Artikel als PDF herunterladen

Zeitschrift für philosophische Literatur 2. 4 (2014), 24-32

Christoph Halbig und Tim Henning (Hrsg.): Die neue Kritik der instrumentellen Vernunft. Texte aus der analytischen Debatte um instrumentelle Rationalität. Berlin: Suhrkamp 2012. 403 Seiten. [978-3-518-29639-4]

Rezensiert von Tim-Florian Goslar, Bergische Universität Wuppertal

Howards Lebenserwartung könnte durch eine Reihe von Injektionen immens gesteigert werden. Howard weiß darum, lehnt die medizinische Behandlung jedoch ab. Seine Angst vor Spritzen stellt ein zu großes Hindernis dar. Hätte Howard keine Angst vor Spritzen, würde er die Behandlung zulassen, wäre es doch klüger, sich den Injektionen auszusetzen, um ein langes und glückliches Leben zu befördern, auf das er es doch eigentlich anlegt (vgl. den Beitrag von Korsgaard, 170f. – im Folgenden werden alle Beiträge im Band ohne Jahrezahl zitiert). Handelt Howard in diesem Fall irrational? Angenommen, ein guter Freund möchte ein Gemälde von Picasso kaufen und steht just in diesem Moment vor einem Gemälde Picassos. Das Problem ist: Er weiß es nicht (so Gibbons in Anlehnung an Michael Smith, 259). Hat der Freund einen Grund, das Gemälde zu kaufen oder nicht? Du möchtest unbedingt einmal mit einer Achterbahn fahren, doch bei jedem Versuch hält deine Angst dich davon ab. Du möchtest einen Film sehen, der aktuell in den Kinos läuft, doch deine Faulheit überwiegt. Du möchtest mit jemandem ausgehen, bist jedoch zu schüchtern, denjenigen oder diejenige anzusprechen, du möchtest arbeiten, aber deine Depression lässt das nicht zu (vgl. Korsgaard, 172). Ist das Unterlassen von Handlungen aus Angst, Faulheit, Schüchternheit, Depression oder Unwissen irrational? Unterstellen wir nicht zwangsläufig Irrationalität, sobald jemand darauf verzichtet, die notwendigen Mittel zu seinem Ziel zu ergreifen?

I.

In dem vorliegenden Band Die neue Kritik der instrumentellen Vernunft versammeln die Herausgeber Beiträge einer Debatte aus dem angloamerikanischen Sprachraum, die in den letzten Jahren innerhalb der analytischen Philosophie geführt wurde. Mit Ausnahme des Beitrags von Michael Bratman aus dem Jahre 1981 und John Gibbons aus dem Jahre 2010 wurden die Beiträge im Original zwischen 1997 und 2005 veröffentlicht und reichen von traditionellen analytischen, der Logik nahestehenden Argumentationen (so z. B. der Beitrag John Broomes) bis hin zu solchen, die auf eine streng logische Beweisführung verzichten und im Umkreis postanalytischer Philosophie anzusiedeln sind (so etwa Korsgaards Beitrag; zur Entwicklung der analytischen Philosophie vgl. Schnädelbach 2004). Die Herausgeber stellen den Beiträgen eine umfangreiche Einleitung voran, die erstens in die Thematik einführt und die zentralen Probleme und Fragestellungen erläutert, mit denen sich die Beiträge auseinandersetzen, zweitens die nachfolgenden Beiträge in Hinblick auf die zuvor herausgestellten Kernprobleme zusammenfasst und darüber hinaus in Konstellationen zusammenführt – letzteres erfolgt anhand dreier von den Herausgebern identifizierten Argumentationsstrategien. Drittens schließt die Einleitung mit einer Kontextualisierung, um die Neue Kritik mit den traditionellen Formen der Kritik der instrumentellen Vernunft in Verbindung zu bringen.

II.

