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Zeitschrift für philosophische Literatur 2. 4 (2014), 60-68

Haugeland, John: Dasein Disclosed. Joseph Rouse [Hrsg.]. Cambridge, Massachusetts, London: Harvard University Press 2013, 291 Seiten. [ISBN 978-0674-07211-4]

Rezensiert von Karl Kraatz (Philipps-Universität Marburg)

Joseph Rouse hat mit der Veröffentlichung des Buches Dasein Disclosed (2013) die Möglichkeit geschaffen, einen umfangreichen Einblick in das Denken John Haugelands und in dessen Interpretation von Martin Heideggers Hauptwerkes Sein und Zeit zu gewinnen. Den Hauptteil des Buches macht ein bisher unveröffentlichtes Manuskript Haugelands zu einem geplanten Heidegger-Buch aus, für das eine genaue und detaillierte Interpretation des publizierten Abschnitts und eine Rekonstruktion der fehlenden Abschnitte von Sein und Zeit geplant war. Durch den Tod Haugelands im Jahr 2010 konnte das Manuskript nicht fertiggestellt werden. Das Manuskript macht auf ca. 100 Seiten Haugelands Gedanken zu einem großen Teil des ersten Abschnittes aus Sein und Zeit zugänglich. Ergänzt wird es von diversen veröffentlichten und bisher unveröffentlichten Essays Haugelands, die direkt oder indirekt etwas mit dem Denken Heideggers zu tun haben. Sie geben Aufschluss über fehlende Abschnitte des Manuskripts und ermöglichen die Einblicknahme in die Entwicklung des Denkens Haugelands zwischen den Jahren 1982 und 2007.

Dieser Einblick wird im Weiteren durch die hilfreiche Arbeit des Herausgebers Joseph Rouse ermöglicht. Mithilfe von Querverweisen, einer verständlichen Einleitung und einem Glossar zentraler Begriffe und Übersetzungen gelingt es ihm, Schlüsselthemen Haugelands und Entwicklungen hervorzuheben, die sonst in Anbetracht der Verschiedenheit der Themen der Essays möglicherweise verdeckt geblieben wären. Dies betrifft auch die Angleichung verschiedener Termini, die Haugeland über die Jahre seiner Auseinandersetzung mit Heidegger und aufgrund seiner Unzufriedenheit mit vielen der üblichen Übersetzungen immer wieder verändert hat.

Das Buch füllt eine Leerstelle, da Haugelands Gedanken zu Heidegger nur aus den bekannteren Essays zugänglich waren, die jedoch anderen, nicht Heidegger spezifischen Themen gewidmet waren. Das Buch ist eine umfangreiche Darstellung von „Haugeland’s Heidegger“, wie es sie vorher nicht gegeben hat.

John Haugeland, der an Universitäten in Chicago und Pittsburgh gelehrt hat, war ein Schüler von Hubert Dreyfus, dessen Einfluss man insbesondere im ersten Essay dieses Buches erkennen kann.

In ‚Heidegger on Being a Person‘ von 1982, das in Dasein Disclosed erneut veröffentlicht wird, führt Haugeland ähnlich wie Dreyfus in seinem Heidegger-Buch (Dreyfus 1991) aus, wie sich durch das Man – verstanden als eine Instanz der sozialen Normativität – die Bedeutungen konstituieren, in denen das alltägliche Leben des Einzelnen seine Form annimmt. Mit Haugelands Worten: „all constitution is institution“ (8). In diesem Slogan spiegelt sich Dreyfus’ Lesart wider, der 1991 schreibt: „all significance and intelligibility is the product of the one [das Man]“ (Dreyfus 1991: 156). Im Kapitel über das Man in Sein und Zeit sieht Haugeland den Schlüssel, um das gesamte Werk zu verstehen (vgl. 5).

Die von Haugeland vorgeschlagene Lesart des ersten Abschnitts von Sein und Zeit ist wenig kontrovers, versteht man diese lediglich als Beschreibung des durchschnittlichen und alltäglichen Lebens des Einzelnen. Erwähnenswert ist, dass diese frühe Interpretation Haugelands ohne thematischen Bezug auf den zweiten Abschnitt von Sein und Zeit auskommt. Der Mehrwert Haugelands Essay besteht in der Klarheit, mit der es ihm gelingt, schwierige Sachverhalte durch einfache Beispiele verständlich zu machen.

