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Stekeler, Pirmin: Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein dialogischer Kommentar. Band 1: Gewissheit und Vernunft. Band 2: Geist und Religion. Hamburg: Meiner, 2014. [978-3-7873-2471-2 (Bd. 1); 978-3-7873-2472-9 (Bd. 2)]

Rezensiert von Ivan Boldyrev (Universität Witten/Herdecke)

Als einer der dunkelsten Texte in der Philosophiegeschichte ist Hegels Phänomenologie des Geistes höchst kommentierungsbedürftig, zumal seine Bedeutung für die europäische Denktradition seit mehr als 200 Jahren nicht abnimmt – im Gegenteil.1 Pirmin Stekeler legt nun zwei umfangreiche Bände eines Kommentars vor, der die klare Absicht erkennen lässt, Hegels Text mit heutigen philosophischen Debatten (etwa zu Fragen des Inferentialismus, der Normativität oder – ganz allgemein – der Logik des Sozialen) zu verbinden, ihn damit aufzuhellen und zugänglicher zu machen. Insofern ist das Buch rückhaltlos zu begrüßen. Kenntnisreich, weitsichtig und überzeugend werden dabei unter anderem ökonomische Rationalität, analytische Formalismen und Reduktionismen naturalistischer Positionen der sogenannten „Philosophie des Geistes“ aus hegelscher Perspektive kritisiert.

Stekelers „dialogischer Kommentar“ soll ein wirklicher Dialog mit Hegel sein: Der zusammen mit dem Kommentar abgedruckte Text der Phänomenologie wird abschnittsweise erläutert und somit ein Gespräch von zwei Philosophen inszeniert. Dieses Vorgehen ist beispiellos in der Hegelforschung. Ähnlich ging nur Jacob Loewenberg (1965) vor, in dessen Buch es allerdings nicht darum ging, Hegel buchstäblich zu Worte kommen zu lassen. Auch Harris (1997) begnügte sich in seinem Kommentar mit Zusammenfassungen einzelner Abschnitte.

Die Größenordnung dieses Projekts lässt eine kritische Würdigung zu diesem Zeitpunkt notwendig nur in beschränktem Maße zu. Insbesondere wäre es vermessen, die Einzelheiten von Stekelers Interpretation aller Abschnitte der Phänomenologie oder die Angemessenheit vieler allgemeiner, hier und da aufgeworfener Überlegungen zu beurteilen. (Die wichtigsten dieser Überlegungen sind in den Einleitungen zu finden, die in den beiden Bänden über die eigentliche Kommentierung des Textes hinausgehen.) Wir haben ein Produkt langjähriger Arbeit vor uns und eine intensive Auseinandersetzung mit Stekelers Deutungsstrategie steht noch aus. Hier kann ich mich nur auf einige Bemerkungen beschränken.

Stekeler gibt selbst zu, dass er den Dialog nach eigenen Regeln organisiert, und zwar nicht als Paraphrase des von Hegel Gesagten, sondern als „kommentierende Artikulation“ (I, 22). Ab und an muss Stekeler auch in Hegels Text eingreifen, um gewisse Thesen hervorzuheben und besser erläutern zu können. Die Phänomenologie interpretiert Stekeler primär als einen Beitrag zur „Wissenschaftswissenschaft“ (I, 258), d.h. zur kritischen Meta-Analyse unserer Wissens- oder „kategorialen Ausdrucksformen“ (I, 19), deren Methode die des „Zeigens“ ist (I, 35f.; II, 17). Dieses „metastufige“ – Stekelers Ausdruck für „spekulative“ – Wissen ist für ihn eigentlich die Philosophie. Hier wird Stekelers Ausgangspunkt sichtbar: Es gibt bestimmte Wissensansprüche und Wissensformen, die angenommen und im Kontext von zwei miteinander verbundenen zentralen Polaritäten geprüft werden: der zwischen Gewissheit und Wissen und der zwischen Ich und „generischem“ Wir, das die Rolle des kantischen transzendentalen Ich übernimmt (I, 31, 51, 173). Dabei werden theoretisches und praktisches Wissen zusammen behandelt – und somit auch eine (soziale) Ontologie umrissen.

Die von Stekeler für Hegels Phänomenologie unterstellte Logik ist die dialektisch-dialogische Lehre von Sprechhandlungen. Erst diese könne den Gegebenheitsweisen, den Erscheinungsformen – d.h. für Stekeler (Re)Präsentationen – des Wissens (Bewusstseins) gerecht werden und die „Bewertung von Geltungsansprüchen” (I, 217) vermitteln. Die Sprechhandlungen werden konsequent als Träger der Normativität gedeutet, d.h. als „Vollzugsformen kooperativ verfassten Lebens“ (I, 38). Daher spiele der Vollzug im Gegensatz zu den fixierten allgemeinen Prinzipien bei Hegel eine so tragende Rolle. Dazu können in der Tat jede Menge Belege aus der Phänomenologie angeführt werden, vor allem aus dem Vernunftkapitel.

