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Zeitschrift für philosophische Literatur 2. 4 (2014), 1-11

Oliver Marchart: Das unmögliche Objekt. Eine postfundamentalistische Theorie der Gesellschaft. Berlin 2013: Suhrkamp. 479 Seiten. [978-3-518-29655-4]

Rezensiert von Steffen Herrmann (Hagen)

Als vor einigen Jahren Oliver Marcharts Studie Die politische Differenz auf Deutsch erschien, wurde schnell deutlich, dass dem Autor damit ein eindrucksvoller Wurf gelungen war: Nämlich eine Reihe von unterschiedlichen Theorieentwürfen aus dem Feld der Philosophie des Politischen in einem theoretischen Rahmen zusammenzuspannen und so deren gemeinsames politisches Grundanliegen herauszuarbeiten. Leitend ist dabei die Unterscheidung zwischen „dem Politischen“ und „der Politik“, die Marchart im Anschluss an Heidegger als „politische Differenz“ bezeichnet. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass die gesellschaftliche Sphäre der Politik nicht auf einem festen Fundament (wie etwa Markt, Staat, oder kulturelle Identität etc.) gründet, sondern als Effekt eines Prozesses verstanden werden muss, der dieses Fundament überhaupt erst legt. Anders gesagt: Mit dem Begriff des Politischen sollen jene gesellschaftlichen Prozesse in den Blick geraten, welche die Bedingung der Möglichkeit der Politik im herkömmlichen Sinne bilden. Die von Marchart im Anschluss an Denker wie Nancy, Lefort, Badiou oder Laclau vertretene These lautet, dass die in der Sphäre des Politischen gestifteten Fundamente der Politik wesentlich kontingent seien. Es handele sich daher durchgehend um „postfundamentalistische Theorien“. In deren Zentrum, auch das zeigt Marchart, steht das Konzept des Antagonismus. Gemeint ist damit, dass die Fundamente der Politik nicht durch konsensuelle Aushandlungsprozesse zu Stande kommen, sondern im Zuge von kämpferischen Auseinandersetzungen. Das Politische ist daher wesentlich als ein Schauplatz von sozialen Kämpfen zu verstehen, auf dem unterschiedliche konkurrierende Gruppen um die Konstitution der Sphäre der Politik ringen.

Marcharts aktuelle Studie Das unmögliche Objekt nimmt die skizzierten Überlegungen nun aus einer anderen Perspektive wieder auf. Im Vordergrund stehen diesmal weniger die neuen Philosophien des Politischen als vielmehr die Klassiker der Soziologie und Sozialtheorie von Durkheim, Weber und Simmel bin hin zu Latour, Luhmann und Foucault. Der Fokus liegt in der Folge nicht auf dem Begriff des Politischen, sondern auf dem Begriff der Gesellschaft. Man kann diesen Perspektivwechsel als Ausdehnung des vorausgegangenen Vorhabens deuten: Ging es im Zuge einer postfundamentalistischen Theorie des Politischen darum, die Grundlagen der Politik ausfindig zu machen, so geht es im Rahmen einer postfundamentalistischen Theorie der Gesellschaft um die Grundlagen des Sozialen. War Die politisch Differenz also noch von der Opposition zwischen „dem Politischen“ und „der Politik“ getragen, so steht in Das unmögliche Objekt (ohne dass Marchart dies explizit reflektieren würde) der Gegensatz zwischen „der Gesellschaft“ und „dem Sozialen“ im Mittelpunkt.