Sucht man nach Erklärungen für diese Beschreibung des alltäglichen Lebens, also dafür, warum es sich in dieser Weise verhält, reicht das frühe Erklärungsmodell Haugelands jedoch nicht mehr aus. Die Auslegung der Bezüge unseres Verhaltens durch das Man betrifft nach Heidegger lediglich den Modus der Uneigentlichkeit. Will man das Dasein in seiner ‚Gänze‘ beschreiben, reicht es nicht aus, nur auf dessen uneigentliche Seinsweise im Man Bezug zu nehmen. Wird das Dasein in dem Rahmen einer Frage nach dem Sinn von Sein relevant, was, wie auch Haugeland im Laufe der Jahre immer stärker betont, als das eigentliche Thema von Sein und Zeit gelten muss (und nicht nur die Beschreibung der Strukturen unseres alltäglichen Lebens im ‚Man‘), muss das ganze Dasein in den Blick gebracht werden. Dafür braucht es eine Beschreibung des Modus der Eigentlichkeit, der mithilfe von Konzepten wie Angst, Vorlaufen in den Tod, Entschlossenheit und Schuld im zweiten Abschnitt von Sein und Zeit angezeigt wird (vgl. Heidegger 2006: 231–235).

Es ist spannend zu sehen, wie sich Haugeland innerhalb der 80er und 90er Jahre aus diesen Gründen von seiner alten Position und damit von der Lesart seines Lehrers Dreyfus zu distanzieren beginnt. Die ausgewählten Essays und die Hinweise des Herausgebers gewähren eine klare Sicht auf Haugelands Kritik der einseitigen Betonung des Man und dessen Kennzeichnung als das eigentliche Thema von Sein und Zeit. Haugeland bleibt zwar bei der Auffassung, dass das, was eine Person ist, wesentlich durch das Man bestimmt ist. Dennoch ändert sich Haugelands Perspektive. Mit dem Man könne nur die uneigentliche Lebensweise charakterisiert werden, aber nicht mehr Dasein ‚tout court‘: „But it would be a grievous mistake to suppose – as I once did – that social normativity is therefore the essence of dasein“ (182, siehe auch: Fußnote 7, 10 und 30). Stärkstes Argument für diese Änderung der eigenen Sichtweise ist für Haugeland, dass das ‚eigentliche Dasein‘ zwar die Normativität des Man voraussetze, aber diese in bestimmter Hinsicht auch hinter sich ließe (vgl. 182). In Haugelands Worten: „Dasein’s possible ownedness (‘authenticity’) […] cannot be understood in social-normative terms at all.“ (182)

Die Frage, in welcher Weise das eigentliche Dasein das Man hinter sich lässt oder ob es im Man bleibt, aber in einer Modifikation desselben, wurde in der Heidegger-Forschung immer wieder diskutiert. Mit den frühen Essays Haugelands und dessen Perspektivenwechsel zeichnen sich die Konturen dieser Fragestellung ab. Sie können gleichzeitig gewinnbringend als eine Auseinandersetzung mit seinem Lehrer Hubert Dreyfus gelesen werden. Ausgangspunkt für diese Debatte und die möglichen unterschiedlichen Positionen ist, dass Heidegger in Sein und Zeit nicht durchgehend und konsequent genug davon spricht, dass die Eigentlichkeit nur eine Modifikation der Uneigentlichkeit bedeute, diese aber jene immer voraussetze. Die Spannungen in der Terminologie Heideggers führen zu dem, was Andreas Luckner das „existentialis-tische Missverständnis“ genannt hat: Eine Gleichsetzung des Man mit dem Modus der Uneigentlichkeit und das Verständnis der Eigentlichkeit als komplette Abkapselung von der Welt (Luckner 2001: 155). Einen hilfreichen Lösungsvorschlag hat unlängst Edgar C. Boedeker Jr. unterbreitet, der darin besteht, das Man als Existenzial zu bestimmen, welches demnach immer vorausgesetzt werden muss und dieses vom Man-selbst zu unterscheiden (Boedeker 2001). Die Eigentlichkeit wird in dieser Lesart als eine besondere Weise, in der Uneigentlichkeit zu sein, gedeutet.

Haugelands Essays werfen ein erhellendes Licht auf diese Problematik. Sie zeigen dessen intensives Bemühen, den Spannungen in Heideggers Terminologie und in der Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft gerecht zu werden – getrieben ist Haugeland dabei von der Frage, welchen methodischen Stellenwert der zweite Abschnitt und deren „existential themes“ (44) aus Sein und Zeit innerhalb des Projekts der Fundamentalontologie innehat.

