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Zeitschrift für philosophische Literatur 2. 4 (2014), 12-23

Masquelier, Charles: Critical Theory and Libertarian Socialism. Realizing the Political Potential of Critical Social Theory. New York et al.: Bloomsbury 2014. 224 Seiten. [978-1441113399]

Rezensiert von Victor Kempf (Universität Frankfurt)

In Critical Theory and Libertarian Socialism verbindet Charles Masquelier eine Fundamentalkritik des Neoliberalismus mit einem Blick auf libertär-sozialistische Formen alternativer Vergesellschaftung. Der Neoliberalismus gerät bei Masquelier in seiner Eigenschaft als repressives gesellschaftliches Naturverhältnis in den Fokus der Kritik: Der modern-kapitalistische Imperativ der Selbsterhaltung qua instrumenteller Naturbeherrschung unterwerfe mehr denn je die Partikularität sowohl der inneren Natur („internal nature“, 3) des Menschen, als auch der mannigfaltigen Erscheinungen der äußeren Natur („external nature“, 2) einer allgegenwärtigen Sachzwanglogik (1ff.).

Diese Diagnose entfaltet Masquelier auf dem Wege einer Rekonstruktion der Kritik der instrumentellen Vernunft, wie sie im Kontext der ersten Generation der Frankfurter Schule entwickelt wurde. Für Masquelier ist dieser Rückgriff deshalb entscheidend, da sich mit Horkheimer, Adorno und Marcuse der innere Zusammenhang zwischen der Unterdrückung der äußeren und der inneren Natur durch ein Regime der instrumentellen Vernunft aufzeigen lässt (3f.). Zugleich ergibt sich daraus die für Masquelier zentrale These, dass eine Emanzipation der inneren Natur des Menschen nicht ohne eine Überwindung der instrumentellen Beziehung auf die äußere Natur zu haben ist (6f.).

Masquelier beginnt seine Untersuchung mit dem Begriff der Arbeit als Selbstverwirklichung beim jungen Marx (Kap. 1). Hier sei die Idee einer ungezwungenen Entfaltung von innerer und äußerer Natur im Prozess der kooperativen Produktion bereits formuliert. Doch erst die Kritik der instrumentellen Vernunft macht deutlich, wie umfassend die ökonomischen und kognitiven Grundlagen kapitalistischer Gesellschaften dieser Entfaltung entgegenstehen (Kap. 2). Jedoch verharren Horkheimer, Adorno und Marcuse insgesamt bei dieser negativen Diagnose und deuten den Impuls einer alternativen Form der Vergesellschaftung höchsten an, ohne den transformativen Prozess selbst zu thematisieren (Kap. 3). Die Suche nach einem Konzept dialektischer Negation, das nicht beim Negativismus stehen bleibt, sondern den Übergang in eine alternative Sozialität denkbar macht, führt Masquelier in eine Auseinandersetzung mit Habermas’ Vorstellung der kommunikativen Rationalisierung, welche jedoch als repressiv zurückgewiesen wird (Kap. 4 und 5). Erst der Begriff der „association“ (133) des libertären Sozialisten G.D.M. Cole eröffnet für Masquelier den Zugang zu einer „institutionalized emancipatory practice“ (125), welche die Ideale des jungen Marx auf eine angeblich solide gesellschaftliche Basis stellt (Kap. 6 und 7). In seiner Schlussbetrachtung deutet Masquelier zeitgenössische Gegenbewegungen zum Neoliberalismus (Alterglobalisierung und Occupy-Bewegung) als Realisierung des libertär-sozialistischen Modells von Cole und endet mit der, in der neueren Debatte um Kapitalismuskritik, außergewöhnlichen These, dass diese Gegenbewegungen als dialektische Negation des Neoliberalismus, d.h. als Verwirklichung seiner immanenten Autonomieversprechen zu begreifen sind.

Ich werde nun in drei Schritten Masqueliers Beschäftigung mit Marx und der Kritik der instrumentellen Vernunft (1.), Habermas’ Kommunikationsmodell (2.) und Coles libertären Sozialismus sowie seine Aktualisierung durch die neuere Kapitalismuskritik (3.) eingehender nachvollziehen und kritisch kommentieren.