Die Aufgabe, der sich Marcharts Studie widmet, besteht nun darin, dem Begriff der Gesellschaft innerhalb der Sozialtheorie wieder seinen angemessenen Stellenwert zurückzugeben. Ähnlich wie die Vorläuferstudie geht dabei auch Das unmögliche Objekt davon aus, dass ein rein dekonstruktives Denken für ein solches Vorhaben nicht ausreicht. Wer sich nämlich darauf beschränkt, zu zeigen, dass Gesellschaft keinen letzten Grund hat, der verfällt in einen schlechten Antifundamentalismus und verwechselt Kontingenz mit Arbitrarität (31). Nur weil Gesellschaft in keiner letzten Ursache gegründet werden kann, bedeutet das nicht, dass auf das Register des Grundes verzichtet werden kann. Vielmehr gilt es an die Stelle letzter Gründe „vorletzte Gründe“ (203) treten zu lassen und so zu zeigen, wie die Konstitution des Sozialen unter postfundamentalistischen Bedingungen gedacht werden kann.

Marcharts Überlegungen zu einer postfundamentalistischen Theorie der Gesellschaft gliedern sich in drei Teile: Der erste Teil versucht mit Hilfe einer dekonstruktiven Lektüre gesellschaftstheoretischer Klassiker zu zeigen, dass Gesellschaft grundlegend kontingent ist. Die folgenden zwei Teile der Studie ziehen dann die Konsequenzen aus dieser Einsicht – und zwar auf unterschiedlichen Ebenen: Während sich der zweite Teil den ontologischen Konsequenzen der Kontingenzthese widmet, indem er zeigt, dass Gesellschaft auf einem Antagonismus gründet, versucht der dritte Teil die ontischen Folgen einer solchen Konzeption aufzuzeigen, indem er deutlich macht, welche Folgen eine postfundamentalistische Theorie der Gesellschaft für die Sozialwissenschaften hat. Auch wenn das Projekt damit auf den ersten Blick recht klar strukturiert ist, droht das Feuerwerk an Thesen, das Marchart in der Folge abbrennt, doch schnell den Blick von der eigentlichen Argumentation abzulenken. Ich will mich daher im Folgenden zunächst der Rekonstruktion von Marcharts wesentlichem Argumentationsgang widmen, bevor ich abschließend einige kritische Rückfragen stellen möchte.

Paradoxien des Gesellschaftsbegriffs

Das Ziel des ersten Teil des Buches besteht darin, einer postfundamentalistischen Theorie der Gesellschaft den Boden zu bereiten, indem gezeigt wird, wie klassische Gesellschaftstheorien beständig an der Erklärung ihres eigentlichen Gegenstandes – dem Begriff der Gesellschaft – scheitern. Das zu untersuchende Feld teilt Marchart in zwei Lager: auf der einen Seite stehen fundamentalistische Ansätze, die von der Sozialphysik über den Strukturalismus bis hin zum Marxismus reichen und die Gesellschaft auf einem festen Fundament gründen wollen. Auf der anderen Seite stehen antifundamentalistische Ansätze, die den Gesellschaftsbegriff in Gänze verwerfen und das Soziale stattdessen als Mannigfaltigkeit zu denken versuchen. Exemplarisch für den Fundamentalismus untersucht Marchart dann in der Folge die Ansätze von Durkheim und Lévi-Strauss. Methodisch geht es ihm dabei darum, in der Relektüre dieser Theorien zu zeigen, wie diese jeweils selbst von innen heraus ihre eigenen Grundlagen untergraben. Das methodische Rüstzeug für eine solche dekonstruktive Lektüre entnimmt Marchart dabei den Überlegungen von Derrida und Lacan. Derridas Konzept der ‚Hauntologie’ und Lacans Konzeption des object petit a stellen das Vokabular bereit, mit dessen Hilfe die inneren Widersprüche der genannten Theorien herausgearbeitet werden sollen. Zeigen möchte Marchart dabei, dass sowohl Durkheim als auch Lévi-Strauss ihr Gegenstand in den Fingern zerrinnt, da er im objektivistischen System nur als Leerstelle gefasst werden kann. Exemplarisch sei hier kurz Marcharts Lektüre von Lévi-Strauss angeführt. Im Ausgang von der zentralen Stellung des Inzestverbotes, die Lévi-Strauss in seinen ethnologischen Studien in verschiedenen traditionalen Gemeinschaften ausgemacht hat, versucht er eine dualistische Theorie der Gesellschaft zu entwerfen. Bei diesem Versuch stößt er jedoch auf ein Problem, das nur schwer in seine dualistische Theorie zu integrieren ist: das Phänomen der „Null-Institution“ (119). Gemeint ist damit eine gesellschaftliche Institution, deren Sinn nicht aus der Opposition zu einer anderen Institution zu erklären ist. Vielmehr, so muss Lévi-Strauss zugestehen, scheint diese Institution keine andere Funktion zu haben, als den Sinn aller anderen Institutionen allererst zu konstituieren. Wenn die Null-Institution aber keinen tieferen Sinn hat außer dem, die Gesellschaft als ein geregeltes Ganzes zu begründen, so Marchart, ist sie nichts anderes als der Ausdruck der eigentlichen Kontingenz von Gesellschaft.

