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Keucheyan, Razmig: The Left Hemisphere. Mapping Critical Theory Today. Translated by Gregory Elliott. London/New York: Verso 2013. 264 Seiten. [978-1-78168-102-2]

Rezensiert von Conrad Lluis Martell (Universität Barcelona/Hamburg)

The Soviet bloc has disappeared. Socialism has ceased to be a widespread ideal. Marxism is no longer a dominant in the culture of the Left. Even Labourism has largely dissolved. To say that these changes are enormous would be an under-statement. (Anderson 2000: 3)

Zurückgezogen und in die Defensive gedrängt – Perry Andersons Diagnose der Lage der Linken zur Jahrtausendwende ist Programm für Razmig Keucheyans Hémisphère Gauche. Une cartographie des nouvelles pensées critiques, das im französischen Original 2010 erschien. Im Folgenden beziehe ich mich auf die englische Fassung des Buches, die 2013 in der gut lesbaren Übersetzung Gregory Elliotts von Verso herausgegeben wurde. Keucheyans Monographie offeriert nun, wie der Klappentext von Verso mit Pathos ankündigt, “the first global cartography of the expanding intellectual field of critical contemporary thought”. The Left Hemisphere. Mapping Critical Theory Today, so der englische Titel der Monographie, stellt sich den ehrgeizigen Anspruch, eine synthetische Übersicht der kritischen Theorien der Gegenwart zu liefern. Als kritischer Theoretiker und politischer Aktivist versteht Keucheyan seine Theorieübersicht indes nicht als rein akademisches Exerzitium. Vielmehr stellt er seine Theorierekonstruktionen in den Rahmen des „historischen Einschnittes“ für die politische Linke, die der Fall der Berliner Mauer bedeutete. Denn Keucheyans durchaus polemischer und kontroverser Ausgangspunkt ist, dass das Ende des Ostblockes eine Phase des Rückzuges linker politischer Praxis und Theorie eingeleitet hat. Auf eine Formel gebracht, lautet die streitbare Hypothese des Autors, die als roter Faden The Left Hemisphere durchzieht: Seit dem Fall der Mauer stehen kritische Theorien im Zeichen der Niederlage.

Das Ende des realexistierenden Sozialismus, die Dekadenz marxistisch-sozialdemokratischer Arbeiterkultur und -politik sowie der globale Siegeszug des Neoliberalismus wirken sich nach Keucheyan auch auf kritische Theorien aus, deren theoretischen und politischen Ambitionen sie einen schweren Schlag versetzt haben. Doch wie haben kritische Theorien auf den Niedergang des Sozialismus und den Sieg des Kapitalismus reagiert, und wie haben sie sich seit 1989 neu formiert? Wie also gestaltet sich die Landschaft kritischer Theorien heute? Auf diese Schlüsselfrage möchte The Left Hemisphere eine Antwort geben und entwirft dazu eine umfassende Kartographie der zeitgenössischen kritischen Theorien, die ihre Anliegen, Akzentsetzungen und Diagnosen systematisch durcharbeitet: von Negri zu Laclau, von Habermas zu Agamben, von Spivak zu Harvey. Das Alleinstellungsmerkmal von The Left Hemisphere ist hierbei, dass Keucheyan seine theoretische Zusammenschau mit einem strategisch-politischen Anliegen ersten Ranges verbindet: Wie können kritische Theorien ihre gegenwärtige Defensivstellung überwinden und zu jener Relevanz zurückfinden, die sie in der Vergangenheit besaßen?

Im Folgenden setze ich mich mit The Left Hemisphere in drei Schritten auseinander. Zunächst (I) stelle ich Keucheyans Begriff kritischer Theorie vor und rekonstruiere, in welchen historischen Kontext er die kritischen Theorien der Gegenwart einbettet. Dann (II) stelle ich die systematische Architektur von Keucheyans Theorieüberblick dar und erläutere dessen Schwerpunkte. Abschließend (III) diskutiere ich den marxistischen Subtext von The Left Hemisphere und stelle seine Fruchtbarkeit in Frage.