In einer kurzen Einleitung zu seinem geplanten Heidegger-Buch schreibt Haugeland, dass er versuchen will, die auf den ersten Blick thematisch nicht miteinander verbundenden Themenbereiche des ersten und zweiten Abschnittes, – also nach Haugeland (und Dreyfus): ontologische und existenzial-philosophische Fragestellungen –, miteinander zu ‚versöhnen‘: „existentialist themes are not only relevant but actually crucial to the ontology“ (44). Die einseitige Betonung des Man wird aufgegeben. Stattdessen setzt sich Haugeland mit Konzepten wie Angst, Tod und Entschlossenheit auseinander, die in früherer Lesart als ein zu vermeidender Ausrutscher in Richtung der Existenzialphilosophie gedeutet wurden.

Haugelands Essays können hier nicht im Einzelnen besprochen werden. Stattdessen soll der Fokus auf eine originelle Lesart Haugelands gelegt werden, die mit der Frage nach dem Begriff der ‚Eigentlichkeit‘ zu tun hat. Gemeint ist, wie Haugeland das Konzept des Verstehens, das in Sein und Zeit einen hohen Stellenwert einnimmt, um den Aspekt der Verantwortlichkeit (‚responsibility‘) erweitert.

Haugeland unterscheidet zwischen zwei Arten dieser Verantwortlichkeit: ‚ontical‘ und ‚existential‘ (gelegentlich auch: ‚resolute‘ oder ‚authentic‘) responsibility (215). Letztere kennzeichnet das ‚eigentliche‘ Dasein.

Ontische Verantwortlichkeit zeichnet sich dadurch aus, dass man bemüht ist, die Dinge ‚richtig‘ aufzufassen: „getting entities right“ (200). Haugeland spricht davon, dass man, um die Dinge so aufzufassen, wie sie wirklich sind, für bestimmte Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, die den Gegenstand ausmachen, empfänglich (‚responsive‘) sein muss (vgl. 200). In Entlehnung des Heideggerschen Verstehensbegriff geht Haugeland davon aus, dass man begegnende Dinge im Vorhinein auf bestimmte Möglichkeiten entwirft und innerhalb dieses Entwurfs versteht. Sehe ich einen Ball, gehe ich beispielsweise davon aus, dass ich ihn durch genügend Kraftaufwand in Bewegung setzen kann. Gleichzeitig, und dies ist das Innovative an Haugelands Lesart, gehe ich davon aus, dass er nicht einfach verschwinden und wieder auftauchen wird. Haugeland arbeitet damit heraus, dass im Heideggerschen Verstehensbegriff nicht nur der Entwurf auf Möglichkeiten angelegt ist, sondern auch der gleichzeitige Entwurf auf jeweilige Unmöglichkeiten.

Dieses Konzept kann Haugeland gewinnbringend anwenden, um wissenschaftliche Entwicklungen zu veranschaulichen und zu beschreiben. Auch wissenschaftliche Objekte werden nach diesem Muster auf ihre Möglichkeiten und Unmöglichkeiten entworfen. Es ist die ontische Verantwortlichkeit des Wissenschaftlers, so Haugeland, den Gegenstand nach den Kriterien dieser Möglichkeiten zu untersuchen und auf Abweichungen zu reagieren. Daraus ergibt sich „[a] responsiveness to ostensible impossibilities in the current situation,“ und darüberhinaus gilt: „the response must be a refusal to accept current apparent impossibility“ (200). Die ontische Verantwortlichkeit des Wissenschaftlers, die Haugeland hier beschreibt, kennzeichnet sich demnach durch a) eine Empfänglichkeit für Abweichungen und b) persönliches Engagement dafür, dass Unmöglichkeiten nicht toleriert werden.

Auch das Konzept der existenziellen Verantwortlichkeit (‚existential responsibility‘, gelegentlich: ‚resolute‘ oder ‚authentic responsibility‘) wird innerhalb eines wissenschaftsphilosophischen Rahmens eingeführt. Haugelands Anliegen ist es, „to illuminate the existential analytic from the perspective of scientific investigation“ (184). Zwar gewährt Haugelands Ansatz Einsichten in die Strukturen des wissenschaftlichen Erkennens und dessen Entwicklung, dennoch ist es dieser Rahmen, der ein Missverständnis des Heideggerschen Begriffs der Eigentlichkeit nahelegt.