Die einleitend genannten Beispiele verweisen bereits auf das Kernproblem, dem sich die Beiträge des Bandes widmen: der Selbstverständlichkeit, dass es als rational gilt, die Mittel zu gebrauchen, die geeignet erscheinen, unsere Ziele zu erreichen. Wird im Umkehrschluss nicht-instrumentelles Verhalten gemeinhin der Irrationalität bezichtigt, hält Normativität Einzug: Rational Handelnde sollen die geeigneten Mittel zu ihren Zielen ergreifen, jede Abweichung von dieser Norm gilt als irrational und inkohärent. Wie ließe sich z. B. eine unterlassene Handlung erklären, obgleich Ziel und Mittel klar und deutlich vor Augen stehen, ohne das Unterlassen als irrational zu disqualifizieren?

Der Begriff des „normativen Handlungsgrundes“ bietet den Herausgebern zufolge einen möglichen Erklärungsansatz: „Wer keinen hinreichenden Grund hat, ein bestimmtes Ziel anzustreben, hat auch keinen Grund, die Mittel zur Erreichung desselben zu ergreifen“ (8). Im Folgenden arbeiten sich die verschiedenen Beiträge an der Frage ab, wie das Prinzip, das uns Gründe gibt, mit dem Prinzip des rational-instrumentellen Handelns in Übereinstimmung zu bringen ist, scheinen doch beide Prinzipien grundlegend unsere Handlungen zu bestimmen und insofern gleichermaßen Geltung zu beanspruchen, als sie Bedingungen darstellen, unter denen wir handeln sollen – eine „unverbundene[] Koexistenz“ (8) beider Formen führt zwangsläufig zu Konflikten.

Zusammengenommen führen – so die Problemstellung, die die Herausgeber in der Einleitung identifizieren – diese beiden zunächst unverbundenen Prinzipien auf formaler Ebene zu absurden Konsequenzen. Das Prinzip der instrumentellen Rationalität setzt voraus, dass Handelnde die bekannten oder geeigneten Mittel zu ihren Zielen ergreifen sollen. Mögliche Handlungsgründe sind an dieser Stelle zunächst nicht von Belang. Das Prinzip des Handlungsgrundes setzt wiederum voraus, dass Handelnde nur dann einen hinreichenden Grund haben, die Mittel zur Erreichung ihrer Ziele zu ergreifen, wenn sie auch einen hinreichenden Grund haben, das infrage stehende Ziel zu verwirklichen. An dieser Stelle wiederum ist das Prinzip instrumenteller Rationalität allenfalls von untergeordneter Relevanz. Beide Prinzipien, zunächst unabhängig voneinander formuliert, scheinen ebenso unabhängig voneinander unsere Wahl der Mittel oder Gründe auf je ihre Weise normativ zu bestimmen.

Zusammengenommen führen beide Prinzipien jedoch zu der absurden Konsequenz, dass wer das rational-instrumentelle Prinzip verfolgt – die bekannten und geeigneten Mittel zu seinem Ziel zu ergreifen –, immer schon einen hinreichenden Grund zur Ergreifung des Mittels und so auch automatisch zur Verfolgung des entsprechenden Ziels zu haben scheint oder umgekehrt: Die bloße Absicht, ein Ziel zu verfolgen, führt auf formaler Ebene dazu, dass die Umsetzung implizit immer schon „normativ gut begründet ist“ (Halbig und Henning, 9). Im Zuge der analytischen Formalisierung und Engführung beider Prinzipien sind noch keinerlei Annahmen über den Kontext, die Handelnden selbst oder deren Ziele getroffen worden; das Prinzip instrumenteller Rationalität überformt und bestimmt so scheinbar normativ unsere Handlungsgründe: „Die Frage nach Gründen könnte uns bei der Wahl von Zielen nicht anleiten.“ (Halbig und Henning, 10)

In dem vorliegenden Fall wird etwas, „für das eine unabhängige Begründung gefordert ist, selbst zur eigenen Begründung herangezogen“ (Halbig und Henning, 10); um dies zu vermeiden, muss – aufgrund der engen Zusammengehörigkeit beider Prinzipien – nachgewiesen werden, dass unsere Handlungsgründe von anderen Faktoren abhängen, als von der bloßen Festlegung auf ein bestimmtes Ziel. Das Paradox, dass die Normativität des instrumentellen Prinzips zugleich immer auch unsere Handlungsgründe normativ zu bestimmen scheint, führt Die neue Kritik zu ihrem eigentlichen Gegenstand: Es gilt, „die Gültigkeit instrumenteller Normen rundheraus in Frage“ (Halbig und Henning, 8) zu stellen. Auf dem Prüfstand steht, inwiefern bzw. ob die instrumentelle Vernunft überhaupt Normativität vorzugeben imstande ist und wenn, inwieweit sie im Zuge dessen von anderen Einflussfaktoren abhängt.