(1.) Der unverwirklichte Impuls der Emanzipation. Im ersten Kapitel entwickelt Masquelier den normativen Bezugspunkt seiner Kapitalismuskritik mit Bezug auf Marx‘ Philosophisch-Ökonomische Manuskripte. Der dort dargelegte Begriff der Arbeit als Selbstverwirklichung („self-realization“, 9) beziehe sich auf die Möglichkeit einer praktischen Gattungstätigkeit jenseits der instrumentellen Zurichtung der Natur durch eine disponierende Vernunftinstanz (9).

Masquelier rekonstruiert diesen Begriff zunächst in klassischer Manier: Weil Marx Arbeit als Kreisbewegung der Objektivierung und Wiederaneignung menschlicher Wesenskräfte versteht, erkennt er einerseits, dass sich das menschliche Subjekt, um sich im Gegenstand seiner Arbeit zu entäußern, den Formen der gesellschaftlichen Produktion unterwerfen muss und damit selbst gewissermaßen zum Objekt wird; andererseits bleibt gemäß Marx’ Anthropologie der Arbeit dieses Moment der Objektivierung die Wiederaneignung der objektivierten Wesenskräfte, d.h. durch eine kooperative Gestaltung von Produktion und Konsum, wieder aufgehoben (15ff.). Unter Bedingungen der kapitalistischen Lohnarbeit wird diese Kreisbewegung allerdings unterbrochen; die instrumentelle Struktur der Warenform verhindert eine ungezwungene Entäußerung und Wiederaneignung der gesamten, d.h. auch der sinnlichen, menschlichen Wesenskräfte (18ff.). In Kontrast dazu steht eine „form of labor experienced as a free, conscious and creative activity capable of realizing an internal nature construed in both sensuous and cognitive terms“ (20). Diese Realisierung soll jenseits von Markt und Staat in einer „sphere of activity directly mediating ‚sensuous [and] immediate existence’” (23)1 geschehen.

Hier stellen sich bereits allerhand Fragen bezüglich der Umsetzbarkeit einer solchen spontanen Form der Vergesellschaftung, doch verdient zunächst Masqueliers zusätzliche Aufladung des Begriffs der Arbeit als Selbstverwirklichung Aufmerksamkeit. Masquelier behauptet nämlich, dass für Marx die Entfaltung der inneren Natur mit einer Entfaltung der äußeren Natur koinzidiere (20ff.). Dies sei an der „conception of sensuousness“ (21) in der ersten Feuerbachthese festzumachen, insofern diese sowohl die innere, als auch die äußere Natur umfasse (vgl. ebd.). Die dort vorgenommene Betonung der Aktivität der Sinnlichkeit würde somit also auch der äußeren Natur eine aktive Rolle zuerkennen.

Obwohl Masquelier bemerkt, dass es Marx hier erst einmal bloß um die Tatsache geht, dass sinnliche Erfahrung immer körperliche Erfahrung und mithin auch eine Regung äußerer Natur ist, überträgt er diese mit dem Zustand der inneren Natur des Menschen koinzidierenden aktive Rolle der äußeren Natur umstandslos auch auf nicht-menschliche Objekte (21f.). Masquelier scheint damit auf die These hinauszuwollen, dass ein ungezwungenes Ausagieren der inneren Natur des Menschen in eins fällt mit einer zwanglosen und authentischen Entfaltung der den Menschen umgebenden nicht-menschlichen Natur. Die Synthese der Befreiung von innerer und gesamter äußerer Natur, die Masquelier hier im Schnellverfahren bei Marx zu rekonstruieren versucht, bleibt, bei aller gegenteiligen Absichten, anthropomorph und anthropozentrisch, da die Regungen des menschlichen Gefühlslebens in die nicht-menschliche Natur bloß hineinprojiziert werden, anstatt die spontanen Regungen der äußeren Natur selbst in ihrer eigenen Qualität zu ergründen. Doch erst auf Basis einer solchen Reflexion könnte eine Versöhnung zwischen innerer Natur des Menschen und nicht-menschlicher Natur überhaupt ernsthaft in Betracht gezogen werden.

