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Zeitschrift für philosophische Literatur 2.3 (2014), 35–44

Juliane Spitta: Gemeinschaft jenseits von Identität? Über die paradoxe Renaissance einer politischen Idee. Bielefeld: transcript Verlag 2012. 356 Seiten [978–3–8376–2236-2]

Rezensiert von Sebastian Edinger (Universität Potsdam)

Juliane Spitta unternimmt in ihrer in Buchform unter dem Titel Gemeinschaft jenseits von Identität? Über die paradoxe Renaissance einer politischen Idee veröffentlichten Dissertation den Versuch, das in der Gegenwartsphilosophie virulente Problem der Gemeinschaft aus einer philosophisch elaborierten Perspektive sowohl ideengeschichtlich gesättigt als auch mit einer klaren realpolitischen Orientierung aufzuarbeiten. Den paradoxen Ausgangspunkt ihrer Überlegungen bildet die altbekannte Aporien reproduzierende Renaissance des Gemeinschaftsbegriff vor dem Hintergrund seiner die gesamte Moderne durchziehenden Krisenhaftigkeit (vgl. 13f.). Spittas Vorhaben besteht darin, diese Aporien historisch und strukturell aufzuzeigen und auf einer Marx’sche, poststrukturalistische und psychoanalytische Motive integrierenden Grundlage ein alternatives Konzept politischer Subjektivierung zu erarbeiten.

Spittas ambitionierte Untersuchung ist in drei Teile gegliedert: Im ersten Teil erfährt der Begriff des Politischen Imaginären, welcher als Zentralbegriff ihrer Untersuchung fungiert, im Anschluss an poststrukturalistische (Derrida), psychoanalytische (Lacan) und Marx’sche Theoreme seine Bestimmung. Unter dem Politischen Imaginären versteht Spitta „die strukturgebenden Bilder und Narrative, die Mythen und die politischen Verfahren der Identitätsrepräsentation [...], durch die ein Gemeinwesen sich inauguriert und reproduziert, sich als Ganzheit imaginiert und diese Vorstellung durch beständige Reinszenierung nach innen und außen vermittelt“ (34). Demgemäß bildet das Politische Imaginäre das Medium der Subjektivierung von sich als Gemeinschaften verstehenden Kollektiven. Dieser Auslegung entspricht Spittas These, wonach es sich beim Politischen Imaginären um „ein historisches und subjektivierungstheoretisches, kein ontologisches Phänomen“ (25) handele. Den Ort der Subjektivierungen bilden Spitta zufolge Diskurse, weshalb das Politische Imaginäre auch bestimmt wird als „diskursives Feld, in dem die Identität von Gemein-Begriffen bestimmt wird“ (34); der Begriff des „Gemein-Diskurses“ wird als übergeordneter Begriff verwendet, da die „Rationalität des Gemeinschaftsdiskurses nicht isoliert von anderen politischen Kollektivierungs-Begriffen nachvollzogen“ (20) werden könne. Die diskursive Subjektivierung von Gemeinschaften, ihre Selbstkonstitution im Medium identitätsstiftender Narrative, etabliert, wie Spitta in einer weiteren Bestimmung des Politischen Imaginären sagt, eine Politik ermöglichende „spezifische Struktur der Wahrnehmung, die im Kontext historisch-politischer, ökonomischer und kultureller Entwicklungen entstanden ist“ (36).

Spitta schließt sich Lacans Unterscheidung zwischen Imagination und Repräsentanz von realen Objekten an und begreift das Imaginäre, mit Lacan sich auf die Seite der Imagination schlagend, als „schöpferisch“ (ebd.). Diesem schöpferischen Charakter des Imaginären als Medium der Selbstkonstitution von Kollektiven – Spitta betont, dass Gemeinschaft sich identitär „im Imaginären“ und nicht als Resultat „des Imaginären“ (41) konstituiere – werde eine psychoanalytische statt eine bloß semiotische Fassung des Diskursbegriffs eher gerecht. Das Politische Imaginäre stellt sich im Anschluss an Lacan als „die Konstruktions- und Produktionsebene von gemeinschaftlichen Identifizierungsbildern, Körpermetaphern und von Verbindlichkeit versprechenden Kollektiv-Begriffen“ (40) dar.

