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Zeitschrift für philosophische Literatur 3. 1 (2015), 1-11

Pierre Bourdieu: Über den Staat. Vorlesungen am Collège de France 1989–1992. Berlin: Suhrkamp 2014. 772 Seiten. [978-3518585931]

Rezensiert von Ruben Hackler (Universität Zürich)

Pierre Bourdieu ist einer der einflussreichsten Soziologen und Sozialtheoretiker des 20. Jahrhunderts, der sich in seiner empirischen Forschung mit einem vergleichsweise breiten Themenspektrum befasst hat. Mit der Publikation seiner Vorlesungen Über den Staat, gehalten in den Jahren 1989–1992, einer Zeit weltumspannender politischer Umbrüche, wird eines derjenigen Forschungsfelder Bourdieus zugänglich gemacht, das in der deutschsprachigen Rezeption seiner Schriften bislang von eher untergeordneter Bedeutung gewesen ist. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen sind diejenigen Monographien Bourdieus, die den Staat zum Gegenstand haben, nicht unbedingt als thematisch einschlägige Publikationen zu erkennen. So ist seine umfangreiche Studie Der Staatsadel (Bourdieu 2004) hauptsächlich ein Beitrag zur Bildungssoziologie. Nur für diejenigen, die ein beträchtliches Interesse für die strukturelle Reproduktion akademischer Eliten aufbringen, kann hervortreten, dass Bourdieu unter der Hand auch ein Buch über die Reproduktionsmechanismen des französischen Staates geschrieben hat. Nicht anders verhält es sich mit seinem Buch Der Einzige und sein Eigenheim (Bourdieu et al. 2002), das eine eingehende Beschäftigung mit der privatrechtlichen Konstruktion des Eigentums in der bürgerlichen Gesellschaft verlangt, um Bourdieus originellen Zugriff auf das würdigen zu können, was er das „politische Feld“ (Bourdieu 2001) nennt. In dem Band Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns (Bourdieu 1998) findet sich wiederum ein Kapitel zur Genese des „Staatsgeistes“, das auf einen Vortrag zurückgeht und wegen der fehlenden Literaturangaben schwer verdauliche Kost ist; Bourdieu entwirft in diesem Text eine historisch-soziologische Theorie des bürokratischen Staates, die im Hochmittelalter einsetzt und bedingt durch ihre Kürze – der Textumfang liegt bei rund 40 Seiten – kaum über den Status einer vielversprechenden These hinauskommt.

Zum anderen hat Bourdieu im Laufe seines über vier Jahrzehnte dauernden Schaffens eine äußerst komplexe soziologische Feldtheorie entwickelt. Felder entstehen und erhalten sich nach Bourdieu immer durch die Handlungen verschiedener Akteursgruppen, die weder eine geteilte Lebenswelt noch gemeinsame Interessen haben müssen, um längerfristig miteinander kooperieren zu können. Deshalb gehört es gewissermaßen zur Natur des politischen Feldes, dass es von Bürokraten, Politikern, Lobbyisten, wissenschaftlichen Experten und weiteren Akteuren bewirtschaftet wird, die abhängig von ihrer Herkunft, ihrem Geschlecht, ihrer Ausbildung, ihrer politischen Einstellung, ihrer Funktion und ihrer Position im gesellschaftlichen Machtgefüge abweichende, in vielen Fällen sogar konkurrierende Interessen verfolgen. Während Bourdieu bis in die Gegenwart vorgeworfen wird, ein deterministisches Habituskonzept vertreten und die Akteure zu „Trotteln ohne Urteilskraft“ degradiert zu haben (vgl. die Darstellung solcher Vorwürfe in Celikates 2009: 18), dürfte kein Zweifel daran bestehen, dass Felder dynamische Gebilde sind, weil es aufgrund ihrer heterogenen Zusammensetzung immer wieder zu Kämpfen über die richtige Deutung des Status quo kommt. Das wirft die grundlegende Frage auf, welche Konsequenzen die Feldtheorie für die politische Soziologie und damit auch für die Analyse des Staates nach sich zieht. Anders formuliert: Wie verhält sich das politische Feld zum Staat aus Sicht von Bourdieus Theorie? Es drängt sich nämlich der Verdacht auf, dass der Staat, verstanden als ein Hobbes’scher, alles überragender Leviathan, im Rahmen einer Soziologie gesellschaftlicher Felder durch andere Konzepte wie Bürokratie, Bildung und Recht ersetzt werden kann.