Haugeland referiert textgetreu: Dasein entwirft sich in seinem Verstehen auf jeweilige Möglichkeiten zu sein. In diesem Entwurf sind Gegenstände nach einer bestimmten Weite zugänglich und verständlich. Haugeland wendet dieses Konzept nun auf die Strukturen des wissenschaftlichen Erkennens an. Der Physiker entwirft die zu untersuchenden Gegenstände auf bestimmte Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, die diesen Gegenstand wiederum für die Physik zugänglich machen: sei es die atomare Zusammensetzung oder simpler: das Gewicht dieses Gegenstandes. Kurzum: die Physik macht den Gegenstand in einer besonderen Weise zugänglich (welche von der Zugangsart unseres alltäglichen Umgangs mit diesen Gegenständen in wesentlicher Weise abweicht). In Haugelands Worten: „The domain of physical investigation, for instance, is entities in the ontological region of the physical.“ (185) Der Begriff der Regionalität spielt für Haugeland eine große Rolle, da er mit diesem Unterschiede in den Erkenntnisstrukturen der verschiedenen Einzelwissenschaften erklären kann. Diese ‚haben‘ und untersuchen ihren Gegenstand innerhalb von unterschiedlichen Regionen. Mit diesem Konzept wäre Haugeland soweit gerüstet, die verschiedenen Regionen der Einzelwissenschaften nach ihren jeweiligen Theorien (Axiome) zu untersuchen und zu unterscheiden, aber Haugeland geht es nicht um die Kennzeichnung dieser Regionen im Sinne einer Formalen Ontologie, sondern um die Anerkennung des Phänomens der ‚Regionalität‘ und dessen Implikationen für die Ontologie (vgl. 185).

Wie im Falle der Alchemie geschehen, können (veraltete) Wissenschaften durch andere Wissenschaften abgelöst werden, die die Gegenstände wirklichkeitsgetreu(er) und ohne Abweichungen und Fehler beschreiben können. Es kommt aber nur zu so einer Ablösung, wenn es Wissenschaftler gibt, die mit den Abweichungen ‚entschlossen‘ umgehen, sie nicht ignorieren, sondern es als ihre persönliche Verantwortung sehen, eine Erklärung für die aufgetretene Abweichung zu finden.

Existenzielle Verantwortlichkeit besteht für Haugeland darin, das Risiko einzugehen, diejenigen wissenschaftlichen Erklärungsmuster aufzugeben, die das zu Untersuchende nicht mehr fehlerfrei beschreiben können (vgl. 186). Unverantwortlich verhält sich demnach derjenige, der sich immerfort in einer Region einer Wissenschaft, wie zum Beispiel der Alchemie, bewegt, obwohl diese die zu untersuchenden Gegenstände nur fehlerhaft beschreiben kann. Die Verantwortlichkeit erwächst aus einer Anerkennung des Phänomens der Regionalität und damit aus dem Bewusstsein für die Abhängigkeit der wissenschaftlichen Beschreibung von ihren eigenen Axiomen (vgl. 185). Haugeland geht soweit, das ‚Vorlaufen in den Tod‘, mit dem Heidegger im zweiten Abschnitt von Sein und Zeit ein Charakteristikum der Eigentlichkeit bestimmt, mit dem Verhalten desjenigen Wissenschaftlers gleichzusetzen, dem die Regionalität des wissenschaftlichen Erkennens bewusst wird und der ‚entschlossen‘ ist, jenseits von bestehenden Theorieansätzen nach Lösungen zu suchen (vgl. 186). Dies ist eine von vielen Stellen an denen Haugeland die Ähnlichkeit seiner Lesart Heideggers mit der Idee des ‚Paradigmenwechsels‘ in der Wissenschaftsphilosophie Thomas S. Kuhns betont (vgl. 207).

Das Risiko, das der Wissenschaftler aufnimmt, ist für Haugeland dasselbe Risiko, welches die Person auf sich nimmt, die sich entschlossen mit der eigenen Endlichkeit und mit der Freiheit des Wählenkönnens und -müssens auseinandersetzt. Kurz: Existentiell verantwortlich, d.h. ‚eigentlich‘ ist derjenige, der sich diesem Risiko aussetzt.

Die ‚Krisis‘ im Sinne Kuhns ist für Haugeland dasselbe wie die ‚Angst‘ Heideggers (vgl. 215f.): Was bei Kuhn als Zusammenbruch des „physicist dasein“ – d.h. der Möglichkeiten, einen Gegenstand „via physical theory“ (192) zugänglich zu machen, verstanden werden kann, gilt, so beschreibt es Haugeland, bei Heidegger als Zusammenbruch der Möglichkeiten, die sich aus dem Man ergeben und auf die man sein Leben immer schon ‚entworfen‘ hat.