Im Gegensatz zu diesem – m.E. allerdings durch Masquelier deutlich überinterpretierten – romantischen Begriff der Arbeit als Selbstverwirklichung gibt es gerade beim späteren Marx die Tendenz, Emanzipation als Prozess fortschreitender Naturbeherrschung zu denken (4, 26, 47). Diese Tendenz wird erst von der ersten Generation der Frankfurter Schule durchbrochen, welcher sich Masquelier im zweiten Kapitel zuwendet. In der Dialektik der Aufklärung zeigen Horkheimer und Adorno, wie bereits im kantischen Begriff der Autonomie die instrumentelle Herrschaft des Menschen über die äußere Natur notwendig mit der Zurichtung ihrer inneren Natur nach Maßstäben der instrumentellen Vernunft in eins fällt (30, 42f).

Masquelier würdigt die Kritik der instrumentellen Vernunft, da sie bis zur epistemischen Tiefenschicht der repressiven gesellschaftlichen Institutionen der kapitalistischen Moderne vordringt2 (32). Außerdem entwickeln Adorno und Marcuse Gegenmodelle zur instrumentellen Vernunft, die Masquelier seinem Ziel einer nicht-repressiven Versöhnung von Vernunft und Natur näherbringen (36ff). So erfasst Adorno im Begriff der Mimesis eine Konstellation, in der sich die Vernunft, geleitet durch ein „aesthetic feeling“ (44), ihres subsumierenden Umgangs mit dem Objekt entledigt und eine „situated and non-identical relation with the particular“ (41) eingeht. Bei Marcuse ist in einem ähnlichen Zusammenhang von einer „abolition of art“ (65) und einer Entfesselung der Triebnatur im spielerischen Umgang mit der natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt die Rede (64ff.). Die notwendige Koordinierung der einzelnen Triebregungen sei, Marcuse zufolge, auf dem Wege ihrer zwanglosen „self-sublimation“ (66) möglich, so dass das Prinzip der „free gratification“ (ebd.) in harmonischer Weise universell werden kann (66ff.). Masquelier rekonstruiert all diese Bestimmungen und Implikationen einer nicht-instrumentellen Vernunft ausführlich, da er sie für das institutionelle Modell einer dezentralen, kooperativen und spontan ausgehandelten Vergesellschaftung im Sinne des von ihm favorisierten libertären Sozialismus als konstitutiv ansieht (44, 51, 129).

Einerseits kann Masquelier also seine Konzeption einer Emanzipation von innerer und äußerer Natur über eine Beschäftigung mit der ersten Generation der Frankfurter Schule weiterentwickeln. Andererseits bleibt für ihn eine Kritik der instrumentellen Vernunft defizitär, weil sie dem Prozess der Emanzipation selbst keinen Ort in ihrem gesellschaftstheoretischen Denkzusammenhang einräumt (48ff.). An diesem Problem, das Horkheimer, Adorno und Marcuse letztlich teilen, arbeitet sich Masquelier im dritten Kapitel ab. Ihre negativistischen Zeitdiagnosen, so Masquelier, motivieren sie zu einem Eskapismus in theoretische Kontemplation, der mitunter jede eingreifende Praxis verdächtig ist, bloßer Fortsatz instrumenteller Naturbeherrschung zu sein (47ff., 57f.). So führen ihre Ansätze einer „dialectical negation“ (58) nicht mehr zur Negation der Negation, also zu einer gesellschaftlichen Alternative – zumindest nicht in praktischer Hinsicht als einer historisch aus den existierenden gesellschaftlichen Verhältnissen heraus entstehenden institutionellen Formation (56f.). Besonders deutlich wird das bei Adornos Überführung der dialektischen Negation in negative Dialektik (58f.). Marcuse vermutet zwar in der Studentenbewegung noch die subjektiven Motivationen für eine dialektische Negation der bestehenden gesellschaftlichen Antagonismen, sieht im Bestehenden aber selbst nicht die nötigen „objective potentialities“ (63) zur Emanzipation (ebd.), so dass er sich diese letztlich nur als irgendwie von außen herbeigeführten epochalen Sprung vorstellen kann.