Bourdieu geht auf diese Möglichkeit ein, formuliert jedoch keinen überzeugenden Vorschlag, wie das Verhältnis von Staat und politischem Feld zu denken sei. In aller Bescheidenheit spricht er von einem „nicht zu bewältigendem Forschungsprogramm“ (133), das er sich in seinen Vorlesungen vorgenommen habe. Ich werde mich im Folgenden auf diejenigen Überlegungen konzentrieren, die seine teilweise etwas sprunghafte Argumentation zusammenhalten, wobei mich die schiere Masse von über 600 Seiten Text zu Auslassungen zwingt; den dritten Vorlesungszyklus werde ich, da er gegenüber den ersten beiden Jahren kaum Neuerungen bringt, fast ganz übergehen. Eine weitere Einschränkung ist, dass Bourdieu über weite Strecken nicht die Resultate seiner eigenen Forschung präsentiert, sondern zur Diskussion stellt, was er bei der Lektüre geschichtswissenschaftlicher Texte zur „Genese des Staates“ (79) zusammengetragen hat.

Bourdieu formuliert fünf Thesen, die für seine Staatssoziologie zentral sind: (I.) Der Staat entwickelt sich in der Neuzeit zu einer „gefährlichen Fiktion“ (31), indem er zum „Subjekt von Aussagesätzen“ (ebd.) gemacht wird. Gleichzeitig repräsentiert der Staat das allgemeine Interesse vermittels seiner Vertreter und Vertreterinnen, denen es gelingt, „öffentliche Probleme“ (60) zu artikulieren. (II.) Der Staat produziert „soziale Klassifikationen“ (29) und monopolisiert diese Funktion in der Moderne zusehends über Institutionen wie das Bildungssystem und das Recht. Mit anderen Worten, der Staat ist überall, sogar in unseren Köpfen. (III.) Der moderne Staat ist das Ergebnis einer bürokratischen Revolution, an der die Soziologie einen wichtigen Anteil hatte. (IV.) Der Staat verfügt über eine eigene Kapitalsorte, das sogenannte „Staatskapital“ (340). (V.) Das politische Feld funktioniert nach Regeln, die es von anderen Feldern wie dem ökonomischen oder dem wissenschaftlichen unterscheiden. Bourdieu charakterisiert dies als „begrenzte Autonomie“ (142), eine Eigenschaft, die gemäß seiner Theorie auch anderen Feldern wie der Kunst (Bourdieu 1999: 187–226) oder der Wissenschaft (Bourdieu 2004: 45–55) zukommen soll.

I. Der Staat als kollektive Fiktion

Bourdieu bezeichnet den Staat wahlweise als „ganz gefährliche Fiktion“, als „kollektive Fiktion“ (24) oder als „wohlbegründete Illusion“ (24), ohne genauer auf die Unterschiede dieser Ausdrücke einzugehen. Der Staat ist als eine „gefährliche Fiktion“ anzusehen, weil er nicht unmittelbar mit der Regierung oder der Tätigkeit in Verwaltungsgebäuden gleichgesetzt werden kann. Sprachkritisch lässt sich daraus schließen, dass der Staat nicht zum „Subjekt von Aussagesätzen“ gemacht werden darf, weil er einem Kräfteverhältnis unterschiedlicher Akteure entspringt, die mehr oder weniger erfolgreich im Namen des Staates agieren. Die soziologische Analyse sollte sich deshalb auf die Akteure im politischen Feld und die zwischen ihnen bestehenden Machtverhältnisse konzentrieren. Bourdieu wird diese Behauptung im Verlauf der Vorlesungen allerdings wieder einschränken, wenn er auf die schwer trennbare Einheit von Staat und Fürst in frühneuzeitlichen Monarchien eingeht (345). Derweil stellt sich die Frage, für wen die Fiktion des Staates „gefährlich“ sein soll. Es läge hier nahe, an die Bürgerinnen und Bürger als Rechtssubjekte zu denken, die „den Staat“ etwa für Fehlentwicklungen zur Verantwortung ziehen. Dagegen spricht, dass die Bevölkerung kaum als eigenständiges Subjekt in Bourdieus Vorlesungen auftaucht, ihr streng genommen also gar nicht der Vorwurf gemacht werden kann, den Staat fälschlicherweise für einen dem Menschen analogen Akteur zu halten. Warum Bourdieu nicht einmal in Ansätzen eine Theorie der Bevölkerung entwickelt, wie Michel Foucault Ende der 1970er Jahre in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität (Foucault 2004), kann hier nicht geklärt werden. Die Fiktion des Staates ist prima facie nur für diejenigen gefährlich, die ihn erforschen. Bourdieu wird nicht müde, den Positivismus seiner Kolleginnen und Kollegen in den Sozial- und Geschichtswissenschaften anzuprangern, die seines Erachtens der Fiktion des Staates auf den Leim gehen (86, 133–139, 171, 227, 238, 247). Hierbei nimmt er Motive aus dem ideologiekritischen Diskurs auf, den er andernorts ausdrücklich zurückweist, weil er ihn untrennbar mit dem Konzept des falschen Bewusstseins verbunden sieht (Bourdieu/Eagleton 1994: 267f.). Diese Unentschiedenheit lässt sich vermutlich durch seine Konkurrenz mit anderen zeitgenössischen Gesellschaftstheoretikern wie Louis Althusser, Nicos Poulantzas und Perry Anderson erklären, von denen er sich in seinen Vorlesungen immer wieder abgrenzt (21–24, 83, 126, 248f., 488).