III.

Angesichts des Problems, das Verhältnis zwischen der Normativität instrumenteller Rationalität und der Normativität von Handlungsgründen zu bestimmen, gruppieren die Herausgeber die Beiträge in Hinblick auf drei mögliche Argumentationsstrategien. Die erste Gruppe bilden die Beiträge von Michael Bratman, John Broome und R. Jay Wallace, die eine Strategie weiterführender Differenzierungen im Geflecht aus Gründen und Rationalität verfolgen. Keines der beiden Prinzipien wird als grundlegend ausgewiesen, so dass eines aus dem anderen abgeleitet werden könnte. Vielmehr gilt es zu fragen, welcher Ort dem instrumentellen Denken in unserem „gesamten System“ (Bratman, 69) aus Wünschen, Gründen, Überzeugungen, Plänen und Absichten zuzuweisen ist sowie welchen Einfluss es überhaupt auf die Entscheidungen und Handlungen unseres praktischen Lebensvollzugs nehmen kann.

Die anderen beiden Beitragsgruppen verfolgen keine Strategie weitergehender Differenzierungen, sondern plädieren auf der einen Seite für das Primat eines umfassenderen Rationalitätsverständnisses – so Christine Korsgaard, Stephen Darwall und John Gibbons. Auf der anderen Seite plädieren Niko Kolodny und Joseph Raz für das Primat des Prinzips der Handlungsgründe. Für beide Gruppen gilt es auszuloten, inwieweit Rationalität oder Gründe unsere Handlungsentscheidungen bestimmen und uns normativ zu beeinflussen imstande sind.

Die zweite Gruppe von Beiträgen weist das umfassendere Rationalitätsverständnis als normativ bestimmend aus, das sich weder im Prinzip der instrumentellen noch im Prinzip der Gründe erschöpft. Über das instrumentelle Prinzip hinaus entscheiden immer auch die Perspektiven und Standpunkte der Handelnden darüber, welche Gründe im Bereich der praktischen Rationalität zur Umsetzung von Handlungen führen. Praktische Handlungsgründe sehen sich an diverse, rationale Einstellungen der Handelnden verwiesen, ohne auf das Prinzip instrumenteller Rationalität reduziert werden zu können.

Die dritte Gruppe sieht dagegen das Prinzip der Handlungsgründe als grundlegende, Normativität stiftende Form an – die instrumentelle Rationalität kann schlichtweg keine Normativität generieren, wird sie Kolodny zufolge doch erst aus dem Prinzip der Gründe abgeleitet. Doch auch diese abgeleitete Form der Rationalität entpuppt sich schlussendlich als eine nur scheinbare – Kolodny und weitaus deutlicher Raz gehen dazu über, die instrumentelle Vernunft als Mythos zu verabschieden. Angesichts des beschriebenen Ausgangsproblems unterlassen sie es jedoch nicht, zumindest zu erörtern, wie der Eindruck entstehen kann, dass das Prinzip instrumenteller Rationalität die vorherrschende und die Normativität unserer Handlungen bestimmende Form praktischer Rationalität sei.