Der versuchte Brückenschlag Haugelands zwischen Wissenschaftsphilosophie (Kuhn) und Fundamentalontologie (Heidegger) gelingt trotz aller Einsichten in die Strukturen des wissenschaftlichen Erkennens und in die Ähnlichkeit zwischen ‚Krisis‘ und ‚Angst‘, die Haugeland damit ermöglicht, meines Erachtens deshalb nicht, weil Haugeland ein wesentliches Merkmal der Wissenschaft unbeachtet lässt. Heidegger sagt, „daß das Entdecken der betreffenden Wissenschaft einzig der Entdecktheit des Vorhandenen gewärtig ist“ (Heidegger 2006: 363). Merkmal der Wissenschaften ist das ‚Absehen‘ vom Umgang mit Gegenständen, in welchem uns diese in bestimmter Weise verständlich sind. Das Entdecken der Wissenschaften kommt einer „Objektivierung“ (ebd.) gleich, die durch dieses Absehen vom Umgang mit den Gegenständen erst ermöglich wird.

Haugeland gerät durch das Nichtbeachten dieses Merkmals der Wissenschaften in eine Sackgasse, wenn er dem ‚eigentlichen‘ Wissenschaftler zuschreibt, dass dieser sich an ein Ideal von ‚objektivem Wissen‘ hält, was von den entdeckten Gegenständen selbst vorgezeichnet wird (vgl. 218f.). Der Zusammenbruch des ‚physicist dasein‘ resultiert bei Haugeland, der darin mehr Kuhn folgt als Heidegger, in einer exakteren Wissenschaft. Wird aber damit nicht das Potential des Zusammenbruchs untergraben? Der Zusammenbruch, der bei Heidegger in der Extremsituation der ‚Angst‘ beschrieben wurde, zeichnet sich zum einen durch eine ‚Formalität‘ aus, die offenlässt, auf was sich das Dasein entwerfen soll. Bei Haugeland geben die Gegenstände vor, in welcher Weise sie aufgefasst werden sollen. Sie geben etwas vor, an das sich Dasein halten kann – wirken sie damit dem ‚Zusammenbruch‘ des Daseins nicht entgegen?

Zum anderen zeichnet sich die ‚Angst‘ durch das Merkmal der ‚Vereinzelung‘ aus. Dasein ist in dieser Situation auf sich allein gestellt, auf sein „solus ipse“ (Heidegger 2006: 188). Der ‚eigentliche Wissenschaftler‘, wenn es diesen überhaupt geben kann, weicht der Vereinzelung mithilfe der Objektivierung aus, flieht vor ihr. Denn was objektiv gilt, gilt unabhängig von meinem ‚Ich‘. Zeichnen sich die Objektivierungstendenzen der Wissenschaft nicht gerade durch eine „Verdrängung des Ichlichen“ (Heidegger 1999: 73ff) aus? Muss unter der Tendenz zur Wissenschaft deshalb nicht eigentlich die Gegenbewegung zur Vereinzelung verstanden werden?

In den frühen Freiburger Vorlesungen Heideggers gibt es genügend Anhaltspunkte, die nahelegen, dass die Rede von einem ‚eigentlichen Wissenschaftler‘ problematisch ist. Haugelands Schlussfolgerung des letzten Essays: „the objectivity […] of scientific thought – and, by extension, all thought – depends essentially on a certain rather rich structure of self-criticism and responsibility“ (274) muss vor dem Hintergrund problematisiert werden, dass bei Heidegger die ‚Angst‘ niemals in Objektivierungstendenzen resultiert, sondern diesen gerade entgegengesetzt ist.

Die Parallelen, die Haugeland zwischen Wissenschaftsphilosphie und Fundamentalontologie zeichnet, sind bis zu einem bestimmten Grad nachvollziehbar. In dem Moment jedoch, in dem Haugeland versucht, die Idee einer ‚eigentlichen Wissenschaft‘ zu entwerfen, gerät das Bild ins Wanken. Eigentlichkeit zeichnet sich bei Heidegger durch Formalität aus – sie ist ein ‚Wie‘, und nicht durch ein ‚Was‘, nämlich den Entwurf auf exaktere Wissenschaft, festgelegt.