Da Bourdieu keine soziologische Theorie der Bevölkerung in der Reserve hat, ist der Begriff der „kollektiven Fiktion“ vergleichsweise simpel konzipiert. Er meint kaum mehr, als dass die Sprechakte der Regierung und der Verwaltung, die Gesetze, Verlautbarungen und Empfehlungen, klassenübergreifend anerkannt oder im religiösen Sinne „geglaubt“ (24) werden. Der Glaube an den Staat als Subjekt und der an dessen positive Wirkungsweise gehen ineinander über, sie stabilisieren sich wechselseitig. Zugespitzt formuliert heißt es in den Vorlesungen: „Es ist ein Effekt des Staates, glauben zu machen, der Staat sei unproblematisch.“ (112) Fraglich ist, für wen diese Feststellung gelten soll – sowohl empirisch (wer wollte Ende der 1980er Jahre noch ungebrochen an den Staat glauben, geschweige denn heute?) als auch handlungstheoretisch. Wie Bourdieu in seinen ethnologischen Studien gezeigt hat, kann selbst der eingefleischteste Glaube an eine Norm nicht verhindern, dass sich die Akteure im Alltag strategisch auf sie beziehen, sie situationsgebunden anwenden oder zeitweise suspendieren (Bourdieu 1987: 180–204). Darum scheinen „kollektive Fiktionen“ in erster Linie massenpsychologische Phänomene zu sein, die stabil bleiben, solange sie nicht hinterfragt werden. Ein Beispiel, das Bourdieu auch selbst diskutiert, ist der Nationalismus, der solange plausibel erscheint, wie er nicht auf seine irrationalen Aspekte hin befragt wird.

Der Begriff der „wohlbegründeten Illusion“ dürfte der interessanteste in Bourdieus Theorie des Staates sein, auch wenn er ebenfalls dunkle Ränder aufweist. Während Fiktionen im politischen Feld immer die Frage aufwerfen, ob sie sich abweichend zur Realität verhalten, treten „wohlbegründete Illusionen“ mit dem Anspruch auf, die Gesellschaft rational zu ordnen. Dabei ist der Begriff der Rationalität nicht sonderlich komplex, er meint lediglich, dass staatliche Programme über partikulare Interessen hinausreichen und im Idealfall sogar allen zugutekommen. Die Idee der „wohlbegründeten Illusionen“ mündet bei Bourdieu in eine Theorie der politischen Stellvertretung, die er am Beispiel der Kommissionsbildung erläutert:

Der Konstitution – das Wort ist wichtig und im starken Sinne zu verstehen – einer Kommission liegen zwei Akte zugrunde: erstens die Benennung […] einer Gruppe von Leuten, die als befugt, als sozial berufen gelten, eine bestimmte Funktion zu erfüllen; dann die Benennung eines Problems, das es wert ist, von Leuten behandelt zu werden, die würdig sind, die öffentlichen Probleme zu behandeln. (55)