Masquelier will diese Abkehr von der Praxis überwinden und mit Hilfe des Konzepts der „dialectical negation“ wieder die in der sozialen Praxis angelegten Potentiale einer „transvaluation of instituional form“ (ebd.) erkunden (63ff.). In den folgenden Kapiteln wird Masquelier zwei unterschiedliche theoretische Quellen daraufhin befragen, ob sie zur Erläuterung eines so verstandenen Konzepts dialektischer Negation etwas beitragen. Zum Schluss seiner Untersuchung wendet Masquelier das inzwischen weiterentwickelte Konzept der dialektischen Negation schließlich auf die neuer Kapitalismuskritik an. An dieser Stelle wird auch zu hinterfragen sein, ob etwa eine „abolition of art“ oder das Prinzip der spontanen „free gratification“ wirklich als dialektische Negationen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft plausibel gemacht werden können, setzt doch dialektische Negation immer als immanente Kritik an (Adorno 2010 [1985]: 50ff.).

(2.) Repressive Kommunikation. Masquelier befindet sich am Ende des dritten Kapitels genau an dem Punkt, den Jürgen Habermas als die Aporie der ersten Generation der Frankfurter Schule herausgestellt und zum Ausgangspunkt seiner Wende hin zur Kommunikation genommen hat. Die Rekonstruktion dieses Paradigmenwechsels, die Masquelier im vierten und fünften Kapital unternimmt, fällt allerdings ziemlich vernichtend aus: Durch die kommunikative Rationalität des Diskurses bei Habermas würden letztlich die repressiven Effekte der instrumentellen Vernunft verdoppelt und abgestützt (103ff., 109). Dieser repressiven Tendenz des Kommunikationsparadigmas könne man, so die radikale Konsequenz Masqueliers, nur dadurch entgehen, dass man der kritischen Gesellschaftstheorie wieder eine bewusstseinsphilosophische Basis verschafft (121f., 157f.).

Habermas’ Ausweg aus der Aporie der älteren Kritischen Theorie war bekanntlich die Entwicklung eines kommunikativen Vernunftkonzepts, das als ein Rahmen die instrumentelle Vernunft begrenzen und ausrichten sollte. Diese Konzeption schlägt sich auch in Habermas’ ursprünglicher Idee einer moralisch-praktischen Rationalisierung der systemischen Herrschaftsapparate durch die herrschaftsfreie Deliberation der politischen Öffentlichkeit nieder (72ff.). Die weitere Entwicklung der Gesellschaftstheorie Habermas’ ist dann allerdings von einem „fatalism“ (82) geprägt, der für Masquelier problematisch ist: Legitimationsprobleme werden im Spätkapitalismus zunehmend durch eine technokratische Loyalitätsbeschaffung (auf-)gelöst; an die Stelle der kommunikativen Durchdringung der systemischen Herrschaftsapparate tritt die instrumentelle Indienstnahme der Öffentlichkeit für partikulare Interessen (77). Die kommunikative Rationalität zieht sich in die Alltagspraxen der Lebenswelt zurück und muss dort vor instrumentellen Imperativen abgeschirmt werden, die Habermas nun als unverrückbare Strukturelemente des ökonomischen und politischen Systems theoretisch modelliert und politisch anerkennt (81ff.).

Selbst dort, wo Habermas sich der Möglichkeit einer umfassenderen Demokratisierung ökonomischer Verhältnisse noch nicht ganz verschließt, betont er das instrumentelle Verhältnis, das im Prozess der Produktion zur Seite der Natur hin notwendigerweise eingenommen werden muss (86). Dieses irreduzible instrumentelle Verhältnis ist bei Habermas als „value-neutral or norm-free sphere of action“ (ebd.) jeder diskursiven Thematisierung entzogen. Gegen diese These der Wertneutralität der Technik betont Masquelier die normativen Setzungen, die in die Entwicklung der Produktivkräfte konstitutiv miteingehen. Die instrumentelle Struktur der kapitalistischen Produktivkräfte entspreche, so Masquelier, spezifisch bürgerlichen Idealen von Effizienz, Wettbewerb und Selbstbehauptung (86ff.) Vor dem Hintergrund einer solchen historischen und kulturellen Kontingenz der instrumentellen Vernunft sieht Masquelier die Möglichkeit gegeben, dass die Grundgestalt der Produktivkräfte selbst kommunikativ verflüssigt und durch eine Ausrichtung an anderen Werten verändert werden kann (89). Dies soll es auch gestatten, dass mimetisch vermittelte Subjekt-Objekt-Erfahrungen Eingang in den Prozess der Produktion finden und somit die innere Natur der Subjekte dort wieder ungekürzt zur Geltung kommen kann (ebd.).