Durch die Verbindung des Begriffs des Imaginären mit dem Fetischbegriff zeigt Spitta auf, wie die Konstruktions- und Produktionsebene sich selbst undurchsichtig macht und deren apriorisierende Naturalisierung bzw. Essentialisierung ermöglicht. Der entscheidende Schritt besteht darin, die „Analyse des Warenfetischs auf den Gemeindiskurs [zu] übertragen“ [61]. Was den Begriff des Warenfetischs mit dem der konstitutiven Verkennung verbindet, ist sein Doppelcharakter als Quasi-Apriori und unhintergehbares Als-ob, mit Spitta gesprochen, dass er dazu in der Lage sei, „einen von Menschen produzierten Gegenstand so erscheinen zu lassen, als seien Eigenschaften, die im Prozess seiner Produktion erworben wurden, der Produktion vorausgehend und kämen dem Gegenstand originär zu“ (56). Aus dieser vorgespiegelten Natürlichkeit resultiert praktisch die politisch mobilisierbare „Idee einer unabhängigen Ebene“ des gesellschaftlich vermittelten Imaginären. Diese Übertragung vollzieht Spitta unter der Prämisse, dass „wesentliche Charakteristika des Fetischs das Politische Imaginäre und den Gemein-Diskurs in derselben Weise“ (58) beträfen. Der Begriff des Fetischs ist vom Begriff der konstitutiven Verkennung nicht loszulösen, allerdings kommt dem Fetischbegriff das Prius zu, da Spitta zufolge „die Annahme einer strukturellen Gemeinsamkeit von Waren- und Gemeinschafts-Fetisch und die Verneinung eines transparenten Verhältnisses jenseits der fetischisierenden Überformung zum Begriff der konstitutiven Verkennung“ (62) führe.

Auf dieser notwendig skizzenhaften theoretischen Grundlage basieren die historischen Analysen, die Spitta im zweiten Teil ihres Buches darlegt. Spitta setzt mit Hobbes und Rousseau als denkerischen Stationen ein, um über die Romantik und Nationalismus, Rassismus und Biopolitik und den Gemeinschaftsenthusiasmus der Jugendbewegung den Weg zum nationalsozialistischen Gemeinschaftsmythos zu nehmen. Hobbes bildet den theoretischen Ausgangspunkt aufgrund seines Kontraktualismus, den Spitta als „politischen Konstruktivismus“ (vgl. 77f.) expliziert. Was Hobbes zum „Vordenker des politischen Imaginären“ (77) mache, ist der kontraktualistisch entfaltete Gedanke, dass Menschen das Gemeinsame selbständig in weltlicher Immanenz produzieren können und müssen. Rousseau hingegen wird als „Vordenker des Gemeinschaftsenthusiasmus des 19. Jahrhunderts“ (99) und damit der Romantik eingeführt. Entscheidend ist hierbei Spitta zufolge Rousseaus geistesgeschichtlich folgenschwere Diagnose des Verlusts der Natürlichkeit in Verbindung mit dem Imperativ ihrer Wiedergewinnung bzw. politischen Restauration, in Spittas Worten die „zunehmende Verzahnung des Gemeinschaftsdenkens im Politischen Imaginären mit den Begriffen des Volkes und der Nation“ (125).