„Illusion“ könnte in diesem Zusammenhang zweierlei heißen: zum einen die Behauptung der Kommission, einen allgemeinen Standpunkt zum Ausdruck zu bringen, der in Wahrheit nur einzelnen dient und daher tendenziell ideologisch ist; zum anderen ein in der Bevölkerung verbreitetes Unverständnis, dass selbst die scheinbar einfachsten Verlautbarungen einer Kommission das komplexe Produkt historischer Aushandlungsprozesse sind (398). Die zweite Variante ist anspruchsvoller, denn sie konzipiert den Staat als „großen Fetisch“ (222) in Anlehnung an Karl Marx, demzufolge der Ware nicht ihre gesellschaftlichen Erzeugungsbedingungen auf die Stirn geschrieben sind. Während Bourdieus Unterstellung, der Staat werde von einer großen Zahl der Bevölkerung für „unproblematisch“ gehalten, kaum überzeugend klingt, ist die Behauptung eines Staatsfetischs vielversprechend. Sie impliziert, dass es eines erheblichen zeitlichen und kognitiven Aufwands bedarf, um „öffentliche Probleme“, die im Zusammenhang mit dem Staat auftreten, mit der innewohnenden Komplexität benennen zu können. Nicht ohne Grund gibt es eine Arbeits- und Organisationssoziologie, die damit beschäftigt ist, die Funktionsweise des politischen Feldes und dessen Machteffekte zu ergründen.

II. Die Klassifikationsinstrumente

Die Formulierung öffentlicher Interessen ist, so Bourdieu, abhängig von Instrumenten, die überhaupt erst einen Denk- und Handlungsraum für das Allgemeine schaffen. Im Laufe der Neuzeit werden diese Instrumente unter staatliche Kontrolle gebracht, es gibt darum nicht nur ein Gewaltmonopol auf physische Gewalt, sondern auch eines auf symbolische. Am deutlichsten zeigt sich dieses Monopol in den Bereichen Bildung und Justiz, die zur vermeintlich ureigenen Domäne des Staates gehören. Bourdieu zählt eine Reihe von Kulturtechniken auf, die einen entscheidenden Anteil an der Konstruktion des Allgemeinen haben: Kalender, die das soziale Gedächtnis strukturieren (25); statische Methoden, die zeitlich ausgedehnte Wirkungszusammenhänge sichtbar machen (60); Berufsklassifikationen, die Individuen einteilen (30); Geldwährungen, die von persönlichen Bindungen abstrahieren (103); Theorien, die moralische Handlungsanleitungen präsentieren (67); Grammatiken, die eine Normalsprache festlegen (219); Haushaltspläne, die eine wirtschaftliche Gesamtrechnung ermöglichen (374). Dass Bourdieu diese Kulturtechniken nicht in einer einzigen Vorlesung auflistet, sondern verteilt über mehrere Jahre auf sie zu sprechen kommt, ist ein Hinweis, wie wenig systematisch sein Nachdenken über den Staat letztlich bleibt. Daraus lässt sich eine gewisse Spannung in seiner Argumentation erklären: Einerseits begreift er den Staat in durchaus positiver Weise als Produzent von Klassifikationsprinzipien, die vermittelt über die Schule unser Denken und unsere sozialen Wahrnehmungsfähigkeiten aneinander angleichen und dadurch die Herausbildung einer gemeinsamen Öffentlichkeit befördern, andererseits kritisiert er den „Imperialismus des Universellen“ (284), der dem Staat respektive seinen Vertreterinnen und Vertretern eine ungeheure Deutungsmacht über das Soziale verschafft. In einem 1981 erschienenen Aufsatz über „Die politische Repräsentation“ hatte er bereits festgehalten:

Auf dem Gebiet der Politik […] ist die Enteignung der Mehrheit ein Korrelat oder eine Konsequenz der Konzentration der politischen Produktionsmittel in den Händen von Professionellen, die nur dann eine Chance haben, bei dem politischen Spiel mitzuspielen, wenn sie über eine spezifische Kompetenz verfügen. (Bourdieu 2001: 74).

Ob die von Bourdieu angesprochenen Konzentrations- und Professionalisierungsprozesse tatsächlich so umfassend sind, lässt sich diskutieren. Dabei wäre zu überlegen, ob die Produktion allgemeiner Klassifikationsprinzipien nicht schon an sich ein Problem darstellt, und nicht erst, wenn Deutungskompetenzen und Handlungsbefugnisse allzu einseitig verteilt sind. Radikalisiert man die demokratietheoretisch interessante Randbemerkung, dass im Prinzip „jeder Akteur sein Recht auf seine Perspektive“ (129) hat, dann verliert der Staat höchstwahrscheinlich auch in der soziologischen Analyse den Nimbus, der unanfechtbare „Standpunkt der Standpunkte“ (62) zu sein. Welche herrschaftskritischen Einsichten sich daraus ergeben, hat Jacques Rancière in seiner Studie Le Maître ignorant. Cinq leçons sur l’émancipation intellectuelle (1987) vorgeführt.