Die Einsicht in die Kontingenz von Gesellschaft, so argumentiert Marchart weiter, hat in antifundamentalistischen Gesellschaftstheorien zu einer gänzlichen Verabschiedung des Gesellschaftsbegriffs geführt. Als Beispiele führt Marchart die Theorien von Deleuze und Latour an. Indem beide darauf verzichten, das Soziale als eine strukturierte Einheit zu denken, wird der Gesellschaftsbegriff bei ihnen überflüssig. An seine Stelle tritt die Mannigfaltigkeit des Sozialen, das in Form des Rhizoms oder des Netzwerks nach allen Seiten hin wuchert. Damit jedoch, so Marchart, begeben sich beide der Möglichkeit der Gesellschaftskritik: Wird das Soziale nicht auf den Begriff der Gesellschaft hin geschlossen und damit auf einen bestimmten Begriff gebracht, ist keine kritische Stellungnahme mehr möglich (163f.), an die Stelle der Kritik tritt indifferente Beliebigkeit. Die Einsicht in die Kontingenz von Gesellschaft darf also nicht zum Verzicht auf den Begriff der Gesellschaft führen.

Wie aber lässt sich Gesellschaft unter den Bedingungen von Kontingenz denken? Die Antwort auf diese Frage findet Marchart bei Lyotard. Mit seinem Konzept des Widerstreits hat er einen Ansatz vorgelegt, der es erlaubt, Gesellschaft als ein ungegründetes Geschehen der Überwältigung zu denken. Einen Widerstreit sieht Lyotard überall dort am Werk, wo unterschiedliche Deutungen der Gesellschaft keiner Metaregel mehr unterworfen sind. Ist der Austausch von Argument und Gegenargument solcherart blockiert, tritt die Überwältigung einer Gesellschaftsdeutung durch eine andere an die Stelle des zwanglosen Zwangs des besseren Arguments. Im Gegensatz zu Deleuze und Latour, die den Gesellschaftsbegriff seiner Kontingenz wegen aufgeben, versucht Lyotard also an diesem Begriff festzuhalten. Das gelingt ihm, indem er aus dem Scheitern eines fundamentalistischen Gesellschaftsbegriffs nicht einfach die Beliebigkeit und die Mannigfaltigkeit des Gesellschaftlichen folgert, sondern in Form des Widerstreits vielmehr von dessen elementarer Konflikthaftigkeit ausgeht.