Doch Masqueliers Kritik an Habermas geht noch weiter. Habermas würde gleich im doppelten Sinne mimetisch vermittelte Subjekt-Objekt-Beziehungen aus seinem Kommunikationsmodell ausschließen: Zum einen, indem, wie eben dargestellt, die materiellen Strukturen der Produktion bei ihm selbst nicht Gegenstand der diskursiven Verhandlung sein können; zum anderen, weil der universalistische und logozentrische Rationalismus seines Kommunikationsmodells zum Ausschluss bzw. zur Subtraktion von Gefühl und Sinnlichkeit aus der diskursiven Meinungs- und Willensbildung führe (106).

Diese Unterdrückung der inneren Natur im Diskurs sieht Masquelier in Habermas‘ strikt deontologischer Fassung des „common good“ (105) als Zielfigur öffentlicher Diskurse begründet. Masquelier interpretiert den diskursethischen Universalismus so, dass er partikularen, aus ästhetisch getränkten Erfahrungen hervorgehenden Vorstellungen des „good life“ (ebd.) nur soweit einen Platz einräumt, wie sie sich schon vorweg einer abstrakten Allgemeinheit einfügen (108f.). Die Subsumtion der inneren Natur unter die instrumentelle Vernunft wird nach dieser Lesart durch ihre gleichzeitige Subsumtion unter die kommunikative Vernunft quasi mitproduziert (117, 121).

Der Ausweg aus einer solch repressiven Kommunikation besteht für Masquelier darin, dass in der Aushandlung politischer und ökonomischer Verhältnisse die Anerkennung des Allgemeinen (wie bei Habermas) durch eine Anerkennung der „concrete particularity“ (113) des „concrete other“ (107, 113) ersetzt wird, so dass sich gesellschaftliche Verhältnisse als dezentrales, situativ changierendes Gefüge einer „complementary reciprocity“ (ebd.)3 formieren, statt als abstrakte Strukturen (107, 119f.). Die radikale Konsequenz Masqueliers ist nun, dass diese „concrete particularity“ nur zur Geltung kommen kann, wenn sie als vor-sprachliche Referenz begriffen wird: Erst indem in der mimetischen Erkundung der inneren Natur ein „non-linguistic core of reconciliation“ (102) von Subjekt und Objekt gefunden worden ist, verliert die tendenziell repressive Allgemeinheit der Sprache ihren Primat (115ff., 118f.) – und dies sei selbst Voraussetzung auch jeder wirklichen Versöhnung auf der Ebene der Intersubjektivität (102).

Die hier eingeschlagene Rückkehr zu einem bewusstseinsphilosophischen Bezugsrahmen ist als sozialtheoretische Perspektive wenig überzeugend, da vollkommen unklar bleibt, wie sowohl in der Theorie als auch in der Praxis der Rekurs auf einen vorsprachlichen Referenten zum Ausdruck gebracht werden soll, ohne diesen Ausdruck in der Praxis sprachlich vermittelter Verständigung hervorzubringen. Wohl kann ein qualitativer Rest an vorsprachlicher Welterfahrung nicht geleugnet werden, doch um als Quelle einer „concrete particularity“ bzw. eines individuellen Bedürfnisses überhaupt normatives Gewicht im Verhältnis zu anderen Bedürfnissen zu erlangen, muss sie sich im Medium der Sprache mitteilen. Die „concrete particularity“ liegt nicht einfach stumm vor, außer als Geste eines autoritären, undemokratischen Geraunes angeblich tiefster Innerlichkeit (Adorno 1964).