III. Der Staat und die bürokratische Revolution

Eine weitere These in den Vorlesungen besagt, dass der moderne Staat das Produkt einer bürokratischen Revolution ist, die maßgeblich auch von Vertretern der Sozialwissenschaften vorangetrieben wurde. Das wirft die Frage nach der systemkritischen Rolle der Soziologie auf, mit der sich Bourdieu zeitlebens auseinandersetzte. Rancière entwickelte sich auch in dieser Hinsicht zu einem ernstzunehmenden Gegenspieler. Während Bourdieu versuchte, die Soziologie in Anlehnung an die Naturwissenschaften als „strenge Wissenschaft“ zu praktizieren, um sie den tagespolitischen Auseinandersetzungen zu entziehen und dadurch in ein Instrument der Emanzipation zu verwandeln, hielt ihm Rancière vor, damit nur eine andere Form des Herrschaftswissens zu propagieren. Sein Hauptvorwurf lautete, dass Bourdieus ideologiekritische Annahme eines „notwendigen Verkennens“ im Alltag, das nur mit sozialwissenschaftlichen Methoden aufzudecken sei, auch die Funktion habe, die Soziologie über die Gesellschaft zu stellen und dadurch ihren politischen Einfluss zu sichern (Rancière 2010: 225–232). Es ist bemerkenswert, dass Bourdieu diesen Vorwurf in seine Vorlesungen aufnimmt, ohne ihn wirklich entkräften zu können. Die Geschichte, die er über die Herausbildung des modernen Staates und die Rolle der Bürokratie in diesem Prozess erzählt, liest sich wie ein offenes Eingeständnis, dass das Fach Soziologie bis heute daran beteiligt ist, die Herrschaftsordnung zu stabilisieren (81f.). Dies erschöpft sich nicht darin, Gefälligkeitsgutachten zu erstellen oder Auftragsforschung zu betreiben, wie unter dem Schlagwort „Legitimationswissenschaft“ diskutiert wird. Die Macht der Soziologie ist weitaus subtiler, sie liefert nämlich Klassifikationsschemata (Berufsfelder, soziale Kategorisierungen) und organisatorische Techniken (Statistik, Interviews) im Namen der Objektivität – mit anderen Worten, sie totalisiert und fragmentiert den gesellschaftlichen Raum auf effektive Weise (122, 252–261, 373–394). Angesichts dessen wirkt Bourdieus Beharren darauf, dass die Soziologie ihre Methoden möglichst gut beherrschen müsse, zwar nicht falsch, aber politisch hilflos. Ihm ist darin zuzustimmen, dass eine kontrollierte statistische Erhebung zerstörerisch für überkommene Gewissheiten sein kann (169, 212), nur handelt es sich dabei nicht um ein Privileg der Sozialwissenschaften; schließlich waren präzise literaturwissenschaftliche Analysen ebenso nützlich, um die für die bürgerliche Gesellschaft wichtige Vorstellung eines souveränen, sich selbst transparenten Autorsubjekts auflösen (vgl. Deleuze 2000). Anstatt immer wieder nur kritische Methodendiskussionen in die Vorlesung einzuflechten, wäre es also im Sinne Bourdieus gewesen, auch über die Form der soziologischen Beschreibung nachzudenken, wie es Rancière (1994) zeitgleich für die Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts unternommen hat.

IV. Staat und Kapital

Es gehört zu den originären Leistungen Bourdieus, die ökonomische Kapitaltheorie kultursoziologisch erweitert zu haben. Nach seiner Studie Die feinen Unterschiede (1982) ist es weit über die Sozial- und Geisteswissenschaften hinaus selbstverständlich geworden, von kulturellem Kapital zu sprechen, um die gesellschaftliche Wertschätzung von Bildung und die damit verbundenen Distinktions- und Akkumulationsstrategien zu thematisieren. Leider war es eine von Bourdieus Allüren als prominenter Soziologe, für jedes soziale Handeln eine eigene Kapitalsorte benennen zu wollen. Deshalb werden in den Vorlesungen Über den Staat nicht weniger als vier neue Kapitalsorten eingeführt: staatliches oder öffentliches Kapital, physisches Kapital, Informationskapital und Metakapital. Diese Begriffe wirken in der vorliegenden Form weder konsistent noch sonderlich brauchbar, wobei natürlich zu berücksichtigen ist, dass Vorlesungen immer auch als Experimentierraum für unfertige Gedanken dienen.