Mit dem Begriff der ‚existential responsibility‘ kann Haugeland Strukturen des wissenschaftlichen Erkennens und der Entwicklung dieser erhellen. Haugeland arbeitet gewinnbringend heraus, dass Fehler in Messungen und Experimenten zu einem Zusammenbruch der Welt des Wissenschaftlers führen können und damit ähnliche Strukturmerkmale aufweisen, die Heidegger im Zusammenhang mit dem Phänomen der ‚Angst‘ beschrieben hat. Haugeland geht meines Erachtens einen Schritt zu weit, wenn er diesen Zusammenbruch in einer ‚Entwicklung‘ der Wissenschaften resultieren lässt. Damit ist der eigentliche Sinn dieses Zusammenbruchs, den Haugeland im Übrigen in außergewöhnlicher Klarheit herausgearbeitet hat, untergraben: Der Zusammenbruch hat den Sinn, das Dasein mit der Fragwürdigkeit jeder seiner Entwürfe zu konfrontieren und dadurch die Wichtigkeit und Dringlichkeit der Frage nach dem Sinn von Sein herauszustellen (vgl. 215).

Wollte man Haugeland kritisieren, könnte man ihm vorwerfen, dass er sich nicht eng genug an die Texte Heideggers gehalten hat. Der Leser wird an manchen Stellen das Gefühl nicht los, dass Heidegger mit großer Mühe so zurechtgebogen wird, dass er in bestimmte Diskurse hineinpasst. Man hat dann beispielsweise das Gefühl, Kuhn in der Sprache Heideggers zu lesen. Aber Haugelands Anspruch ist nicht der einer genauen Textexegese, sondern die produktive Auseinandersetzung mit Fragen der Wissenschaftsphilosophie, Sprachphilosophie oder der Forschung zur Künstlichen Intelligenz.

Haugeland geht Wege, die vor ihm noch kaum einer gegangen ist. Heidegger wird auf diesen Wanderungen mitgenommen und immer wieder zu Rate gezogen, ob er will oder nicht. Das soll Haugeland keineswegs zu Last gelegt werden. Im Gegenteil: „Haugeland’s Heidegger“ zeichnet sich durch Produktivität und Kreativität aus, die man auch indirekt in den Arbeiten von Haugelands Schülern zu spüren bekommt. Seien es die Texte von William Blattner, die von Matthew Shockey oder die von Joseph Rouse: man stößt in ihnen immer wieder auf ‚Haugeland’s Heidegger‘, dessen Aktualität in der amerikanischen Heidegger-Forschung immer noch immens ist. Für wen die Aktualität von Gedanken ein Kriterium ist, für den ist die Lektüre Haugelands Buch von daher sehr empfehlenswert.

Was das Buch Haugelands in erster Linie leistet, ist die gewinnbringende Annäherung von aktuellen Fragestellungen der ‚analytischen‘ Philosophie an die Philosophie Heideggers. Es leistet damit das, was sich Haugeland selbst zum Ziel seines Heidegger-Buches gesetzt hat: „[to] encourage more noninsular work on Heidegger“ (47). Es zeigt aber gleichzeitig die Grenzen dieser Annäherung. Heidegger hat sich nicht ohne Grund immer wieder gegen die Einteilung der Philosophie in Disziplinen ausgesprochen. Der Versuch, Heidegger zu einem Wissenschaftsphilosophen à la Kuhn zu erklären, gelingt daher nur unter gewissen Vorbehalten. Die Originalität und die Klarheit Haugelands Interpretationen – die durch die hervorragende Arbeit des Herausgebers Joseph Rouse den letzten Feinschliff bekommen hat – macht dieses Buch trotzdem lesenswert.

Literatur

Boedeker Jr., Edgar C. „Individual and Community in Early Heidegger: Situating das Man, the Man-self, and Self-ownership in Dasein’s Ontological Structure“ Inquiry: An Interdisciplinary Journal of Philosophy. Vol. 44.1, 2001, 63-99.

Dreyfus, Hubert. Being-in-the-World. Cambridge, MA: MIT Press 1991.

Haugeland, John. Artificial Intelligence: The Very Idea. Cambridge, MA: MIT Press, 1985.

Heidegger, Martin. Sein und Zeit. 19. Aufl. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 2006 [1927].

Heidegger, Martin. Zur Bestimmung der Philosophie. Gesamtausgabe Bd. 56/57. 2. Aufl. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann, 1999 [1987].

Luckner, Andreas. Wie es ist, selbst zu sein. Zum Begriff der Eigentlichkeit. In: Martin Heidegger: Sein und Zeit (Klassiker Auslegen Bd. 25), hg. von Thomas Rentsch, 149-168. Berlin: Akademie Verlag 2001.

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