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Hoyningen-Huene, Paul: Systematicity. The Nature of Science. New York: Oxford University Press 2013. 287 Seiten. [ISBN: 978-0-19-998505-7]

Rezensiert von Markus Seidel (Universität Münster)


In der jüngeren, wissenschaftstheoretischen Forschungslandschaft offenbart sich ein immer stärkerer Trend zur Diskussion von Fragestellungen der speziellen Wissenschaftstheorie. Es scheint nicht die Zeit großer Entwürfe in der allgemeinen Wissenschaftstheorie vom Schlage einer Logik der Forschung oder einer Struktur wissenschaftlicher Revolutionen zu sein. Wie so oft bringt diese Form der Spezialisierung Vor- und Nachteile mit sich: Gesteigerte Fokussierung und daraus folgende Forschungsintensität geht einher mit der Gefahr, den Blick für das „große Ganze“ zu verlieren.

In seinem aktuellen Buch Systematicity. The Nature of Science scheut sich Paul Hoyningen-Huene (im Folgenden: H-H) nicht, das große Ganze der Wissenschaftstheorie zum Thema zu machen, indem er anstrebt, „die zentrale Frage der allgemeinen Wissenschaftstheorie“ (7; alle Übersetzungen M.S.) zu beantworten: Was ist Wissenschaft? Traditionell orientierte sich – etwa beim Wiener Kreis und Popper – eine Beantwortung dieser Frage in der Wissenschaftstheorie an der Diskussion um das Abgrenzungskriterium zwischen (Natur-)Wissenschaft und Metaphysik/Pseudowissenschaft, und auch H-H schreckt nicht davor zurück, Stellung in dieser klassischen Debatte zu beziehen (vgl. Abschnitt 5.4). Dennoch ist der Autor besonders am Unterschied zwischen wissenschaftlichem Wissen – und „wissenschaftlich“ schließt hier alle möglichen Disziplinen der Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften ein – und Alltagswissen interessiert. Seine Hauptthese ist dabei:

Wissenschaftliches Wissen unterscheidet sich von anderen Arten des Wissens, besonders von Alltagswissen, in erster Linie dadurch, dass es systematischer ist. (14)

Zur Begründung dieser Antwort erläutert H-H in Kapitel 2 des Buches zunächst, wie genau seine These und der Begriff der Systematizität zu verstehen sind. Entscheidend scheinen mir hier besonders drei Punkte zu sein: Erstens fasst H-H sein Unternehmen als ein deskriptives und nicht in erster Linie normatives Unternehmen auf: Obwohl er bestimmte normative Konsequenzen seiner These ebenfalls bespricht (vgl. Abschnitt 5.3) soll die These „beschreiben wie Wissenschaft tatsächlich ist“ (21) und nicht vorschreiben wie Wissenschaft sein sollte. Zweitens ist die These als komparative These zu verstehen: H-H behauptet nicht, dass nicht-wissenschaftliches Alltagswissen nicht auch systematisch sein kann, sondern nur dass wissenschaftliches Wissen systematischer als vergleichbares, nicht-wissenschaftliches Wissen ist (vgl. 22-4). Drittens hält H-H eine abstrakte Klärung des Begriffs der Systematizität nur für begrenzt hilfreich und zielt darauf, den Begriff konkret in spezifischen Kontexten zu explizieren. Letztlich, so H-H, bestehen zwischen den so explizierten Systematizitätsbegriffen nicht mehr als Familienähnlichkeitsbeziehungen (vgl. 26-8).

Diese letzte Überlegung führt zum argumentativen Kern des Buches im dritten Kapitel. Hier behandelt H-H insgesamt neun verschiedene Dimensionen, in denen wissenschaftliches Wissen systematischer als nicht-wissenschaftliches Wissen sein soll: Beschreibungen, Erklärungen, Vorhersagen, die Verteidigung von Wissensansprüchen, kritischer Diskurs, epistemische Vernetztheit, das Ideal der Vollständigkeit, Wissensvermehrung und die Darstellung/Repräsentation von Wissen. Detailliert und selbst äußerst systematisch bespricht H-H diese Dimensionen anhand konkreter Beispiele aus den Wissenschaften. Da er seine Kernthese nicht in Konkurrenz zu traditionellen Antworten auf die Hauptfrage, sondern als Erweiterung derselben sieht, liefert Kapitel 4 einen synoptischen Abgleich mit anderen Positionen: H-H bespricht hier Aristoteles, Descartes, Kant, den logischen Empirismus, Popper, Kuhn, Feyerabend und Rescher. Im abschließenden fünften Kapitel werden die Konsequenzen der im Buch verteidigten Hauptthese ausgelotet: H-H entwickelt an dieser Stelle die Grundlagen einer auf dem Systematizitätsbegriff aufbauenden Fortschrittstheorie und äußert sich – wie bereits erwähnt – auch zum klassischen Problem der Demarkation.