  1. Den Standort kritischer Theorie bestimmen

Der Untertitel von Keucheyans Monographie, Mapping Critical Theory Today, ist Programm: Das Werk stellt die kritischen Theorieströmungen der Gegenwart vor und arbeitet ihre zentralen Probleme synoptisch heraus. Dabei wird ein sehr allgemeiner Begriff von kritischer Theorie gebraucht, der sich nicht auf eine bestimmte Theorietradition (etwa der Frankfurter Schule) eingrenzen lässt. Keucheyan gilt Theorie dann als kritisch, wenn sie sich nicht mit der Beschreibung sozialer Tatbestände abfindet, sondern sie auch kritisch in Frage stellt. Eine Theorie ist also kritisch, sobald sie deskriptive Bestandsaufnahmen mit normativen Zielvorgaben verwebt (2). Allen kritischen Ansätzen ist eine holistische Grundausrichtung gemein: Sie grenzen sich nicht auf spezifische soziale Felder ein, sondern sind auf das Gesellschaftsganze ausgerichtet. Kritische Theorien nehmen die Widersprüche der gesamten Gesellschaftsformation ins Visier: „Whether radical or more moderate, the ‘critical’ dimension of the new critical theories consists in the general character of their challenge to the contemporary social world” (3). Kurz: Nach Keucheyan sind kritische Theorien stets kritische Gesellschaftstheorien.

The Left Hemisphere vergleicht nun die kritischen Theorien der Gegenwart nicht nur konzeptuell miteinander, der erste Teil des Werkes (Contexts) nimmt zudem eine politisch-historische Einbettung der aktuellen Theorielandschaft vor. Diese „kontextuelle Erdung“ flankiert den systematischen Überblick (Theories) und fungiert als sein historischer Horizont. Letzterer zeichnet sich, folgen wir Keucheyan, durch drei Eckpunkte aus.

Erstens bedeute das Ende des Staatssozialismus, symbolisiert durch den Fall der Berliner Mauer, eine epochale Zäsur kritischer Theorieproduktion. Das Jahr 1989 markiert eine bis heute anhaltende Zurückdrängung linker Theoriebildung. Dieser Einschnitt manifestiere sich speziell im Bedeutungsverlust des Marxismus für die kritischen Theorien der Gegenwart. Waren marxistische Theoreme lange eine Conditio sine qua non jeder kritischer Theorie, so haben sie laut Keucheyan heute diese Referenzfunktion verloren: „Marxism can no longer claim the centrality it once possessed“ (24). An seine Stelle trete eine eklektische „proliferation of references“ (24): Kritische Autoren beziehen sich heute auf unterschiedlichste Traditionen, darunter, um nur einige zu nennen, der Poststrukturalismus eines Foucault oder Derrida, der Liberalismus eines Rawls oder Arendt oder der radikale Dezisionismus eines Schmitt (24ff.).

Zweitens erleben kritische Theorien eine weitgehende Entpolitisierung, die sich in der zusehenden Akademisierung kritischen Denkens bemerkbar macht. Sie setze bereits in den 1920er Jahren an, beschleunige sich aber seit Ende der 1970er Jahr als Ergebnis der neoliberalen Umstrukturierung des akademischen Feldes. Diese Akademisierung schneide die theoretische Reflektion von der politischen Praxis ab. Nur wenige kritische Autoren seien noch in politischen Organisationen, Bewegungen oder Parteien aktiv (72). Doch die Akademisierung wirke sich auch auf die Theoriebildung selbst aus: Wenn außerhalb der Akademie alternative „Subsinnwelten“ (Berger/Luckmann 2007: 91) à la Partei, Kaderschule oder Debattierzirkel schwänden, dann seien kritische Theorien den Spielregeln und Moden des wissenschaftlichen Feldes restlos ausgesetzt. Dass etwa der Begriff der Identität an die Stelle des Klassenbegriffes trete, hänge nicht nur mit dem faktischen, demographischen und politischen, Niedergang der Arbeiterklasse zusammen, sondern erkläre sich ebenfalls durch innerakademische Konjunkturen. Die Ersetzung des Klassen- durch den Identitätsbegriff sei wesentlich, so Keucheyan, dem Trendsetting der angelsächsischen Akademie zuzuschreiben (21).