Was aber heißt hier Normativität? Vor allem gelte, so Stekeler, dass für Hegel der Geist immer praktisch orientiert sei und dass die dynamische Wissensorientierung immer teleologisch mit Verbesserung der Praktiken einhergehe (vgl. I, 168). Der Geist selbst ist diese Normativität, indem er sie performativ konstituiert (II, 20). Stekeler zieht es dabei vor, von „Normalfallinferenzen“ zu sprechen und diese Normativität epistemologisch zu fassen. Dabei folgt er in vielen Punkten dem sprachpragmatistischen Ansatz Robert Brandoms. Das erklärt auch, warum er eher von Logik – primär von der Logik der Sprechhandlungen (I, 64, 72ff.) – und nicht etwa von der Sozialontologie in Hegels Text sprechen will (II, 21). Die Wissensformen im Vollzug zu begreifen – das ist nach Stekeler der Schlüsselgedanke der hegelschen Phänomenologie, wobei die Negativität die Differenzen zwischen Rede-, Bezug- und Vollzugsformen benennt (vgl. II, 268, 756). Das Implizite wird expliziert – und dadurch erst wesentlich konstituiert. Institutionen (oder Praxisformen) fungieren somit auch als Formen praktischen Wissens.

Stekelers Lesart ist, wie man sieht, dezidiert sprachpragmatistisch. Wahrheit bei Hegel erfasst er als „anzuerkennender Geltungsanspruch […], also als normativ bewerteter Vollzug, nicht als abstrakte Korrespondenz oder Abbildung“ (I, 636). Für die ganze Interpretation ist zudem leitend, dass Stekeler mit Hegel eine kooperative, kommunitaristische Perspektive verteidigt (im Gegensatz etwa zu Utilitarismus und zur Logik des homo oeconomicus) – was an sich kaum neu, aber doch eine insgesamt fruchtbare Deutungsstrategie ist.

Stekelers Kritik des herkömmlichen Hegelbildes richtet sich gegen die Ansicht, dass Hegels Text primär als Bildungsroman oder als geschichtsphilosophisch gefärbtes Narrativ gelesen werden soll. So interpretiert er etwa Hegels Kritik der üblichen Darstellungsweisen in der Vorrede dahingehend, dass „[a]lles Historische und Narrative […] aus der Philosophie zu verbannen“ sei (I, 145f.).

Was ist aber seine Alternative? Man kann sagen, dass Stekeler alle Inhalte des hegelschen Textes konsequent in einer epistemologischen Sichtweise umdeutet. Kein Wunder, denn die Philosophie ist für ihn nichts anderes als allgemeine Methodologie, d.h. Reflexion auf die Formen der Wissenschaft, die Wissensansprüche macht, sie ins praktische Leben umsetzt und ihre Richtigkeit kontrolliert (vgl. etwa I, 50, 200, 240). Nur unter dieser Bedingung kann Stekeler etwa Hegels berühmte Sentenz vom Wahren als bacchantischem Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist, als „Kommentar zur Variabilität jeder Phänomenbeschreibung“ (I, 178) verstehen und Hegels Worte, dass seine Zeit den Übergang zu einer neuen Periode markiert, als Begrüßung des Zeitalters der positiven Wissenschaft deuten (I, 206). Viele weitere Aussagen Hegels werden genauso als primär epistemologische interpretiert: So besage „das Wahre ist das Ganze“, dass spekulative Sätze „nur im Zusammenhang“ ihres Gebrauchs richtig bewertet werden können (I, 224); das Tote, das Hegels Vorrede festhalten will, wird als totes Rechnen des schematischen Denkens uminterpretiert, und der Mut, dem Toten ins Gesicht zu sehen, wird als Entschlussfähigkeit gegenüber dem abstrakten Modellieren gedeutet (I, 247f.). Hegels Gott selbst ist für Stekeler nichts mehr als ideales Wissen (I, 235).