Gesellschaft als partielle Totalität

Gesellschaftstheorie, so lautet die Lehre, die Marchart aus dem ersten Teil seiner Studie zieht, „ist nur als Konflikttheorie zu haben“ (206). Denn wenn die Konstitution von Gesellschaft kontingent ist, dann verweist diese Kontingenz notwendig auf den Begriff des Konflikts, da die Etablierung einer bestimmten Perspektive auf Gesellschaft in Konkurrenz zu anderen stattfindet. Entsprechend macht es sich der zweite Teil der Studie zur Aufgabe, das Feld klassischer Konflikttheorien zu durchschreiten. Ähnlich wie im ersten Teil zerfällt das zu untersuchende Feld dabei auch im zweiten Teil in zwei Lager: die bellizistischen Ansätze auf der einen und die dialektischen Ansätze auf der anderen. Während Nietzsche und Foucault die Gewährsleute des ersten Lagers bilden, stehen Marx und Althusser für das zweite Lager ein. Was beide Lager miteinander teilen, ist zunächst einmal die Annahme, dass sie Konflikt nicht vom Begriff des Agonismus, sondern vom Begriff des Antagonismus her denken. Der Grundgedanke der Agonistik besteht darin, dass selbst der soziale Kampf noch eine Form der Vergemeinschaftung darstellt, insofern er auf einem gemeinsamen Boden stattfindet. Exemplarisch hierfür ist der Wettkampf: Zwar stehen sich die Parteien wechselseitig gegenüber und ringen um Überlegenheit, doch findet dieses Gegeneinander auf der Grundlage gemeinsam geteilter Regeln statt. Der Wettkampf stellt daher, mit Simmel gesprochen, ein „geordnetes Gegeneinander“ dar (221). Dagegen machen sowohl das bellizistische als auch das dialektische Lager einen grundlegenden Begriff von Konfliktualität stark: den Antagonismus. Der Konflikt findet hier nicht mehr innerhalb der Regeln statt, sondern er betrifft die Regeln selbst. In Frage steht also die Konstitution jenes Rahmens, innerhalb dessen der Agon überhaupt erst aufzutauchen vermag.

Im bellizistischen Paradigma, so argumentiert Marchart weiter, wird der Antagonismus in Form einer gewaltsamen Überwältigung gedacht. Neben Nietzsche ist der hervorstechendste Vertreter eines solchen Paradigmas Foucault. Exemplarisch ist für Marchart Foucaults Rede vom „Diskurs als Schlacht“ (242). Sozialer Wandel, so deutet Foucault mit dieser Formel an, ist nicht vom Paradigma der Kontinuität, sondern von dem des Konflikts her zu verstehen: Geschichte ist als eine Geschichte der kriegerischen Überwältigung zu erzählen. Auch wenn Foucault damit prinzipiell die kontingenten Grundlagen der Gesellschaft freigelegt hat, so Marchart, schreckt er doch vor einer methodischen Reflexion dieser Grundlagen zurück: Statt nämlich den Status der Kriegshypothese zu klären, verklärt Foucault sie zu einem Ursprungsmythos.

Anders, so Marchart, verhält es sich in der dialektischen Tradition, wie wir sie im Marxismus und Postmarxismus finden. Zwar steht mit dem Klassenkampf auch hier das Paradigma des Kampfes im Zentrum, das bedeutet jedoch nicht, dass dieser Kampf überall auf gewaltsame Weise ausgetragen wird. Vielmehr kann bereits die Reproduktion der Grenzen und Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft als eine Art stiller Klassenkampf verstanden werden. Vermag der dialektische Ansatz damit über den Foucault’schen Ansatz hinauszugehen, so fällt er für Marchart jedoch in anderer Hinsicht hinter diesen zurück: Die Konfliktualität der Gesellschaft wird im historischen Materialismus fundamentalistisch auf die Ökonomie als determinierender Instanz zugespitzt. Sowohl der bellizistische als auch der dialektische Ansatz sind für Marchart daher nicht in der Lage, einen grundlegenden Antagonismus zu denken. Beide scheitern daran, Konflikt und Kontingenz konsequent miteinander zusammen zu denken.