Drittens seien kritische Theorien tief durch die intellektuellen Folgen von 1968 geprägt, und speziell durch den Poststrukturalismus. Keucheyan spitzt diesen Einfluss auf zwei Momente zu: Zum einen verliere die Arbeiterklasse mit dem 68er-Denken ihren Status als privilegiertes Subjekt politischer Veränderung. Die neuen sozialen Bewegungen (Frauen-, Studenten- oder Schwulenbewegung) seien das paradigmatische Beispiel dafür, dass sich in den letzten 40 Jahren neue Kollektivitätsfiguren gebildet haben, die sozialen Wandel antreiben könnten. Zum anderen inauguriere 1968 ein neues, organisch ausgerichtetes Machtverständnis. Besonders die Schriften Foucaults und die Wiederentdeckung Gramscis hätten dafür gesorgt, dass sich das Sensorium für Macht- und Herrschaftsfragen vom Staat und der Ökonomie auf die gesamte Gesellschaftsformation ausgedehnt habe. Machtverhältnisse ließen sich nach 1968 nicht mehr auf klar umgrenzte Gesellschaftsbereiche eingrenzen, sondern durchzögen alle Sphären des Sozialen. Auf diese Weise avanciere die Macht zu einem „generellen und allgegenwärtigen“ sozialen Verhältnis (so auch Saar 2008: 200).

  1. System und Subjekt – kritische Theorien heute

Die Zäsur von 1989, eine weitgehende Entpolitisierung und Akademisierung und der Einfluss des 68er-Denkens bestimmen also nach Keucheyan den historischen Kontext, in dem sich kritische Theorien heute bewegen. In einer Zeit, die sich durch die zusehende Globalisierung und Diversifizierung intellektueller Debatten auszeichne (22–27), arbeitet The Left Hemisphere die Landkarte kritischer Theoriebildung entlang zweier Achsen auf: Zum einen fasst Keucheyan unter system (79–167) all jene Ansätze, die sich mit globalen Fragestellungen wie der Entwicklung des Kapitalismus, dem Imperialismus, der Konstruktion von Europa oder der Ökologie auseinandersetzen (77). Zum anderen präsentiert er im Kapitel subjects (169–248) Theorien, die nach den Kollektivsubjekten politischer Veränderungen fragen. Welche politischen Akteure (subjects of emancipation) könnten sich nach dem weitgehenden Niedergang der Arbeiterklasse auftun?, so die Leitfrage des zweiten Kapitels. Auch wenn Keucheyan die Zweiteilung in system und subjects durch feinmaschigere Untergliederungen präzisiert, stellen die Fragen von System und Subjekt die beiden Achsen dar, um die sich seine Exposition kritischer Theorien dreht. Im Folgenden werde ich auf beide Felder eingehen und ihre Konfliktlinien aufzeigen, indem ich exemplarisch ihre je zentralen Themengebiete anreiße. Im Systemkapitel ist dies die Frage nach einer schlagkräftigen Kapitalismusanalyse und -kritik, im Subjektkapitel die nach dem Kollektivsubjekt, das sozialen Wandel antreibt.

Zunächst also zur zeitgenössischen Kapitalismusanalyse und -kritik. Dass kapitalistische Akkumulationskreisläufe mittlerweile den gesamten Globus umspannen, darin sind sich nach Keucheyan alle kritischen Autor/innen einig. Doch wenn es darum geht, die Grundmechanismen und Tendenzen des globalen Kapitalismus zu bestimmen, tun sich verschiedene Antwortmöglichkeiten auf. Die erste Antwort identifiziert Keucheyan in Antonio Negris und Michael Hardts Konzept des kognitiven Kapitalismus (79–93). Ihnen zufolge hat der Kapitalismus seit den 1970er Jahren eine immaterielle Wende vollzogen. Beruhte die klassische fordistische Produktion noch auf dem Einsatz von Arbeitskraft, so zeichnet sich die postfordistische Produktion mit ihrer Netzwerkstruktur, Informatisierung und Flexibilisierung durch eine gesteigerte Bedeutung des Wissens für die Wertschöpfung aus. Die Ersetzung von Arbeit durch Wissen zeitigt ebenfalls Folgen für die Klassenzusammensetzung: „Once knowledge-value replaces labour-value, a new social class based on the new form of value, and the exploitation of whose activity grounds the new capitalist regime, should appear, just as the exploitation of the industrial working class formerly enabled industrial capitalism to function.” (92) Der immaterielle Kapitalismus fußt auf einer ausgebeuteten Klasse von Arbeiter/innen, die – in Journalismus, Wissenschaft, Ingenieurwesen, Kunst, etc. – Wissensgüter produzieren. Diesem kognitiven Prekariat wohnen insofern Widerstandskeime inne, so Negri und Hardt, als sein Wissen sich nie vollständig durch das Kapital aneignen lässt. Dieser Überschuss ist die Keimzelle für die Herausbildung eines revolutionären Kollektivsubjekts, der Multitude. Die Analyse Negris und Hardts ist deshalb spannend, weil sie die marxsche Kapitalismuskritik durch Konzepte wie Post-Fordismus, Immaterialität, Wissen, kognitives Prekariat oder Multitude für die Gegenwart aktualisiert. Marx’ Grundräsonnement aber behalten Negri und Hardt bei: Das Kapital untergräbt immanent seine eigenen Existenzbedingungen und erschafft selbst jenes revolutionäre Kollektivsubjekt, die Multitude, das seinerseits den Kommunismus herbeiführen wird.