Aber Stekelers Hegel ist trotz aller vermeintlichen wissenschaftlichen Stringenz und Abneigung gegen die „Autoren, welche das schöne Wort dem wahren Gedanken vorziehen“ (I, 250), doch auch ein Freund der Metapher. Es ist merkwürdig, dass Stekeler mit genau diesen Worten eines der bekanntesten Denkbilder der hegelschen Prosa aus der Vorrede – über die ungeheure Macht des Negativen – kommentiert. Bilder will der Autor mit Bildern bekämpfen, auf vermeintliche Literarizität antwortet er mit seiner eigenen metaphorisch organisierten Deutung. Denn wie anders könnte man die ganze theologische Lehre im Religionskapitel als Darstellung der Interaktion zwischen tradierten Lebensformen (Vatergott), dem „Modell eines freien und autonomen Individuums“ (Christus) und „allgemeiner Urteilskraft“ (der Heilige Geist) präsentieren (II, 112f.)? Aber die höchste Steigerung erhält diese allegorische Lektüre, wenn Stekeler das berühmte IV. Kapitel der Phänomenologie, die Bewegung des Anerkennens sowie die Herr-Knecht Dialektik, als Drama innerhalb des einzelnen Selbstbewusstseins deutet, indem das Anerkennen zwischen dem „Vollzugs-Ich“ (als anerkennendes) und „Bezugs-Ich“ (als anerkanntes) stattfindet und der Kampf auf Leben und Tod zum Kampf „der Seele gegen den Leib, des Denkens und Wollens gegen das Gefühl und die Begierde“ (I, 686) wird. Der Tod ist hier nur ein Wort, um den Verfall der Wissensformen zu bezeichnen, die unbegründet als bloße unmittelbare Selbstgewissheit auftreten. Und der eventuelle Gewinn der scheinbar rezeptiven, passiven Seite, also des Knechts, interpretiert Stekeler als logische Konsequenz der bekannten hegelschen Handlungstheorie, nach der erst die Ausführung, die leiblich vollzogene Realisierung des Handelns, über dessen intentionalen Grund entscheidet. Insgesamt stimmt diese Interpretation mit der neuen Hegel-Lektüre von John McDowell (2003) überein. Was dem Leser aber fehlt sind Hinweise darauf, dass diese Deutung äußerst umstritten ist und vielen Stellen des Textes widerspricht (vgl. dazu ausführlicher Pippin 2011).

Was in dieser epistemologischen Deutung oft zu kurz kommt, ist die Geschichtlichkeit der Phänomenologie – sowohl ihres Inhalts, als auch des Textes selbst als einer von Hegel erzählten „Geschichte“. Es ist also ganz konsequent, dass Stekeler den hegelschen Text kaum historisch kontextualisiert. Das heißt natürlich nicht, dass im Kommentar alle historischen Bezüge der logischen Kohärenz geopfert werden – im Gegenteil, der Autor rekurriert gerne (und manchmal sehr treffend) auf geschichtliche Zusammenhänge (von den franziskanischen Mönchen bis hin zu Frege und Philosophie der Mathematik), doch haben sie meist keine systematische Beziehung zu Hegels Text – und zwar durchaus mit Absicht. Ohne Kontextualisierung jedoch ist Hegels Geschichte samt ihren Übergängen kaum begreifbar. So bleibt etwa der Übergang vom Gewissen zur Bekenntnis und Verzeihung vollkommen rätselhaft – im Kommentar als „etwas abrupt und unvermittelt“ (II, 712) charakterisiert.

Gemäß seines pragmatistischen Ansatzes muss Stekeler selbst anerkennen, dass für Hegel „jede theoretische Selbstbeziehung auf einem praktischen Selbstverhältnis aufruht“ (I, 121) und dass daher in Hegels Darstellung gewisse Praxisformen oder Institutionen auftauchen, die im Kommentar Stekelers mit gutem Grund viel Beachtung finden. Doch auch diese Institutionen sind historisch bedingt und sie lassen sich nicht von ihrer geschichtlichen Prägung abstrahieren.

Das alles soll nun aber nicht heißen, dass Hegels Geschichte in der Phänomenologie mit der wirklichen Historie zu identifizieren wäre. Nur ist die Logik, die Stekeler Hegel zuschreibt, zwar für die Klärung einzelner Gedankengänge der Phänomenologie hilfreich, reicht jedoch m. E. für das Verständnis des hegelschen Projekts, vor allem der von Stekeler selbst unterstellten geschichtlichen und pragmatischen „Stufungen“ des Wissens (II, 42), noch nicht aus. Das Problem liegt darin, dass Stekeler seine Deutung der Phänomenologie als neben dem „objektstufigen“ Wissen und reellen Handeln stehende „logische Strukturanalyse über Momente in Praxisformen und Institutionen“ der bloß historisierenden Interpretation gegenüberstellt, die er als „Erzählung über Zeiten und Personen“ versteht (II, 745). Ich behaupte dagegen, dass ohne historische Erfahrung, die Hegel entsprechend – wenngleich manchmal willkürlich – interpretiert, keine „Logik“ möglich ist. Die Gegenüberstellung von Logik und Geschichte wird dem hegelschen Projekt nicht gerecht. Geschichte (als Geistesgeschichte) ist auf jeder Stufe der Darstellung und in jedem spekulativen Übergang präsent und mit ihr eine gewisse unvermeidbare Kontingenz, die sich auch in dem willkürlichen Gang des Textes selbst kundtut. Dieser Notwendigkeit der geschichtlich (vor)gegebenen Institutionen und Praktiken, die bei Hegel als Momente des Geistes, als dessen unumgängliche implizite Seite auftreten, wird im Kommentar nicht genug Rechnung getragen.