Diesen Mangel der bellizistischen und dialektischen Ansätze behebt für Marchart erst das postmarxistische Denken von Laclau und Mouffe. Hier wird der Stellenwert des Antagonismus zum ersten Mal systematisch auf seine kontingenten Grundlagen zurückgeführt. Im Rückgriff auf die Sprachtheorie von Saussure zeigen Laclau und Mouffe dass das Soziale als ein Gewebe von differentiellen Elementen zu verstehen ist, das in seiner Gesamtheit erst in jenem Moment in den Blick zu kommen vermag, in welchem dieses Gewebe zu einer Totalität verdichtet wird. Das ist jedoch nur möglich, wenn ein partikulares Element des Gewebes zum organisierenden Zentrum gemacht wird, von dem her das Gewebe als Ganzes aufgespannt werden kann. Diese Etablierung eines Zentrums aber hat ihren Preis: Alles, was nicht im organisierenden Zentrum verankert werden kann, wird zum Außen des sozialen Gewebes. Anders gesagt: Die Gesamtheit des Sozialen kann nur mit Hilfe des Begriffs der Gesellschaft zum Gegenstand gemacht werden. Die Etablierung dieses Begriffs geht aber mit einer Grenzziehung einher, durch die ein Außen des Sozialen entsteht, was zur Folge hat, dass es letztlich gar keine Totalität des Sozialen geben kann, sondern dieses immer nur als eine „partielle Totalität“ (36) in den Blick geraten kann. Gesellschaftstheorie kann für Marchart genau dann als postfundamentalistisch bezeichnet werden, wenn sie auf dieses paradoxe Gründungsmoment von Gesellschaft als partieller Totalität reflektiert. Sobald sie sich eingesteht, dass ihr Gegenstand nicht vorgegeben ist, sondern seine Konstitution Teil eines antagonistischen Überwältigungsprozesses ist, hat sie jenes Reflexionsniveau erreicht, das für eine postfundamentalistische Theorie notwendig ist.

Die Bewegungsgesellschaft

Vergegenwärtigt man sich die bisherige Argumentation, so wird klar, dass Marcharts postfundamentalistische Theorie bisher weniger eine Theorie der Gesellschaft als vielmehr eine Theorie der Konstitution von Gesellschaft ist. Entsprechend hält er auch fest, dass „Gesellschaftstheorie – als Sozialontologie – keine Theorie dieser oder jener Gesellschaft, sondern die Bedingung der Möglichkeit von Gesellschaft überhaupt untersucht“ (427). Gesellschaftstheorie in diesem Sinn macht es sich nicht zur Aufgabe, diejenigen Prozesse und Konflikte zu beschreiben, die sich in der Gesellschaft vollziehen; vielmehr sieht sie es als ihre Aufgabe an, den vorauslaufenden Antagonismus herauszuarbeiten, der die Grundlage von Gesellschaft ist. Derart zugespitzt handelt es sich bei Marcharts postfundamentalistischer Theorie eher um eine Theorie des Politischen als um eine Theorie der Gesellschaft. Eine Verschiebung, die Marchart im dritten Teil seines Buches konsequenterweise selbst deutlich macht, wenn er festhält, dass der Antagonismus der „Name des Politischen“ (428) sei und auf die Frage, was eine postfundamentalistische Theorie zu einer Sozialtheorie beizutragen habe, antwortet: „relativ wenig. Gesellschaftstheorie, wie sie hier verstanden wird, kann weder der empirischen Forschung noch der politischen Praxis ein Fundament bereitstellen.“ (445). Bei der postfundamentalistischen Theorie der Gesellschaft, wie Marchart sie vor Augen hat, handelt es sich also letztlich um eine Metatheorie, die dazu dient, das methodische Instrumentarium der Sozialtheorie auf seine Angemessenheit und Selbstreflektiertheit hin zu befragen. Folgerichtig ist das die Aufgabe, die sich Marchart im letzten Teil der Studie vornimmt. Hier soll gezeigt werden, dass die Ansätze der poststrukturalistischen Sozialwissenschaften im Wesentlichen den postfundamentalistischen Prämissen entsprechen.