Diese Verzahnung habe in der Romantik massiv fortgewirkt und sich in der deutschen Romantik zur Trias von Volk, Nation und Gemeinschaft ausgeweitet, wobei der Begriff der Gemeinschaft „zu einem der bedeutsamsten Begriffe der politischen Identitätsbestimmung“ (128) avanciert sei und sich zu einer „Mythologie des Volkes“ (ebd.) ausgewachsen habe. In der Folge habe Gemeinschaft sich, „dem Geist des 19. Jahrhunderts entsprechend, zunehmend und primär als nationale bzw. als Volksgemeinschaft verstanden“ (ebd.). Als geistesgeschichtlich signifikantes Werk behandelt Spitta Fichtes Reden an die deutsche Nation, da in diesen „sich religiöse Auserwähltheitstheorien mit einem expansionistischen Nationalismus, mit kulturimperialistischen und völkischen Motiven und mit [einem] humanistischen Universalismus“ verbänden. Bei Fichte zeichne das (deutsche) Völkische nicht eine rassisch-biologische Überlegenheit, sondern die Dignität der deutschen Sprache aus (vgl. 155f.). Die Privilegierung des Deutschen ist bei Fichte jedoch keine Sache der bloßen Konstatierung oder Behauptung; vielmehr bedürfe es im Rousseau’schen Geiste „eines nationalen Erziehungsprogramms, das die Deutschen wieder zu dem Urvolk mache, das sie eigentlich bereits seien“ (158). Hier manifestiere sich historisch, dass es eine „eklatante Diskrepanz zwischen einer leidenschaftlichen Beschäftigung mit dem deutschen Volk und Nation und einer Unauffindbarkeit dieser Objekte in der politischen Gegenwart“ (129) gegeben habe. Resultiert sei daraus die ursprungs- und wesensgläubige Frontstellung gegen zweckrational orientierte Theorien wie etwa der Hobbes’schen, mit der Spitta zu ihrem ideengeschichtlichen Gang ansetzt.

Im Nationalsozialismus haben sich Spitta zufolge sich die Begriffe von Gemeinschaft und Volk bzw. Volksgemeinschaft statt mit dem der Nation mit dem der Rasse verbunden: „Die Begriffe Rasse, Gemeinschaft und Volk wurden zusammengezogen.“ (184) Die Rassenlehre sei in der Folge „zur Grundlage gesellschaftspolitischer Forderungen“ (186) geworden. Von besonderem Interesse ist hierbei Spittas stichhaltiger Gedanke, dass, im Unterschied zu Foucaults Verortung der Geburt der Biopolitik im 18. Jahrhundert, erst mit dem Nationalsozialismus ein „biologistisches Dispositiv der Bevölkerung“ (189) sich herausgebildet habe, das „über einzelne gouvernementale Strategien und Praktiken hinausreichte“ (ebd.). Der Einheitsgarant der Volksgemeinschaft, welche die Bevölkerung politisch zu bilden hatte, war die rassische Identität: „Die Kategorie der Rasse war angetreten, Grenzen, Sicherheit und Eindeutigkeit zu garantieren und Ambivalenzen auszuschließen.“ (191) Was dem Anschein nach auf einen blinden Kollektivismus hinauslaufe, finde sein Telos jedoch in einer für den Nationalsozialismus zentralen „Synthese von Individualismus und Kollektivismus“ (214). Zwar bilde die Volksgemeinschaft den Fluchtpunkt der Individuation, das Individuum bilde jedoch den Ausgangspunkt und irreduziblen Träger, welcher die Identität der Volksgemeinschaft heroisch zu verwirklichen habe: „Der nationalsozialistische Gemein-Begriff ist ausgehend vom Einzelnen, seinem Willen und seinem individuellen Kampf zu verstehen […].“ (214) Was der Einzelne dadurch realisiere, sei nichts weniger als eine „Selbst-Verwirklichung“ (216).

Spitta verkennt nicht den spezifisch modernen Charakter des Nationalsozialismus, dessen Modernität sowohl in der Hinwendung zur Technik als Mittel zur Lösung gesellschaftlicher Probleme (vgl. 219) statt in der romantischen Rückwendung zum Mittelalter als auch in dessen bürgerlich-kapitalistischem Charakter gründe: „Das ökonomisch-strukturelle Konzept der Volksgemeinschaft war verbalradikal und im Kern mehr bürgerlich als revolutionär. […] Das Privateigentum und die Klassenstruktur blieben unangetastet, eine materielle Revolution fand nicht statt.“ (228) Was unter solchen Bedingungen sich allerdings herausbildet, ist die moderne Massengesellschaft, welche die agitatorisch „inszenierte Volksgemeinschaft“ (232) mit sich selbst verwechseln soll. Je aussichtsloser das Unterfangen der Identitätskonstitution, desto aggressiver erfolgten die Grenzziehungen nach außen (vgl. 241). Die Führerfigur solle dabei inaugurieren und als politisches Gravitationszentrum garantieren, was sie nicht zu garantieren imstande sei, nämlich Identität (vgl. 230); Spitta spricht daher bez. des Nationalsozialismus in Anlehnung von Rosenberg von einem „Mythus der Identität“ (220).