Negris und Hardts Verflechtung poststrukturalistischer, operaistischer und materialistischer Konzepte unterscheidet sich von jenen Kapitalismusanalysen, die sich eng an Marx’ Kritik der politischen Ökonomie halten. Ökonomen wie Robert Brenner, Giovanni Arrighi oder Elmar Altvater beschreiben die gegenwärtige Phase des Kapitalismus in Marx’ eigenen Begriffen (143–161). So deutet Robert Brenner die Finanzkrise von 2008 als Höhepunkt eines kapitalistischen Akkumulationszyklus, der mit der Stagnationsphase der 1970er Jahre begann. Um dem damaligen Fall der Profitrate entgegenzuwirken, forcierte die kapitalistische Dynamik den Abbau des Sozialstaates und baute die Finanz- gegenüber der Realwirtschaft aus. Doch Gewinne der Finanzwirtschaft gründen, so Brenner, nicht auf realen Steigerungsraten, sondern auf Spekulationen, die immer wieder aufs Neue in zwingend zerberstenden „Finanzblasen“ münden. Entscheidend ist, dass Brenner die Finanzialisierung der Wirtschaft als notwendiges Ergebnis kapitalistischer Akkumulationslogiken liest (149f.).

Von materialistischen Zugängen, wie exemplarisch von Brenner vertreten, unterscheidet sich Luc Boltanskis und Ève Chiapellos weberianische Ansatz radikal. Für Boltanski und Chiapello wohnt dem Kapitalismus keine Notwendigkeitslogik inne, vielmehr ist die Kapitalakkumulation auf externe Diskurse angewiesen, die sie mit Sinn ausstatten und legitimieren (164). Im Anschluss an Webers These von der protestantischen Ethik, die am Anfang des Kapitalismus stand, zeichnen die Autoren nach, welche Wandlungen der kapitalistische Geist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebt hat. Ihre zentrale These ist, dass die neoliberale Wende der 1970er und 1980er Jahre ein kontingentes Ergebnis politischer Prozesse ist. Boltanski und Chiapello verorten die Anfänge des neoliberalen Kapitalismus in der subversiven Vereinnahmung der Kritik der 68er-Bewegung. In Keucheyans Zusammenfassung:

„fluidity, autonomy, creativity, hostility to bureaucracy, and so on. These formerly bohemian values are now those that inspire any self-respecting manager. The bureaucratic hierarchies of yesteryear are regarded as inefficient. The individual’s flourishing in the firm is one of the latter’s objectives, effective economic action even having this flourishing as a precondition. The ‘start-ups’ or ‘dot-coms’ of the 1990s, or a transnational like Google, illustrate capitalism’s recuperation of the libertarian values of 1968.” (166f.; vgl. auch Strath 2002: 74)

Der neue Geist des Kapitalismus hat die Kritik der 68er-Bewegung gleichsam reartikuliert – und damit die Legitimationskrise abgewendet, in der sich der Kapitalismus zeitweilig befand. Folgen wir Boltanskis und Chiapellos Argumentation, dann ist der Kapitalismus nicht operativ geschlossen, sondern steht in einem steten Wechselverhältnis zu den Kritikformen, die sich gegen ihn richten. Das diskursive Regime („der Geist“), das die kapitalistische Akkumulation legitimiert, wandelt sich historisch. Und welche Pfade diese Wandlung einschlägt, und ob und wie es ihr gelingt, Kapitalismuskritik subversiv zu reartikulieren, steht a priori gänzlich offen.