Des Weiteren beruht Masqueliers Ablehnung des deontologischen Universalismus bei Habermas auf Missverständnissen: Weder ist die Identifikation des „commom good“ mit der bürgerlich-kapitalistischen Allgemeinheit des Sachzwangs (113) bei Habermas in irgendeiner Weise zwingend (ganz im Gegenteil lässt sich mit Habermas’ Betonung des Allgemeininteresses die bloß angemaßte Universalität einer technokratischen Wohlstandsethik kritisieren [Habermas 1973: 153ff.]); noch besteht das „common good“ als rigides Konzept vor allen individuellen Bedürfnissen und Perspektiven, sondern funktioniert als die regulative Idee, eben jene mannigfaltigen Partikularitäten in einer ausgleichenden und sofern abstrahierenden Weise in sich zur Geltung zu bringen (Habermas 1983: 53ff.). Das schließt eine dynamische Veränderbarkeit des „common good“ gerade nicht aus, wie Masquelier unterstellt.

Der diskursethische Universalismus soll als Antwort auf die Herausforderungen des modernen Pluralismus einen gerechten Ausgleich zwischen der individuellen Freiheit ethischer Selbstverwirklichung und gesamtgesellschaftlicher Solidarität ermöglichen. Masquelier entledigt sich dieses Problems, indem er es einfach übergeht und stattdessen das harmonische und solidarische Ineinandergreifen der Partikularitäten für postkapitalistische Verhältnisse schlicht postuliert (117ff., 133f.). Doch nicht nur die höherstufige Funktionalität der spontanen und dezentralen „complementary reciprocity“ ist fraglich. Auch normativ drohen in diesem Modell gegenüber dem deontologischen Universalismus der Verlust der Einklagbarkeit von Ansprüchen und die damit einhergehende Gefahr von Willkür und Abhängigkeit.

(3.) Libertärer Sozialismus als Verwirklichung des Liberalismus. Im fünften und sechsten Kapitel entwickelt Masquelier durch eine Rezeption des libertären Sozialismus G. D. M. Coles ein institutionelles Modell kommunikativer Vergesellschaftung, das sowohl ohne die angeblich repressiven Züge des diskursethischen Universalismus auskommen (139), als auch die emanzipativen Intentionen von Marx, Horkheimer, Adorno und Marcuse gesellschaftstheoretisch einholen können soll (129f.).

Der libertäre Sozialismus Coles ist maßgeblich um den Begriff der „association“ (131) zentriert. Unter „associations“ versteht Cole nahräumlich organisierte Gruppen, die auf Grund ihrer geringen Mitgliederzahl im Gegensatz zu bestehenden Repräsentativdemokratien tatsächlich eine „equal participation in collective judgment4“ (132) gewährleisten sollen (ebd.). Konstitutiv für eine „association“ ist für Cole weiterhin ein „consciousness of a want requiring co-operative actions for its satisfaction“ (ebd.). Dieses scheinbar unproblematische Bewusstsein der wechselseitigen Ergänzung individueller Willen im Rahmen der „association“ erzeugt den ihr zugehörigen „general will“ (134) als eine affektive – statt bloß rationale – Bindungskraft (ebd.): Die einzelnen Individuen sehen so die „association“ immer schon als geradezu organische Erweiterung der eigenen Vorstellung des „good life“ (ebd., 138).

Der Begriff der „association“ soll sich bei Cole nicht alleine auf markt- oder staatsferne gesellschaftliche Refugien beziehen, sondern ist Ausgangspunkt eines institutionellen Modells der Gesellschaft überhaupt. Coles Grundidee ist, dass sich in der Produktions- wie in der Konsumtionssphäre „associations“ um einzelne „purposes“ (133) bzw. „functions“ (ebd.) herum bilden und sowohl intern die jeweiligen Bedürfnisse und Interessen, Fähigkeiten und Kapazitäten ihrer Mitglieder unter Bedingung einer zwanglosen Artikulation der „concrete particularit[ies]“ kommunikativ koordinieren, als auch im Dialog miteinander reziproke Beziehungen herausbilden (138, 150ff.). Marktbeziehungen sollen so durch eine direkte Kommunikation zwischen Produktions- und Konsumgenossenschaften ersetzt werden, wobei anstelle des meritokratischen Äquivalententausches die Prinzipien der „self-gratifying use“ (158) und des „creative service mediated by mimetic labour“ (ebd.) gelten sollen. Mithilfe eines rätedemokratischen Repräsentationsmodells soll die Kommunikation der „associations“ schließlich in eine gesamtgesellschaftliche Meinungs- und Willensbildung münden können, welche gegenüber den Veränderungen der individuellen Vorstellungen des „good life“ allzeit offen bleibt (156).