Spitta widmet sich anschließend auch dem bundesrepublikanischen Gründungsmythos nach 1945, der dem Anschein nach einen fundamentalen Bruch mit der über die Romantik zum Nationalsozialismus verlaufenden gemeinschaftsideologischen Linie darstellt: „Der totalitären Volksgemeinschaft wurden die westeuropäische Wertegemeinschaft und die freiheitlich-demokratische Grundordnung entgegengestellt.“ (248) Hier lässt sich mit guten Gründen fragen, ob 1945 nicht vielmehr mit der planmäßigen Implementierung einer ordnungspolitischen Verfassung zusammenfällt, die sich dem Prinzip der Gesellschaft verpflichtet sieht und gerade ordnungspolitisch auf das Gefahrenpotenzial jeglicher Gründung des Gesellschaftlichen aufs Gemeinschaftliche reagiert? Darüber beginnt sich ab 1945 die Massengesellschaft des nicht nur westeuropäischen, sondern des westlichen, sowohl europäischen als auch amerikanischen, Typs zu entwickeln. Spitta geht auf den Aspekt der Massengesellschaft jedoch nur im Kapitel über den Nationalsozialismus ein (vgl. 224, 231), wo es ihr darum geht, dessen Modernitätscharakter zu exponieren. Die Einführung des Grundgesetzes hingegen perpetuiere unter den Vorzeichen einer neuen Sachlichkeit (vgl. 247) aufgrund des darin enthaltenen Bekenntnisses „zum Streben nach Einheit […] den Rekurs auf eine übergeordnete, vorpolitische Identitätsvorstellung“ (248). Anhand der politischen Rhetorik lasse sich von Adenauer bis Willy Brandt der Adressatenwandel vom Deutschen Volk zur kulturalistisch-voluntaristisch verstandenen Nation nachverfolgen (vgl. 253 f.).

Im Historikerstreit kehre die Gemeinschaft als Gründungsfluchtpunkt in der Kritik an Habermas’ Begriff des Verfassungspatriotismus wieder, der hinreichender vorpolitischer Grundlagen ermangele (vgl. 258 f.). Zwar sei Habermas für ein „Ethos der Gesellschaft“ (258) eingetreten, jedoch unter den Vorzeichen eines Konzepts der „mit sich identischen, freien und gleichen Bürger“ (260), welche die „Basis der modernen Herrschaftsarchitektur“ (ebd.) bildeten. Auch wo die Berufung auf die Gemeinschaft ausbleibe, herrsche das politisch-praktische Telos der Einheit der Gesellschaft fort, da Habermas mit dem Patriotismusbegriff „die identifikationsstiftende Einbindung des Einzelnen in die staatliche Herrschaftsarchitektur vielmehr zur Grundlage seines Konzepts von kollektiver Identität“ (ebd.) mache. An dieser Stelle findet eine aufschlussreiche Verschiebung in Spittas Kritik statt: Nicht mehr wird nur die Gemeinschaftsfixiertheit politischer Identitätsentwürfe kritisiert, sondern auch das „Ethos der Gesellschaft“ wird angegriffen, weil es der Zementierung des status quo diene und „an einer geschichts- und identitätspolitischen Normalisierung“ (261) mitwirke. Dass Gesellschaften sich überhaupt eine Identität im starken Sinne geben, erscheint dann als übergeordnetes Problem gegenüber der Begründung der Identität aus einer vorpolitischen (nationalen oder völkischen) Gemeinschaft.