Die Beispiele zeigen, wie unterschiedlich zeitgenössische Kapitalismuskritik gelagert ist. Sie beschreibt orthodox marxistisch Zyklen der Kapitalakkumulation (Brenner). Sie aktualisiert mit postoperaistischen Konzepten (immaterielle Arbeit, Multitude) die materialistische These von der Selbstaushöhlung des Kapitalismus (Negri/Hardt). Oder sie entscheidet sich dafür, den Blick auf die diskursiven Regime – und ihren Wandel – zu lenken, die den kapitalistischen Prozess mit Legitimität ausstatten (Boltanski/Chiapello). Die Positionen sind nicht weniger heterogen, wenn Keucheyan im Kapitel subjects der Frage nachgeht, was kritische Theorien heute unter dem Kollektivsubjekt politischen Wandels verstehen. The Left Hemisphere macht dabei eine Gegenüberstellung zwischen den Ansätzen auf, die das politische Subjekt weiterhin als Klasse definieren, und jenen, die stattdessen für den Identitätsbegriff optieren.

Auf der einen Seite stehen marxistische bzw. neomarxistische Ansätze, die versuchen, den Klassenbegriff für gegenwärtige Debatten aktuell zu halten. Folgt man Autoren wie Alex Callinicos, Slavoj Žižek, Alain Badiou oder David Harvey gehen zwar Klassenidentitäten nicht automatisch aus ökonomischen Gesetzmäßigkeiten hervor, sie sind aber weiterhin konstitutiv auf diese angewiesen. Wie Keucheyan betont: „if the development of a class culture or identity includes a degree of contingency, it is supplied with ballast by ‘objective’ socio-economic factors” (212). So geht etwa der marxistische Geograph Harvey über die klassisch materialistische Position hinaus, wenn er davon spricht, dass Klassen stets auch Gemeinschaftsformen sind. Die Entstehung einer Klasse gründet nicht bloß auf harten ökonomischen Fakten, sondern basiert auch auf „weichen“ Sozialisationsprozessen. Fungierte im 19. Jahrhundert noch die Fabrik als der zentrale Ort, wo sich die Arbeiteridentität herausbildete, so haben heute eher räumlich-geographische Kategorien, die sich um den Wohnort drehen – wie das Viertel oder Quartier –, diesen Platz eingenommen (211ff.). Jedoch formieren sich nach Harvey auch diese geographischen Klassengemeinschaften keineswegs zufällig, sondern bleiben durch „objektive“ ökonomische Gesetze bedingt. Harvey beharrt materialistisch darauf, dass es kapitalistische Prozesse sind, welche die Unter- und Arbeiterschichten buchstäblich in die urbane Peripherie (in die Sozialwohnsiedlung, Banlieue oder Favela) ausstoßen.

Gegen diesen (neo)marxistischen Klassenbegriff inauguriert der Historiker E.P. Thompson eine Perspektive, die sich für eine Entsubstantialisierung des Klassenbegriffes entscheidet. Thompson liest Klassenidentitäten nicht als Ergebnis objektiver ökonomischer Gesetze, sondern in konstruktivistischer Manier als Ergebnis kollektiver Erfahrungen, als „set of values, representations and affects formed over time“ (209). Thompson rückt damit die Traditionen, Werte, Ideologeme und Institutionen ins Zentrum – sozialistische Ideologien, Arbeitervereine, Gewerkschaften, Parteien etc. –, um die herum sich in gewissen sozio-historischen Kontexten ein Klassenbewusstsein herausbildete. Klassen bilden sich demnach dort, wo sie ein Bewusstsein ihrer selbst gewinnen, wo sie also, marxistisch gesprochen, „für sich“ werden.