Insgesamt ist das Buch sehr empfehlenswert. Zum Ersten ist es zu begrüßen, dass sich H-H hier einer Fragestellung annimmt, die tatsächlich zentral für den Zusammenhalt der inzwischen recht disparaten Forschungstendenzen in der Wissenschaftstheorie ist, vor deren Bearbeitung allerdings viele aktuelle Wissenschaftstheoretiker zurückschrecken. Zum Zweiten scheint mir H-H tatsächlich einen wichtigen und auch richtigen Beitrag zur Beantwortung der Frage zu leisten: Von den gleich anzumerkenden Ausnahmen einmal abgesehen argumentiert er für seine Thesen überzeugend, solide und klar. Zum Dritten kann das Buch als Musterbeispiel für professionelle Wissenschaftstheorie dienen, die sich einem interessierten, aber nicht mit wissenschaftstheoretischen Spezialdebatten beschäftigten Publikum nicht verschließt. Aus meiner Sicht bietet das Buch neben der Argumentation für die Kernthese quasi nebenbei eine exzellente Einführung in viele Kerndiskussionen der Wissenschaftstheorie. (Als Beleg für den letzten Punkt sei darauf hingewiesen, dass der Verfasser dieser Rezension das Buch im Wintersemester 2013/14 im Rahmen eines interdisziplinären Arbeitskreises für Wissenschaftstheorie an der Universität Münster bestehend aus TeilnehmerInnen aus den Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften vom Bachelorstudierenden bis hin zum Professor diskutiert und besprochen hat. Die Lebhaftigkeit der kontroversen und teilweise sehr kritischen Diskussionen, die auch wesentlich in die kritischen Bemerkungen dieser Rezension eingeflossen sind, ist aus meiner Sicht ein Beleg für die Qualität und Zugänglichkeit des Buches.)

Es ist dem Buch daher zu wünschen, dass es breit rezipiert und diskutiert wird. Letzteres besonders deshalb, weil H-H zwar tatsächlich grundsätzlich Recht hat, die höhere Systematizität wissenschaftlichen Wissens zum Merkmal des Unterschieds zum Alltagswissen zu machen, es aber weiterer Diskussion bedarf, um einige Schwächen des Buches auszumerzen.

Zuerst – und dies betrifft nicht direkt einen inhaltlichen Punkt – ist das Buch editorisch zu bemängeln. So setzt H-H keine Verweise auf die Endnoten im Fließtext, da er hofft, dass dieses Format zu einem leichteren Lesen des Textes führt (xi). Tatsächlich jedoch ist dieses Format nicht vorteilhaft: Beim Lesen des Textes bemerkt der Leser nicht, dass es womöglich hinten eine Anmerkung gibt. Das Verzeichnis ist somit aus meiner Sicht weitgehend überflüssig, da für den Leser kaum sinnvoll nutzbar. Außerdem ist es teilweise fehlerhaft geordnet: So wird beispielsweise in einer Endnote zu S. 101 auf eine frühere [!] Bemerkung zum Sokal-Hoax zu einer Endnote zu S. 111 verwiesen: Zwar findet sich die Bemerkung tatsächlich früher in einer Endnote – allerdings einer Endnote zu S. 78. Der letztgenannte Fehler scheint zudem auf eine mangelnde Endkorrektur besonders der Querverweise und des Index zurückzuführen zu sein. So gibt es zum Beispiel auf S. 127 gleich mehrere falsche Verweise – unter anderem auch einen Verweis auf den nicht existierenden Abschnitt 3.3.8. Und auch im Index finden sich mehrere falsche Angaben (z.B. unter „Francis Bacon“). Für eine mangelnde Endkorrektur sprechen zudem vermeidbare Flüchtigkeitsfehler – so etwa „Gottlieb Frege“ (143 und 281). Vor einer möglichen Zweitauflage, die dem Buch durchaus zu wünschen ist, ist somit eine gründlichere Endreaktion als offenbar bei der Erstauflage anzustreben sowie zu überlegen, das Endnotenverzeichnis weniger innovativ, dafür aber verwendbar zu gestalten.