Exemplarisch sei im Folgenden kurz auf je einen Beitrag aus den drei Gruppen eingegangen. Wallace möchte zunächst ein entscheidendes Vorurteil gegenüber der instrumentellen Rationalität entkräften: die Annahme, dass die Normativität rational-instrumenteller Überlegungen uns lediglich Ziele vor Augen stellt, die wir immer schon „befürwortet“ und „deren Erreichen“ damit implizit als „gut oder wünschenswert“ (103) ausgewiesen haben. Rational Handelnde legen sich darauf fest, was ihres Erachtens zu tun ist – dieser Akt „volitionaler Festlegungen“ entspricht jedoch keiner „essentiell normativen Haltung“ (104). Die grundlegende Fähigkeit zu rationaler Selbstbestimmung impliziert, dass Handelnde durchaus Ziele wider besseres Wissen und damit wider bessere Gründe verfolgen können. Eingebettet in ein umfangreiches System aus Plänen, Werten und Handlungsmöglichkeiten sind nicht nur Überlegungen bzgl. der Frage, mit welchen Mitteln wir unsere Ziele erreichen können, ausschlaggebend für unsere Handlungen. Auch normative Standpunkte bilden, zunächst unabhängig von Zweck-Mittel-Relationen, einen wesentlichen, aber eben nur einen Aspekt unter anderen im gesamten System unserer Überzeugungen. Es ist nicht ausschließlich die instrumentelle Rationalität, die unsere Wahl der Mittel bestimmt, beeinflussen unsere Standpunkte und Überzeugungen die Möglichkeiten und Entscheidungen zu handeln doch gleichermaßen – praktische Rationalität ist weit mehr als bloß instrumentelle Rationalität, obwohl die instrumentelle Rationalität hier ihren Ort hat.

Darwall fasst die Konstitution instrumenteller Erfordernisse als einen Prozess auf, der sich aktiv im sozialen Miteinander vollzieht. Ihm zufolge sind die „Ziele der praktischen Vernunft“ durch und durch „(praktisch) normativ“ (222), darüber hinaus jedoch relational, da sie aus den Beziehungen zwischen Personen erwachsen. Der Ausdruck eines Wunsches oder Willens soll einem Adressaten einen Handlungsgrund geben, diesem Wunsch oder Willen entsprechend zu handeln. Der Grund hängt damit „von der Beziehung zwischen Sprecher und Angesprochenem“ (237) ab. In einer Bitte, einem Gesuch, einer Aufforderung äußert sich ein Wille – „Willensäußerungen, die beanspruchen, Gründe zu geben“ sind „Ansprüche“ (238). Einen Anspruch zu erheben, bedeutet, Andere als frei und rational handelnde Wesen anzuerkennen – ebenso begreift sich die Adressatin oder der Adressat eines Anspruchs als frei und vernünftig. Darwall spricht sich damit für die zugrundeliegende Normativität der Rationalität aus. Handelnde stehen „in rationaler Interaktion bei reziproker Anerkennung“ (239). „Das, was unserem Willen gründegebende Kraft verleiht, ist zugleich die Grundlage des moralischen Verständnisses der gleichen Autorität freier und vernünftiger Personen“ (249).

Raz zufolge, dessen Beitrag den Band beschließt, bilden „instrumentelle Fähigkeiten“ keinen exklusiven Bereich unserer Vernunft, sondern betreffen „unser Verständnis rationaler Fähigkeiten im Allgemeinen“ (396) – die „rationalen Standards für diejenigen Entscheidungsprozesse, die durch Zielsetzungen in Gang gebracht werden“ seien schlichtweg die „Standards, denen alle unsere Entscheidungsprozesse unterliegen“ (396f.). Der Mythos der instrumentellen Vernunft artikuliert sich in der „verbreitete[n] Überzeugung, dass instrumentelle Rationalität eine ausgezeichnete und besonders unproblematische Form von Rationalität“ (398) sei und damit eine „isolierbare“ und im Kontext unserer verschiedenen Vernunftvermögen die „basalere Art der Rationalität“ (399). Was Raz damit als Mythos zurückweist, ist die Selbstverständlichkeit, wir hätten es mit „zwei radikal verschiedene[n] Formen von Rationalität“ (400) zu tun: eine Form instrumenteller und eine Form gründegebender Rationalität. Raz’ Ansatz lässt jedoch keinen Platz für eine spezifische Form instrumenteller Rationalität, die auf andere Bereiche überzugreifen imstande wäre. Sie kann dementsprechend auch keine Gründe generieren. Es liegen allenfalls „verschiedene Bereiche“ vor, „in denen ein und dieselbe Rationalität zum Tragen kommt“ (Halbig und Henning, 44). Raz’ Beitrag beschließt den vorliegenden Band auch deshalb, weil seine Position ein Extrem innerhalb der Debatte darstellt: Zwischen der Normativität der Gründe und der der Rationalität wird jedwede scharfe Distinktion aufgehoben, es gibt keinen exklusiv reservierten Bereich für eine Form instrumenteller Rationalität.