Bourdieus Ausgangsbeobachtung ist, dass der Staat immer mehr Befugnisse an sich zieht und dadurch zur „Macht über den Mächten“ (347) wird, die den Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen kontrolliert und verknappt: „Der Staat ist also die Legitimationsinstanz schlechthin, die konsekriert, feierlich vollzieht, ratifiziert, registriert.“ (259) Im Zuge dieses Konzentrationsprozesses sei ein „Metakapital“ entstanden, das Bourdieu anhand eines Vergleichs mit der Publikation einer wissenschaftlichen Monographie erläutert:

Der Inhaber eines kulturellen Kapitals, der zum Beispiel eine licence in Geographie erworben hat, und der Inhaber eines Kapitals, das Macht über dieses Kapital verleiht – zum Beispiel der Verleger von Geographiebüchern. Letzterer hat ein Metakapital, mit der Folge, daß der Inhaber eines einfachen Kapitals publizieren kann – oder nicht. (259)

Die Feststellung, dass der Besitzer eines Verlags am längeren Hebel sitzt und entscheiden kann, welche Bücher er publiziert, ist trivial. Warum es erkenntnisförderlich sein soll, dafür den Begriff des „Metakapitals“ zu einzuführen, wird in den Vorlesungen nicht weiter begründet. Erhellend ist dagegen Bourdieus Bezugnahme auf Max Webers Herrschaftssoziologie und dessen Kategorie der legitimen Macht. Um das Beispiel in diesem Sinne fortzuführen: Die Entscheidungsmacht des Verlegers ist nicht unbegrenzt, sondern beruht darauf, dass seine Programmgestaltung Zustimmung in der scientific community bekommt. Der Verleger könnte das Manuskript zwar ohne jede Begründung ablehnen, doch möchte er, nicht zuletzt um sein finanzielles Auskommen zu sichern, als Autorität im wissenschaftlichen Feld wahrgenommen werden; er wird deshalb nach einer akzeptablen Erklärung suchen, warum das Buch nicht ins Programm passt.

Die Erläuterung ist auf den ersten Blick einleuchtend, weil Staaten darauf angewiesen sind, dass ihr Handeln ein Mindestmaß an Zustimmung erfährt, doch über diese Feststellung hinaus führt der Vergleich in die Leere. Aus der Geschichte sind zwar Situationen bekannt, in denen die Legitimität ganzer Staatsgebilde zur Diskussion gestellt wurde – zu denken wäre hier etwa an Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg –, doch begeht Bourdieu den Fehler, auf den er in der ersten Vorlesung selbst hingewiesen hat: Er macht den Staat zum „Subjekt von Aussagesätzen“. Die Behauptung, dass staatliche Institutionen ein beträchtliches Maß an Autorität besitzen (113), berechtigt nicht zu der buchstäblich gemeinten Aussage, „der Staat“ akkumuliere eine besondere Form des Kapitals, denn es sind in der Praxis einzelne Personen oder Regierungsbehörden und Verwaltungen, die für ihre Leistungen anerkannt werden. Dazu kommt, dass der Staat über Gesetzgebungskompetenzen verfügt, die dem Verleger als privatrechtlichen Akteur gänzlich abgehen, schließlich kann er von sich aus niemanden zwingen, Bücher für ihn zu schreiben.

Während die Begriffe staatliches Kapital und Metakapital weiterer Diskussionen bedürfen, halte ich die Rede von physischem Kapital und Informationskapital für wenig erklärend. Es gibt zwar ein von der Bevölkerungsmehrheit akzeptiertes Gewaltmonopol des Staates, wie auch nicht zu bestreiten ist, dass die Behörden über eine stetig wachsende Menge an Informationen verfügen, doch verändert sich der Gehalt dieser Aussagen nicht durch das Hinzufügen des Kapitalbegriffs, jedenfalls nicht in Bourdieus Vorlesungen. Dafür hätte er genauer zeigen müssen, welches Ansehen oder Prestige mit dem staatlichen Gewaltmonopol verbunden ist und wer konkret davon profitiert.

