstabiert wird. Da aber Zürcher zufolge Verdienst das verbindende Element aller Retributivismen ist (60), wäre auch sein eigener Ansatz ein solcher. Zwar gesteht Zürcher diese Nähe zum Retributivismus auch ein, jedoch bleibt die Frage bestehen, was seine expressive Straftheorie zu einem eigenständigen Theorietypus macht.

Schließlich bleibt drittens innerhalb der expressiven Straftheorie unklar, welchen Status die Straftatbestände haben, die kein individuelles, sondern ein allgemeines Schutzgut verletzen. Zumindest könnte diesem Einwand nicht mit Verweis auf die stellvertretende Funktion der Strafe begegnet werden, da die stellvertretenden reaktiven Einstellungen eine Verletzung der Rücksichtsforderung gegenüber Einzelnen darstellen.

Abschließend ist zu sagen, dass die konzise und klar geschriebene Arbeit Zürchers einerseits sehr gut über die verschiedenen Straftheorien informiert und andererseits einen Vorschlag zur Straflegitimation liefert, der insbesondere Strafrechtsreformen gegenüber, wie sie eingangs erwähnt wurden, offen gegenübersteht. Gerade aufgrund des sehr weiten Beschreibungsfeldes der reaktiven Einstellungen ist es somit möglich, der Dynamik unseres normativen Selbstverständnisses Rechnung zu tragen.

Literatur

Strawson, Peter F. “Freedom and Resentment.” In: Proceedings of the British Academy 48 (1962) 187-211.

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