Marcharts Überprüfung der poststrukturalistischen Sozialwissenschaften ist dabei zweistufig angelegt. Zunächst werden eine Reihe von theoretischen Grundbegriffen wie Macht, Staat, Hegemonie und Praxis auf ihre Angemessenheit hin befragt, bevor im zweiten Schritt deren Anwendung am Beispiel der Prekarisierungsgesellschaft geprüft wird. Ich will mich hier vor allem diesem zweiten Schritt zuwenden: Prekarisierung, so wird im Ausgang von Regulationstheorie, Gouvernementalitätstheorie, pragmatischer Soziologie und Postoperaismus argumentiert, meint nicht einfach, dass sich in der Gegenwart eine gesellschaftlich abgehängte Gruppe der Prekären ausdifferenziert, sondern einen neuartigen Konstitutionsprozess des Sozialen selbst. Dieser lässt sich entlang von drei Merkmalen beschreiben: Erstens ist die Erfahrung der Prekarisierung aufgrund der umfassenden Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen nicht auf eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe beschränkt, sondern liegt quer zu Schicht- und Klassengrenzen. Zweitens bezeichnet Prekarisierung kein klar auf den Arbeitssektor zugeschnittenes Phänomen, da es die Grenze zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit selbst immer weiter auflöst. Und drittens meint Prekarisierung kein rein ökonomisches Verhältnis, sondern einen Vorgang, der sich in den gesamten Selbst- und Weltverhältnissen der Individuen niederschlägt. Indem Prekarisierung als ein derart umfassendes Phänomen verstanden wird, so Marchart, „erfüllt es die eingangs formulierten Anforderungen an Gesellschaftskritik: Es benennt eine partielle Tendenz, die das Soziale in seiner Totalität erfasst hat.“ (402) Und da die partielle Totalisierung des Sozialen in den genannten Untersuchungen nicht mehr auf ökonomische Zwangsgesetze zurückgeführt wird, so Marchart weiter, werden sie auch der postfundamentalistischen Grundüberzeugung von der fundamentalen Kontingenz von Gesellschaft gerecht.

Die Untersuchungen zur Prekarisierungsgesellschaft vermögen jedoch nicht nur das postfundamentalistische Kriterium der Kontingenz, sondern auch dasjenige der Konfliktualität einzuholen. Indem sie die Entstehung der Prekarisierungsgesellschaft nämlich nicht als Effekt von ökonomischen Zwangsgesetzen, sondern als Effekt von sozialen Bewegungen denken – wie etwa der von Boltanski und Chiapello sogenannten „Künstlerkritik“ – , verstehen sie die gesellschaftliche Schließung des Sozialen als Resultat von sozialen Kämpfen. Der Charakter dieser Kämpfe hat in unserer Gegenwart dabei eine besondere Gestalt angenommen: Es handelt sich nicht mehr um Kämpfe zwischen postfundamentalistischen und fundamentalistischen Konzepten von Gesellschaft, sondern vielmehr um Kämpfe innerhalb des postfundamentalistischen Paradigmas. Diesen Wandel im Charakter von gesellschaftlichen Kämpfen reflektiert Marchart mit dem Konzept der „Bewegungsgesellschaft“ (406). Sozialer Protest stellt hier nicht mehr allein ein politisches Artikulationsmittel für soziale Randgruppen, sondern auch für die Mitte der Gesellschaft dar: Er ist von einem episodischen zu einem allgegenwärtigen Phänomen geworden. Statt diese Ausweitung von sozialen Konflikten nun zum Anlass für eine Krisendiagnose der gegenwärtigen Gesellschaft zu nehmen, zeigt sich in ihnen für Marchart vielmehr, dass sich moderne Gesellschaften in gewissem Sinne ihres grundlegend antagonistischen Charakters bewusst geworden sind. „An den Kämpfen, die von sozialen Bewegungen sichtbar gemacht werden“, so schreibt er, „lassen sich Kontingenz und Konfliktualität des Sozialen auf verallgemeinerungsfähige Weise erfahren“ (443). In der Bewegungsgesellschaft, so könnte diese These abschließend zugespitzt werden, ist der Postfundamentalismus zu sich selbst gekommen.