IV.

Die Beiträge der Neuen Kritik eint ihr aufklärerischer Impuls: Es gilt Licht ins Dunkel zu bringen – sei es ins Dunkel unseres Vernunftvermögens, um zu klären, welche Rolle der instrumentellen Vernunft innerhalb unseres Vernunftgefüges überhaupt zuzusprechen ist, oder sei es, um darüber aufzuklären, dass wir, kommt die Sprache auf die instrumentelle Vernunft, einem Gespenst hinterherjagen. Es gilt das Vorurteil abzuschaffen, instrumentelle Rationalität sei die einzige bzw. bestimmende Form praktischer Vernunft). Die Neue Kritik möchte deshalb der instrumentellen Vernunft in Relation zu anderen Vernunftvermögen ihren Bestimmungsort aufzeigen und sie in ihre Schranken weisen. Es soll ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, inwieweit rational-instrumentelles Denken überhaupt imstande ist, die „praktische Sichtweise eines freien, rationalen Handelnden“ (Darwall, 223) zu beeinflussen.

Viele der verhandelten Detailprobleme können den an einer neuen Form der Kritik der instrumentellen Vernunft interessierten Leser leicht ins Abseits führen und den eigentlichen Gegenstand so aus dem Auge verlieren lassen. Den Herausgebern liegt deshalb zum einen viel daran, mittels einleitender Worte die nachfolgende Debatte zu strukturieren: Die Zusammenfassungen unter Rücksichtnahme und bei gleichzeitiger Konzentration auf die zuvor zusammengeführten Kernargumente der Debatte dienen somit als gut strukturierter Leitfaden für eine eingängige Lektüre der nachfolgenden Texte, ohne die Argumentationsstränge im Vorfeld zu sehr zu beschneiden.

Zum anderen soll eine Diskursformation, die sich innerhalb der Grenzen der analytischen Debatte hermetisch zu verschließen droht, für andere Bereiche geöffnet werden – es soll ein Dialog zwischen der analytischen und der ‚kontinentalen‘ Philosophie angestoßen werden. Gleichwohl wirft die Debatte selbst kaum Seitenblicke auf die (philosophie-)geschichtliche Entwicklung des Problembestands – eine Ausnahme stellt der Beitrag Korsgaards dar, die ihre eigene Position in Auseinandersetzung mit den Traditionslinien des Empirismus und Rationalismus entwickelt. Raz’ Argumentation, der Mythos der instrumentellen Rationalität verdanke „seine Anziehungskraft einem szientistischen Weltbild […], das den Naturwissenschaften einen ontologischen und explanatorischen Primat zuweist“ (so zusammenfassend Halbig und Henning, 44), überrascht eher, hat sich die bisherige Diskussion doch fast ausschließlich mit dem Abbau des Vorurteils beschäftigt, „dass die Norm, wir sollten rationalerweise die uns bekannten Mittel zu unseren Zielen nutzen, überhaupt kohärent ist“ (Halbig und Henning, 8).

Es ist positiv anzumerken, dass die Herausgeber die Grenzen der zusammengeführten Debatte im Blick behalten und den „Charakter einer Spezialistendiskussion“ (45) eigens betonen und abschließend diskutieren: Die die Einleitung beschließende philosophiehistorische Kontextualisierung versucht deshalb auf wenigen Seiten, die Anschlussfähigkeit der Neuen Kritik an „kritische sozialphilosophische Projekte“ (50) aufzeigen, teilen doch die kritische Tradition und die analytische Debatte grundlegend ein und dasselbe Problem: die „Tendenz zur Verselbständigung instrumentellen Denkens[…], die zugleich die kritische Reflexion über die richtigen Ziele abschafft“ (49). Die „allgemeine philosophiegeschichtliche Dimension des Problems“ sei zwar „wohlbekannt und durchaus in der Debatte präsent“ (45), gleichwohl stellt die analytische Debatte diese Bezüge selbst nicht her, so dass es an den Herausgebern liegt, zu vermitteln; die Beiträge Korsgaards und Raz’ mögen eine Ausnahme bilden.