Mit diesem Modell kommunikativer Vergesellschaftung glaubt Masquelier den Schlüssel für eine zwanglose Versöhnung von Besonderem und Allgemeinem, innerer Natur und Modus der Vergesellschaftung gefunden zu haben (139). Doch ist zweifelhaft, ob sich das „alignment of the common good with individual conceptions of good life“ (133) durch die „associations“ so umstandslos ergibt, wie Masquelier annimmt. Sicherlich vermindert eine direktdemokratische Bildung kollektiver Strukturen die Distanz zu den Individuen, doch ergibt sich alleine daraus noch keineswegs ein harmonischer Zustand. Im Gegenteil geraten nun erst einmal divergierende Interessen und Perspektiven unmittelbarer in einen Konflikt, dessen egalitäre Austragung (u.a.) von einer gewissen Organisation des Eigentums abhängen würde. Solche Erwägungen spielen bei Masquelier allerdings so gut wie keine Rolle, da Masquelier die gesellschaftstheoretische Naivität und Unterkomplexität der meisten anarchistischen Ansätze teilt: Ist die kapitalistische Warenform und damit die Notwendigkeit instrumenteller Selbstbehauptung erst einmal abgeschüttelt, komme, so häufig das Muster der generellen Argumentation, als eine eigentliche, darunterliegende Schicht des Sozialen (134), die harmonische und volle Einheit von Individuum und Gesellschaft zum Tragen, die angesichts eines Absterbens utilitaristischer Handlungsmotive dann nur noch aktualisiert werden muss.

Bei Masquelier korrespondiert also eine verkürzte Kapitalismuskritik mit einer naiven Vorstellung gesellschaftlicher Alternativen. Nichtsdestotrotz vermag es Masquelier zum Schluss seiner Untersuchung die libertär-sozialistische Perspektive ganz im Sinne Coles als rekonstruktive Kritik (190, 193f.) auf die Gegenwart hin auszurichten: Dezentrale, direktdemokratische und auf unreglementierte Bedürfnisbefriedigung basierende Ansätze alternativer Lebensformen lassen sich nicht alleine in theoretischen Überlegungen antizipieren, sondern können in der Praxis der Alterglobalisierungs- und Occupy-Bewegung konkret beobachtet werden (183ff.). Dieser Befund ist im Kontext der gegenwärtigen Debatte um die neuere Kapitalismuskritik erst einmal relativ gewöhnlich (vgl. etwa Lorey 2012). Doch Masquelier deutet ihn im Sinne der ersten Generation der Frankfurter Schule als „dialectical negation“ des Neoliberalismus (169): Die zeitgenössischen antikapitalistischen Gegenbewegungen würden den negativen Freiheitsbegriff des Neoliberalismus durchbrechen und auf sein verschüttetes und uneingelöstes Autonomieversprechen zurückgreifen (188ff.). Die Ansprüche der Künstlerkritik (Boltanski/Chiapello), die die Ideologie des Neoliberalismus einst konstituiert hätten, sollen nun im Bewusstsein der für ihre Erfüllung notwendigen sozialen Voraussetzungen gegenüber einer immer entgrenzteren instrumentellen Vernunft des deregulierten Marktes eingeklagt werden (190ff.).