Von Thompsons konstruktivistischem Klassenbegriff ist es nur noch ein kleiner Schritt hin zu seiner Ersetzung durch den breiter ausgerichteten Identitätsbegriff. Wenn sich Klassen durch kollektive Erfahrungsprozesse herausbilden, warum sollte dann nicht dasselbe mit anderen sozialen Kategorien wie denen von Geschlecht, Ethnie oder Nation geschehen? Der Identitätsbegriff fungiert dabei als konzeptueller Universalschlüssel, um die Einbindung von Subjekten in jede Kollektivitätsform zu denken – auch abseits von einer „objektiven“ ökonomischen Basis. Von Judith Butler über Axel Honneth bis hin zu Achille Mbembe deckt The Left Hemisphere ein weites Feld von Ansätzen ab, die mit dem Identitätsbegriff arbeiten. Was kritische Identitätstheorien in aller Verschiedenheit eint, ist die Überzeugung, dass Identitäten weder essentiell gegeben sind noch friedlich „in sich ruhen“, sondern durch kontingente Konstruktionen entstehen und von Konflikten durchzogen werden. Identitäten sind konfliktgeladene Konstruktionen. Mit dem Identitätsbegriff verbindet sich somit eine kritische Grundintuition: Nicht nur die Klasse, jede Kollektivitätsform zeichnet sich durch Antagonismen sowie Macht- und Herrschaftsverhältnisse aus. Für poststrukturalistische Sozialtheorien etwa sind die vermeintlich unpolitischen und natürlichen Geschlechtsidentitäten „Mann“ und „Frau“ in einen Bedeutungshorizont eingefasst, der sich mit Butler als heteronormative Matrix definieren lässt (196ff.). Diese Matrix wird dadurch wirkmächtig, dass sie Grenzfiguren wie Homosexualität, Intersexualität oder Perversion aus ihrem Horizont verdrängt – und als untergründige Gefahrenzonen brandmarkt. Für den Poststrukturalismus steht fest: Jede Identität muss derartige „Spuren der Ausschlussakte zeigen, die ihre Konstitution begleiten“ (Mouffe 2008: 36).

  1. Im Zeichen der Niederlage? Der marxistische Subtext von The Left Hemisphere

The Left Hemisphere zeichnet sich durch seinen synthetischen Ehrgeiz aus. Das Werk möchte einen Überblick über die Debatten liefern, die heute im Feld kritischer Theorien geführt werden. Insofern stellt sich Keucheyan in die illustre Nachfolge von Considerations on Western Marxism (1976) und In the Tracks of Historical Materialism (1983) – Büchern, in denen Perry Anderson die Entwicklung marxistischer Theoriebildung zwischen den 1920er und den 1980er Jahren nachzeichnet. Und wie bei Anderson ist auch Keucheyans politische Positionierung unverkennbar. Es ist die Tradition des Marxismus, in der sich Keucheyan verortet und „von der aus er spricht“. Dass ein Autor in einer Übersicht über kritische Theorien ideologisch Farbe bekennt und eine klare Position bezieht, ist zwar an und für sich begrüßenswert. Derartige Positionierungen können aber zum methodologischen Problem werden, wenn sie nicht als solche expliziert werden, sondern einem impliziten Subtext gleichen, der Argumentationsgänge untergründig strukturiert. Genau dies geschieht zuweilen in The Left Hemisphere.

Zunächst äußert sich die marxistische Perspektive Keucheyans in der Architektur seines Theorievergleichs. Seine Ausführungen folgen stets einer binären Logik, die materialistische von nichtmaterialistischen Ansätzen abgrenzt und sie einander gegenüberstellt. Diese Dichotomisierung kennt Fälle eines bekennenden klassischen Marxismus (Robert Brenner, Elmar Altvater oder David Harvey), sie kennt „postmodern geläuterte“ Marxismusversionen (Antonio Negri, Alain Badiou oder Álvaro García Linera), und sie kennt nichtmarxistische Ansätze, die sich vom klassisch materialistischen Begriffsrepertoire verabschiedet haben (Luc Boltanski, Judith Butler oder Ernesto Laclau). Wir haben gesehen, wie Keucheyan die Theorieüberblicke zu den Themen „Kapitalismusanalyse“ und „politisches Subjekt“ mithilfe der Abgrenzung marxistische versus nicht-marxistische Orientierung strukturiert. Aber ist diese Gegenüberstellung angebracht, um die kritischen Theorien der Gegenwart insgesamt zu erfassen?

Gerade im Subjektkapitel fragt sich, ob Keucheyans Dichotomie Klasse versus Identität tatsächlich ins Zentrum gegenwärtiger Debatten führt. Wäre es nicht fruchtbarer gewesen, den Klassenbegriff in den Hintergrund zu stellen und den Fokus stattdessen darauf zu richten, mit welchen Kollektivitätsfiguren ihn aktuelle Theoriebildung beerbt? Denn sogar materialistische Autor/innen erkennen mittlerweile an, dass das Subjekt „Arbeiterklasse“ nicht mehr im Zentrum antikapitalistischen Protestformen steht und ein Bedarf an alternativen Kollektivitätsverständnissen herrscht (Therborn 2014; Thien 2014: 181ff.). So gibt es derzeit im Feld kritischer Theorie eine rege Diskussion darüber, welche Kollektivitätsmodelle die Mobilisierungsprozesse der Gegenwart – etwa die spanischen indignados (Empörten), die amerikanische Occupy-Bewegung oder die türkischen Gezi-Park-Proteste – konzeptualisieren können. Begriffe wie jener der Multitude (Hardt/Negri), der Assemblage (Deleuze) oder des Volkes (Laclau) stehen im Zentrum aktueller Diskussionen. Von einer Übersicht kritischer Theorien wird nicht erwartet, dass sie diesen Konzepten zustimmt, wohl aber, dass sie ein Verständnis für die Fragestellungen schafft, denen kritische Theorieansätze rund um den Kollektivitätsbegriff nachgehen.