Die Neue Kritik stößt eine kritische Reflexion an, vielleicht auch um einer „Verselbständigung der Zweckrationalität“ (Halbig und Henning, 49) Einhalt zu gebieten – explizit macht sie dieses Anliegen in Bezug auf die „zunehmende Vorherrschaft der instrumentellen Vernunft“ (49) jedoch kaum. Dies mag den „immanente[n] Analysen“ (49) geschuldet sein, gleichwohl gerät so eine der wesentlichen Fragen an den Rand der Debatte. Ist die instrumentelle Rationalität gegenüber „substantiellen Wertvorstellungen“ (49) neutral und bestimmt zugleich die Strukturen unserer Wirklichkeit, dann mangelt es einer Wirklichkeit, die zunehmend instrumentell-rationalen Strukturen unterworfen wird, an einer Einlassung in solch ‚substantielle Wertvorstellungen‘, in objektive Strukturen, die den „Grad der Vernünftigkeit des Lebens eines Menschen“ (Horkheimer 1991: 28) zu bestimmen imstande sind – so schon Horkheimer, Stichwortgeber der Kritik der instrumentellen Vernunft; auch Korsgaard zufolge wurde der „Unterschied zwischen dem instrumentellen Prinzip und dem Prinzip der Klugheit“ in der Vergangenheit zu stark „verunklart“ (Korsgaard, 157). Wirft die „Loslösung von substantiellen Orientierungen“ (Halbig und Henning, 49) nicht eminent wichtige Zielvorgaben für eine solche Form der Kritik auf? Die Beiträge des Bandes gehen dieser Frage kaum nach, die Herausgeber am Ende ihrer Einleitung zumindest ein Stück weit, indem sie die Neue Kritik mit ihren ‚traditionellen‘ Formen in Verbindung setzen. In der Neuen Kritik sehen sie „eine bedeutsame Ergänzung zur kritischen Tradition“, lasse sich doch bereits anhand der „bloßen Analyse der begrifflichen Voraussetzungen instrumenteller Normen“ – diese Analyse leistet die Neue Kritik im Wesentlichen – „die Voraussetzung dafür erkennen […], dass sich unsere Zielsetzungen selbst unangreifbar machen“ (50). Sie bemühen sich deshalb um Vermittlungsversuche, deren Anliegen klar und deutlich formuliert ist. Ansätze zu weiterführenden Debatten zwischen der analytischen Philosophie und der ‚kontinentalen‘ Tradition sind rar gesät, dank der Bemühungen der Herausgeber jedoch durchaus zu erkennen. Dass diese Impulse aus der analytischen Philosophie stammen und damit aus einer Richtung, die einen reinen Formalismus der Vernunft in ihren Anfängen zunächst zu befördern schien, anstatt Kritik daran üben zu wollen, ist eine begrüßenswerte Entwicklung, die sich deutlich in den Beiträgen dieses Bandes niederschlägt. Um nicht in wechselseitiger „Kannitverstan-Haltung“ (Adorno 1972: 11) zu verharren, wie sie Habermas einst der analytischen Philosophie seiner Zeit zum Vorwurf machte, gilt es, die Bemühungen beider Seiten einander anzunähern – einen weiteren Schritt in diese Richtung gehen die Herausgeber mit dem vorliegenden Band.

Literatur

Adorno, Theodor W. „Einleitung.“ In Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, 2. Auflage, hg. von Heinz Maus und Friedrich Fürstenberg, 7–79. Darmstadt und Neuwied: Sammlung Luchterhand, 1972.

Horkheimer, Max: „‚Zur Kritik der instrumentellen Vernunft‘.“ In Gesammelte Schriften, Bd. 6: ‚Zur Kritik der instrumentellen Vernunft‘ und ‚Notizen 1949–1969‘, hg. und übers. von Alfred Schmidt, 19–186. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1991.

Schnädelbach, Herbert. „Analytische und postanalytische Philosophie.“ In Analytische und postanalytische Philosophie. Vorträge und Abhandlungen 4, 9–44. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2004.



© 2014 Zeitschrift für philosophische Literatur, ISSN 2198-0209, lizenziert unter CC-BY-ND-3.0-DE