V. Das politische Feld

Das Konzept des politischen Feldes erlaubt es Bourdieu, den Staat als komplexen Wirkungszusammenhang zu begreifen. Wie komplex die Analyse gestaltet wird, hängt vor allem von der Auswahl der Faktoren ab. Das von Bourdieu selbst erforschte Beispiel ist der französische Wohnungsmarkt, auf dem Hausverkäufer insofern als Repräsentanten des Staates auftreten, als sie die Kreditwürdigkeit des Kunden prüfen und damit ein juridisches Konstrukt reproduzieren (39–41). Die Analyse ist an sich bestechend, sie führt aber dazu, dass das politische Feld schlechterdings grenzenlos wird, weil es mittlerweile fast keinen Bereich mehr gibt, der nicht rechtlich reguliert wäre. Gegen einen solchen Befund wäre methodisch nichts einzuwenden, wenn damit nicht die Behauptung, das politische Feld zeichne sich durch „begrenzte Autonomie“ aus, ihren empirischen Bezug verlieren würde. Ein weiteres Problem resultiert daraus, dass Autonomie bei Bourdieu als die Loslösung von verwandtschaftlichen Beziehungen definiert wird, doch lässt sich dies nicht auf das gesamte politische Feld beziehen, allenfalls auf Teilbereiche. In seiner Studie Der Staatsadel (2004: 75–81) hat er selbst gezeigt, dass die familiäre Herkunft entscheidenden Einfluss darauf hat, ob jemand für den höheren Staatsdienst in Betracht gezogen wird. Ein weiterer Einwand ist, dass die Gegenüberstellung von verwandtschaftlichen Beziehungen und rechtlichen Regelungen, die Bourdieus Annahme eines autonomen politischen Feldes zugrunde liegt, an Überzeugungskraft verliert, sobald man damit beginnt, die Behauptung eines bürokratisch verfassten und damit objektiv zurechenbaren Rechtssystems zu hinterfragen. Leider ist er in den Folgejahren nicht mehr dazu gekommen.

Zum Schluss dieser Besprechung sei darauf hingewiesen, dass Bourdieu die Geschichte und Mechanismen des neuzeitlichen Staates auf äußerst scharfsinnige Weise analysiert. Für eine politisch engagierte Kritik der Staatsmacht sind die Vorlesungen eine überaus nützliche Waffe. Die herausgearbeiteten Probleme ergeben sich, sobald man Bourdieu beim Wort nimmt und seine Theorie auf die historisch-soziologische Analyse staatlicher Praktiken bezieht. Wie mit diesen Problemen umzugehen ist, wird die Bourdieu-Forschung in Zukunft weiter beschäftigen müssen.

Literatur

Bourdieu, Pierre. Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1982.

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Bourdieu, Pierre. Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1998.

Bourdieu, Pierre. Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1999.

Bourdieu. Pierre. „Die politische Repräsentation.“ In Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft, hg. von Pierre Bourdieu, 67–114. Konstanz: UVK, 2001.

Bourdieu, Pierre. Der Staatsadel. Konstanz: UVK, 2004

Bourdieu, Pierre. Science of Science and Reflexivity. Chicago: UCP, 2004.

Bourdieu, Pierre und Terry Eagleton. „Doxa and Common Life: An Interview.“ In Mapping Ideology, hg. von Slavoj Žižek, 265–277. London/New York: Verso, 1994.

Bourdieu, Pierre et al.. Der Einzige und sein Eigenheim. Hamburg: VSA, 2002.

Celikates, Robin. Kritik als soziale Praxis. Gesellschaftliche Selbstverständigung und kritische Theorie. Frankfurt am Main: Campus, 2009.

Deleuze, Gilles. „Die Literatur und das Leben.“ In Kritik und Klinik, hg. von Gilles Deleuze, 11–17. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000.

Foucault, Michel. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Vorlesung am Collège de France, 1977–1978. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2004.

Rancière, Jacques. Le Maître ignorant. Cinq leçons sur l’émancipation intellectuelle. Paris: Fayard, 1987.

Rancière, Jacques. Die Namen der Geschichte. Versuch einer Poetik des Wissens. Frankfurt am Main: Fischer, 1994.

Rancière, Jacques. Der Philosoph und seine Armen. Wien: Passagen, 2010.


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