Zum Zweiten ist der Untertitel des Buches „The Nature of Science“ mehr als missverständlich. H-H macht zwar geltend, dass die Frage „Was ist Wissenschaft?“ synonym mit der Frage „Was ist die Natur der Wissenschaft?“ sei (xi), betont jedoch, dass er bei der Beantwortung dieser Frage nicht nach dem Wesen oder der Essenz der Wissenschaft sucht (10f.). Im Buch, so H-H, „setzt die Frage ‚Was ist Wissenschaft?‘ nicht voraus, dass es so etwas wie die ‚Natur‘ der Wissenschaft gibt“ (209). Vor diesem Hintergrund muss man sich jedoch fragen, warum H-H mit dem Titel Systematicity. The Nature of Science suggeriert, dass es eben doch eine Natur der Wissenschaft gibt, die gerade in ihrer (höheren) Systematizität liegt. Auch wenn H-Hs Position im Buch diesbezüglich unmissverständlich ist, weckt der Titel womöglich falsche Erwartungen bei seinen LeserInnen.

Drittens – und dies betrifft einen wichtigen inhaltlichen Punkt – ist an einigen Stellen die genaue Stärke von H-Hs Kernthese unklar. Sie besagt im Wortlaut erst einmal nur, dass das Wissen eines wissenschaftlichen Bereichs gegenüber dem Wissen eines nicht-wissenschaftlichen Bereichs durch den höheren Grad an Systematizität ausgezeichnet ist (vgl. 14). Daraus folgt offensichtlich nicht, dass die höhere Systematizität des Wissens eines bestimmten Bereichs in Relation zum Wissen eines anderen Bereichs hinreichend dafür ist, den ersten Bereich zu den Wissenschaften zu zählen. Jedoch legen einige Formulierungen H-Hs nahe, dass er seine These auch in diesem letzten, stärkeren Sinne auffasst. So präsentiert H-H im Zusammenhang seiner Diskussion, ob Marktforschung von Unternehmen als Wissenschaft zu gelten habe, das folgende Argument, das er dann später aus anderen Gründen zurückweist:

[D]as Wissen der Firma B über den Markt ist viel systematischer als das Wissen der Firma A […]. Deshalb sollte, gemäß unserer Hauptthese, das Wissen der Firma B als Wissenschaft eingestuft werden. (114)

H-H wendet gegen die Einstufung des Wissens der Firma B als Wissenschaft später ein, dass dieses Wissen nicht systematisch mit anderem Wissen epistemisch vernetzt ist (vgl. 121). Doch unabhängig davon scheint H-H die Schlussfolgerung im obigen Zitat nicht als problematisch zu empfinden. Aber die Konklusion folgt hier keineswegs aus H-Hs ursprünglicher Formulierung der Hauptthese des Buches; nur dann, wenn höhere Systematizität des Wissens eines Bereichs gegenüber dem Wissen eines anderen auch hinreichend für Wissenschaftlichkeit ist, kann Ersterer als Wissenschaft gelten. Angesichts derartiger Ungenauigkeiten (auf 122 des Buches findet sich eine weitere Stelle gegen die dieser Einwand erhoben werden kann) bleibt die genaue Stärke der Hauptthese des Buches für die LeserInnen gelegentlich unklar.