Obwohl Stekelers Anliegen, den ganzen Text zu erläutern, durchaus zu begrüßen ist, genauso wie sein Versuch, die allgemeine Logik des Textes konsequent zu rekonstruieren, bleibt der Status seines Kommentars selbst unbestimmt. Es wird vom Autor zu Recht erwartet, dass sein Kommentar den Text lesbarer macht (I, 23). Aber in welchem Sinn wäre dieses „lesbarer“ zu verstehen? Ginge es um eine begleitende Erläuterung, so wäre diese Aufgabe durch Stekelers Bemühungen kaum gelöst. Manche Abschnitte sind einfach zu wenig kommentiert, die kryptischen Stellen als kryptisch beschrieben und nicht erschlossen; bei anderen verliert sich der Autor in Digressionen, die an sich zwar manchmal sehr interessant und inspirierend sind, aber zum eigentlichen Verständnis des Textes kaum beitragen. Das führt dann unter anderem dazu, dass Stekeler viele Textstellen als obskur oder „orakelartig“ bezeichnet und bestimmte Teile, die bei der gewöhnlichen Lektüre keine Probleme machen, aber zu seiner Interpretation kaum passen, als unklar abstempelt (vgl. z.B. der Text und Interpretation in I, 693f.). Zugleich wirft Stekeler den Hegel-Interpreten mehrmals vor, sie hätten nur wenig von Hegel verstanden. Namentlich genannt werden jedoch nur wenige Autoren (wie Kojève oder Honneth); unklar bleibt, was Stekeler von den zahlreichen anderen Interpretationen hält, insbesondere etwa denen von für den deutschen und englischen Sprachraum wichtigen Deutungen von Schmidt (1997) und Harris (1997). Diese sind nicht einmal in Stekelers Bibliographie zu finden – von vielen anderen wichtigen Einzelstudien ganz zu schweigen. Insofern bleibt dieser Leser etwas ratlos zurück, denn er erwartet vom Verfasser eines Kommentars eine Auseinandersetzung oder wenigstens Offenheit gegenüber anderen Versuchen – letztlich nichts anderes als das im Kommentar selbst als Hegels tiefste Einsicht gefeierte „kooperationspraktische“ Denken (vgl. etwa II, 627). Es ist nicht zufällig, dass einer der wichtigsten neueren Phänomenologie-Kommentaren als ein „kooperativer“ konzipiert wurde (Vieweg und Welsch 2008). Vielleicht könnte dieser Dialog des Verfassers mit den anderen Deutungsperspektiven zur besseren Lesbarkeit sowohl des hegelschen Textes als auch des besprochenen dialogischen Kommentars beitragen.

Literatur

Harris, Henry S. Hegel’s Ladder. 2 Bände. Indianapolis: Hackett, 1997.

Loewenberg, Jacob Hegel’s Phenomenology. Dialogues of the Life of the Mind. La Salle, Ill.: Open Court, 1965.

McDowell, John. “The apperceptive I and the empirical self: towards a heterodox reading of ‘Lordship and Bondage’ in Hegel’s Phenomenology”, Bulletin of the Hegel Society of Great Britain 47/48 (2003), 1–16.

Pippin Robert B. Hegel on Self-Consciousness, Desire and Death in the Phenomenology of Spirit. Princeton/Oxford: Princeton University Press, 2011.

Schmidt, Josef „Geist“, „Religion“ und „absolutes Wissen“. Ein Kommentar zu den drei gleichnamigen Kapiteln aus Hegels „Phänomenologie des Geistes“. Stuttgart/Berlin/Köln: Kohlhammer, 1997.

Vieweg, Klaus und Wolfgang Welsch (Hg.). Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlüsselwerk der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008.


  1. Für die Hilfe bei der Fertigstellung dieser Rezension bin ich meinem Kollegen Sascha Freyberg (MPI für Wissenschaftsgeschichte, Berlin) zu Dank verpflichtet

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