Von Linkshegelianismus zum Linksheideggerianismus – und zurück?

Marcharts Leitmotiv des Antagonismus, so hatten wir im letzten Schritt gesehen, erfährt im Motiv des sozialen Kampfes seine lebensweltliche Konkretisierung. Nun eignet sich eben dieses Motiv dazu, Marcharts theoretischem Projekt im Ganzen noch einmal Kontur zu verleihen und einige kritische Rückfragen zu stellen. Das Motiv des sozialen Kampfes bildet in der zeitgenössischen Theorielandschaft nämlich nicht nur für das linksheideggerianische Projekt von Marchart, sondern auch für das linkshegelianische Projekt von Axel Honneth ein wichtiges Motiv. Im Rahmen seiner Anerkennungstheorie bilden Kämpfe um verletzte Identitätsansprüche ein zentrales Antriebsmoment gesellschaftlichen Wandels. Sowohl Marchart als auch Honneth verstehen gesellschaftliche Transformationen damit als Resultat von Konflikten. Freilich unterscheiden sich beide Theorien hinsichtlich der Frage, welches Prinzip sie den sozialen Kämpfen zu Grunde legen. Während das dialektische Denken Honneths den Kampf als Ausdruck der Selbstentfaltung von historisch gewachsenen Vernunftansprüchen sieht, betrachtet Marcharts Denken der Differenz den Kampf jenseits von teleologischen Ansprüchen. Wo der Kampf für Honneth als Ausdruck einer geschichtlichen Entfaltung von Normativität verstanden wird, gilt er Marchart als Ausdruck eines grundlegenden Kampfes um dasjenige, was überhaupt als Normativität gilt. Der postfundamentalistische Begriff der Gesellschaft hat seine Stärken daher dort, wo es darum geht, den Kampf als Bedingung der Möglichkeit von Gesellschaft zu analysieren. Der dialektische Ansatz wiederum hat seine Stärken dort, wo es darum geht, die Entwicklung von Normativität durch soziale Kämpfe zu schildern. Die Differenz zwischen dem linksheideggerianischen Ansatz Marcharts und linkshegelianischen Ansatz Honneths betrifft also in erster Linie den Gegenstand, der in den Blick der Untersuchung geraten soll. Während Honneth durch soziale Kämpfe etwas über die Normativität des Sozialen erfahren möchte, möchte Marchart mit ihrer Hilfe die kontingenten Grundlagen der Gesellschaft freilegen.

Vor dem skizzierten Hintergrund wird man zunächst aus linkshegelianischer Perspektive einige Fragen an das postfundamentalistische Konzept des Kampfes richten wollen. Erstens bleibt am Motiv des sozialen Kampfes ungeklärt, wann konkrete soziale Kämpfe zu ontologischen Kämpfen um die Konstitution des Sozialen werden und wann sie lediglich Kämpfe innerhalb der gegeben sozialen Ordnung bleiben. Gerne hätte man von Marchart mehr darüber erfahren, in welchem Fall wir es bloß mit reformistischen Kämpfen und wann mit revolutionären Kämpfen um die grundsätzliche Verfasstheit von Gesellschaft zu tun haben. Zweitens scheint die Radikalisierung des Kampfmotivs mit einer vollständigen Absage an das Motiv der Bildung und des Fortschritts verknüpft zu sein. Der Übergang von einer Gesellschaftsformation zu einer anderen kann in der Theorie des Postfundamentalismus nur als Kampf, niemals jedoch als Resultat von historischen Lernprozessen verstanden werden. Drittens scheinen mit der Fokussierung auf das Kampfmotiv alle gesellschaftlichen Verhältnisse auf der Basis des Modells der Gegnerschaft verstanden zu werden. Damit geraten aber all jene Mechanismen der Vergemeinschaftung aus dem Blick, die nicht auf Exklusion, sondern auf Inklusion beruhen (wie Ritual, Fest oder Ereignis). Für solche Mechanismen scheint in einer polemologischen Gesellschaftstheorie, wie sie Marchart vor Augen steht, gar kein systematischer Platz vorgesehen zu sein.