Viertens ist H-Hs Vorgehen, den Begriff der Systematizität nicht primär abstrakt, sondern konkret anhand von Beispielen aus den Wissenschaften entlang der neun Dimensionen klären zu wollen, dem Gegenstand der Untersuchung zwar sicherlich angemessen. Doch leider enttäuscht H-Hs Klärung den Leser in Kapitel 3 insofern an mehreren Stellen, als er weitgehend damit allein gelassen wird, den anhand des konkreten Beispiels herausgearbeiteten Sinn von Systematizität zu explizieren: Zumeist endet die Besprechung eines Unteraspekts der neun Dimensionen mit H-Hs schlichter Bemerkung, dass es „offensichtlich“ (43 zweimal, 46, 49, 53, 58, 81, 107, 113), „evident“ (81), „klar“ (88, 103, 108) oder „selbstverständlich“ (93, 102, 106) sei, dass im untersuchten Bereich wissenschaftliches Wissen systematischer ist. Nun ist der Verfasser dieser Rezension keineswegs der Auffassung, dass H-H an diesen Stellen mit seiner Behauptung der Offensichtlichkeit falsch liegt – es ist tatsächlich offensichtlich und klar, dass in den besprochenen Bereichen ein höherer Grad an Systematizität auszumachen ist. Doch vor dem Hintergrund von H-Hs Ziel, den Begriff der Systematizität anhand der konkreten Kontexte zu klären, trägt die Feststellung, dass in diesen Kontexten Systematizität vorliegt, wenig bei. Auch wenn der Begriff der Systematizität abstrakt nicht abschließend zu klären ist und die verschiedenen Systematizitätsbegriffe nur durch Familienähnlichkeiten zusammengehalten werden, ist dadurch die explizite Klärung der spezifischen, impliziten Bedeutung von Systematizität in einem konkreten Kontext ja keineswegs unsinnig, überflüssig oder unnötig. Gerade hier hätte das Buch dadurch gewonnen, wenn H-H am Ende der einzelnen Unterabschnitte in Kapitel 3 die Frage „Welchen Sinn von ‚Systematizität‘ können wir in diesem konkreten Kontext ausmachen?“ direkt beantwortet hätte. Dieser Mangel ist besonders deshalb bedauerlich, da H-H an vielen verstreuten Stellen tatsächlich andeutet, welche Bedeutung „Systematizität“ haben kann: H-H liefert den LeserInnen immens viele potentielle Bestimmungen der Hinsichten, in denen wissenschaftliches Wissen systematischer als Alltagswissen ist. So bringt H-H den Grad der Systematizität unter anderem mit dem Grad der Vollständigkeit (27), dem Grad der Ordnung (27, 41), dem Grad der Detailliertheit (45), dem Grad der Akkuratheit (47), dem Grad der Methodizität (51), dem Grad der Vereinheitlichung (61), dem Grad der Bestätigung (68), dem Grad der Ausgereiftheit (‚sophistication‘) (87, 101), dem Grad der Verlässlichkeit (102), dem Grad der Sorgfalt (108) und dem Grad der epistemischen Vernetztheit (120) in einen Zusammenhang. Eine systematischere Beschreibung, Erläuterung und Zusammenführung dieser Aspekte von Systematizität hätten H-Hs Argumentation im Kernkapitel 3 des Buches noch überzeugender gestaltet.

Meine kritischen Anmerkungen sollen den grundsätzlich positiven Eindruck keineswegs relativieren: Da die angesprochenen Mängel weitgehend durch simple Klärung auszuräumen sind, ist zu hoffen, dass in der Diskussion um das Buch H-Hs im Kern richtige These die eventuell noch nötige Verfeinerung erfährt. Zudem ist es wohl kaum verwunderlich, dass ein Buch, das das „große Ganze“ in den Blick nimmt, einiges Material für kritische Anmerkungen liefert. In jedem Fall bietet das Buch aufgrund seiner guten Zugänglichkeit idealen Anlass zur Diskussion zwischen professionellen – im Sinne von ‚der Profession nach‘ – WissenschaftstheoretikerInnen und wissenschaftstheoretisch interessierten WissenschaftlerInnen. Gerade wenn man – wie der Verfasser dieser Rezension – als Wissenschaftstheoretiker an einer nicht nur philosophisch ausgerichteten Fakultät beschäftigt ist, kann man jedes Buch, das entsprechenden Anlass bietet, nur begrüßen.


Für wertvolle Anstöße, die diese Rezension wesentlich beeinflusst haben, bin ich allen TeilnehmerInnen des Arbeitskreises Wissenschaftstheorie am Zentrum für Wissenschaftstheorie der WWU Münster im Wintersemester 2013/14 dankbar. Ein besonderer Dank gilt Julia F. Göhner, deren Hinweise die Rezension entscheidend verbessert haben.

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