Während in der Auseinandersetzung mit Marcuse noch unklar blieb, inwiefern sich eine „abolition of art“ oder das Prinzip der „free gratification“ überhaupt als dialektische Negation und nicht nur als bloße, unvermittelte und totale Negation der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse verstehen lässt, betont Masquelier hier als Moment der immanenten Kritik, aus dem sich jede dialektische Negation zumindest anfänglich speist (188f.). Doch gerade vor dem Hintergrund dieser zusätzlichen Bestimmung kommen Zweifel auf, ob der Impuls der Alterglobalisierungs- oder Occupy-Bewegung wirklich angemessen als dialektische Negation des Neoliberalismus zu begreifen ist. Wird mit der Negation von Markt und Wettbewerb, Geld und Leistung, die Masquelier an diesen Gegenbewegungen unterstreicht, nicht auch der wesentliche normative und kulturelle Bezugsrahmen des Neoliberalismus zurückgewiesen? Sind die Ansprüche der Künstlerkritik nicht erst dadurch zur Legitimationsgrundlage des Neoliberalismus geworden, dass sie in das instrumentelle und verdinglichte Marktdenken aufgesogen wurden und dadurch ihre kritische Kraft verloren haben? Lässt sich das neoliberale Autonomieversprechen, wenn es denn noch Wirkmacht besitzt, also überhaupt vom Marktdenken abspalten, oder hieße dialektische Negation des Neoliberalismus nicht eher den Weg einer tiefgreifenden Demokratisierung des Marktgeschehens statt seiner Abschaffung zu gehen – eine Option, die dem radikalen, anti-reformerischen Impetus besagter Gegenbewegungen diametral entgegen steht. Diese sind dadurch gerade nicht mehr als dialektische Negation der modernen Ökonomie zu begreifen, wie postoperaistische oder anthropologische Ansätze verdeutlichen (Hardt/Negri 2010; Graeber 2013).

Durch die Überführung der negativistischen Kritik der instrumentellen Vernunft in ein libertär-sozialistisches Modell gesellschaftlicher Alternativen hat Masquelier bisher unterbelichtete theoretische Querverbindungen aufgezeigt. Mit beachtenswerter Klarheit zieht er aus dem kritisch-theoretischen Motiv der Versöhnung von Vernunft und Natur die institutionellen Konsequenzen für eine alternative gesellschaftliche Praxis. Der Optimismus, der ihn dabei antreibt, ist zwar sympathisch, doch an vielen Stellen seiner Untersuchung wäre ein abklärender Blick sowohl auf die empirische Tragfähigkeit als auch die innere Schlüssigkeit seiner Argumentation wünschenswert gewesen. Sicherlich liegt jedoch mit Critical Theory and Libertarian Socialism ein origineller, gelehrter und streitbarer Beitrag zur gesellschaftstheoretischen Debatte um die zeitgenössische Kapitalismuskritik vor.

Literatur

Adorno, Theodor W. Einführung in die Dialektik. Berlin: Suhrkamp, 2010 [1958].

Adorno, Theodor W. Jargon der Eigentlichkeit – Zur deutschen Ideologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1964.

Benhabib, Seyla. Norms and Utopia. New York: Columbia Press, 1986.

Graeber, David. The Democracy Project. A History, a Crisis, a Movement New York: Spiegel & Grau, 2013.

Habermas, Jürgen. Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1973.

Habermas, Jürgen. Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1983.

Hardt, Michael/Negri, Antonio. Common Wealth. Das Ende des Eigentums. Frankfurt am Main/New York: Campus, 2010.

Lorey, Isabell. Demokratie statt Repräsentation. Zur konstituierenden Macht der Besetzungsbewegungen. In: Occupy! Die aktuellen Kämpfe um die Besetzung des Politischen. Hg. von Isabell Lorey, Jens Kastner, Tom Waibel und Gerald Raunig, 7–49. Wien/Berlin: Turia und Kant, 2012.

Marx, Karl. On the Jewish Question. In: Karl Marx, Selected Writings. Hg. von D. McLellan. Oxford: Oxford University Press, 2000.

Warrenn, M. E. Associations and Democracy. Princeton: University Press, 2001.


  1. Hier zitiert Masquelier aus Marx 2000: 102.

  2. Masquelier bezieht sich hier auf Adornos und Horkheimers Kantkritik. Demnach würde sich in Kants Idee der Autonomie qua Selbstbeherrschung und Subsumtion des Besonderen unter das Allgemeine bereits der repressive Charakter von moderner Bürokratie und kapitalistischem Tausch widerspiegeln.

  3. Die Ausdrücke „concrete particularity“, „concrete other“ und „complementary reciprocity“ übernimmt Masquelier von Benhabibs Kritik an Habermas (Benhabib 1986.). Diese Kritik geht Masquelier allerdings nicht weit genug, da sie Habermas’ Primat der sprachlichen Kommunikation letztlich treu bleibt (113ff.).

  4. Hier zitiert Masquelier aus Warren 2001, 61.

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