In einem nächsten Schritt lässt sich die Frage stellen, ob nicht dem Fokus auf das Motiv des Kampfes selbst etwas Problematisches anhaftet. Die Frage, die sich postfundamentalistische Ansätze gefallen lassen müssen, lautet, ob sie nicht in einem Bild gefangen sind, das seine eigenen normativen Implikationen nicht in den Blick zu bekommen vermag. Geht nicht das Motiv des Kampfes zwangsläufig mit einem antagonistischen Gesellschaftsmodell einher, das der moderne Individualismus seit jeher als Leitbild ausgegeben hat? Nicht zuletzt aufgrund solcher Implikationen haben einige soziale Widerstandsbewegungen der Gegenwart andere Formen der sozialen Intervention entwickelt. So ist etwa in der queerfeministischen Bewegung das Motiv des Kampfes demjenigen der subversiven Wiederholung gewichen. An die Stelle des Antagonismus ist die Iteration getreten, die sich der konfrontativen Gegenüberstellung entzieht. Subversive Wiederholungen – wie etwa im camp oder im drag – zielen nicht auf die Überwältigung des Gegenübers, sondern auf die Freisetzung von Begehren. Im Anschluss daran stellt sich die Frage, ob eine auf dem Motiv des Kampfes beruhende postfundamentalistische Theorie der Gesellschaft sozialen Bewegungen, die nicht auf dem Konzept der konfliktuösen Konfrontation, sondern auf dem Konzept der subversiven Einschreibung beruhen, überhaupt gerecht zu werden vermag.

In einem letzten Schritt stellt sich schließlich die Frage nach der emanzipativen Erschließungskraft des Konzepts des Postfundamentalismus. Zwar trifft es sicherlich zu, dass der Fundamentalismus in seinen Spielarten von Rasse, Klasse, Nation und Religion auch heute noch einen wichtigen Gegner von emanzipativen Bewegungen darstellt; gleichwohl ist neben diese klassischen Opponenten emanzipativer Theorie ein neuer Opponent getreten: der Neoliberalismus. Dieser, so scheint es, benötigt aber gerade keine fundamentalistische Grundlage mehr, insofern er sich auf anonyme Sachzwänge zurückzuziehen und damit die Begründungsfrage zu umgehen vermag. Das neoliberale Mantra „There is no alternative!“ ist ja gerade nicht als Ausdruck eines Letztbegründungsanspruchs zu verstehen, sondern vielmehr als Bejahung der Tatsache, dass es keine andere Möglichkeit gibt, als sich den jeweils kontingenten Bedingungen von Gesellschaft zu fügen. Insofern man den Neoliberalismus aber selbst als eine Spielart des Postfundamentalismus versteht, stellt sich die Frage, inwiefern die von Marchart skizzierte Theorie in der Lage ist, diesem gegenüber kritisch Stellung nehmen zu können. Sobald sich die Opposition von Fundamentalismus und Postfundamentalismus nämlich aufgelöst hat, scheinen die begrifflichen Mittel der linksheideggerianischen Gesellschaftskritik erschöpft, besteht doch die einzige Kritikmöglichkeit konkurrierender postfundamentalistischer Gesellschaftsentwürfe darin, ein überzeugenderes normatives Modell des Sozialen ins Spiel zu bringen als diese. Da die linksheideggerianische Tradition ein solches normatives Modell bisher freilich nicht zu liefern vermag, könnte sich ein Blick auf die linkshegelianische Tradition lohnen. Dabei könnte es zu einem fruchtbaren theoretischen Austausch kommen: Während letztere von ersterer etwas über die Kontingenz von Gesellschaft lernen könnte, könnte erstere von letzterer etwas über die Normativität des Sozialen erfahren.

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