Doch der materialistische Subtext von The Left Hemisphere entstellt nicht nur die Theorieübersicht, er verantwortet ebenso die Grundannahme Keucheyans, dass sich kritische Theorien seit 1989 im Zeichen der Niederlage befänden. Gewiss symbolisiert der Fall der Berliner Mauer einen tiefen Einschnitt, mit dem der klassische Marxismus in eine tiefe Krise geraten ist. Aber stehen wir heute wirklich vor dem unangefochtenen Triumph von liberaler Demokratie und globalem Kapitalismus? Rückblickend kommt der Einschnitt von 1989 weniger einer Niederlage kritischer Theorie als vielmehr einer Öffnung und Pluralisierung gleich. Der Fall der Mauer kann für linkes Denken und Praxis auch das Sinnbild einer Befreiung sein. Mit dem Ende des Kommunismus verabschiedet sich kritisches Denken endgültig von seinen totalisierenden Motiven, nämlich, wie Laclau betont, von der Vision einer Gesellschaft „without internal frontiers or divisions“ (Laclau 1996: vii). Das Jahr 1989 kann insofern für kritische Theorien nicht ein End-, sondern ein Startpunkt bedeuten – ein Startpunkt, um undogmatisch althergebrachte Hypothesen zu revidieren, mit neuen Kategorien zu experimentieren und neuartige Theoriesynthesen zu lancieren. Wenn man The Left Hemisphere eines vorwerfen muss, dann dass es sich gegen die postmarxistische Öffnung kritischer Theorie entscheidet. Stattdessen wählt Keucheyan eine nostalgische Haltung, welche die „marxsche Triangulation“ (Therborn 2007: 67) von Philosophie, Wissenschaft und politischer Praxis zum untergegangen Idealbild stilisiert. Anstelle solcher Wehmut wäre eine Übersicht der aktuellen kritischen Theorieansätze besser beraten, den Blick nach vorne zu richten. Endgültig vom „Begriffsgefängnis“ des Marxismus befreit, sind kritische Theorien heute vor die Herausforderung gestellt, erst noch das Vokabular zu finden, das unsere Gegenwart adäquat beschreibt. Nicht im Treueschwur auf überlieferte Begriffsapparate bleiben kritische Theorien lebendig, sondern in der Reibung mit ihrer Zeit, mit ihren Widersprüchen und Kämpfen.

Literatur

Anderson, Perry. „Renewals.” In: New Left Review (new series) 1 (2000), 1–20.

Berger, Peter und Thomas Luckmann. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Mit einer Einleitung zur deutschen Ausgabe von Helmuth Plessner. Übersetzt von Monika Plessner. Frankfurt a.M.: S. Fischer, 2007 [1966].

Laclau, Ernesto. Emancipation(s). London/New York: Verso, 1996.

Mouffe, Chantal. Das demokratische Paradox. Übersetzt von Oliver Marchart. Wien: Turia + Kant, 2008 [2000].

Saar, Martin. „Von den Schichten der Einheit zu den Achsen der Differenz.“ In: Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, hg. von Stephan Moebius und Andreas Reckwitz, 194–207. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2008.

Strath, Bo. „1968: from Co-Determination to Co-Worker. The Power of Language.” In: Thesis Eleven 68.2 (2002), 64–81.

Therborn, Göran. „After Dialectics. Radical Social Theory in a Post-Communist World.” In: New Left Review 43 (2007), 63–114.

Therborn, Göran. „New Masses? Social Bases of Resistance.” In: New Left Review 85 (2014), 6–16.

Thien, Hans Günter. „Klassentheorien – Die letzten 50 Jahre.“, In: PROKLA 44.2 (2014), 163–190.



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