Die Wiedervereinigung bildet ein erneutes starkes Aufflammen der Gemeinschaft als kollektiver Gründungsinstanz. Die Disparität von faktischer Zweistaatlichkeit bei einer gleichzeitig bestehenden und den politischen Vorrang gewinnenden völkisch-kulturellen Einheit bildeten ein explosives Movens, das nach der Wiedervereinigung in einer Melange aus Naturalisierung und Normalisierung versandet ist: „Nur einen Tag nach dem Fall der Mauer wurde das Ereignis nicht mehr als das Ergebnis von politischen Kämpfen handelnder Menschen erzählt, sondern als Naturgesetzmäßigkeit wahrgenommen: Die historisch-politische Wirkungsmacht sozialer Kämpfe und die politischen Akteure wurden von einer naturalisierenden Terminologie verdeckt, wenn zusammenwuchs, was zusammengehörte.“ (268) Spitta bezieht sich dabei auf den Begriff der „Wende in der Wende“: War die völkische Anrufung Movens der Wiedervereinigung, so ist nach der Wiedervereinigung die völkische Anrufung in der Normalisierung zum Verschwinden gebracht worden. Diese Normalisierung bilde das Kernstück der rot-grünen Politik, bezüglich deren Spitta von einer „demonstrativen Normalisierungspolitik“ (270) spricht. Diese Normalisierung darf nicht als identitätspolitische Neutralisierung aufgefasst werden, da mit ihr und mittels ihrer eine Identität konstituierende Vergangenheitspolitik betrieben werde, deren Ziel in einer Identitätsgewinnung durch Abgrenzung von den Irrwegen der eigenen Geschichte besteht, mit Spitta: „die negative Vergangenheit in ein positives, nationales Gemeinschaftsbild zu integrieren bzw. sie zur Grundlage des positiven Selbstbezugs zu machen“ (270). Doch auch hier stellt sich wiederum und in deutlich verschärfter Weise die Frage, ob die Normalisierungspolitik unter Bedingungen einer nunmehr völkisch oder national ganz und gar nicht mehr einheitlichen Verfasstheit der gegenwärtigen Massengesellschaft überhaupt noch einen Selbstverständigungsdiskurs etablieren kann, in dem der Begriff der Gemeinschaft etwas anderes als eine anachronistische Bizarrerie darstelle?

Auf der systematisch-konzeptionellen Ebene stellt sich daher erst recht die Frage, welche Politik und vor allem welche Gemeinschaft jenseits der Identität Spitta im Auge hat. Ihren im Schlussteil entfalteten Ansatzpunkt bildet die bei Derrida aufscheinende „Möglichkeit einer anderen Politik“ (291), deren Weg „über die Dekonstruktion des natürlichen oder nationalen Gesetzes der Gemeinschaft zu einer kommenden bzw. im Kommen bleibenden Demokratie“ (ebd.) führe. Eine solche Demokratie könne nur auf einer „über Staat und Nation hinausgehende[n] Universalisierung“ (ebd.) beruhen und ziele auf „die Berücksichtigung namenloser und unendlich differenter Singularitäten“ (ebd.); anvisiert werde damit einer neuer Politikbegriff

jenseits von nationalen, brüderlichen und naturalisierenden Strukturierungen, jenseits des Begriffs der Anwesenheit und der Vorstellung einer gegebenen Gemeinschaft, abseits der Fiktion eines Ursprungs oder einer Finalität und schlussendlich auch abseits der Vorstellung von individueller und kollektiver Identität (292).

Realisierbar ist eine solche Politik über an konkreten Vorhaben orientierte lose Zusammenschlüsse, weshalb an die Stelle der kollektiven Identitätsbildungen lediglich ein „Bezug“ auf solche tritt: „Der Bezug auf kollektive Identitätsbildungen muss von seinen religiös-erlösungstheoretischen Grundlagen, von der Theorie der Entfremdung und ihrem Grundmotiv, dem Gegensatz von Sein und Schein, getrennt werden.“ (241) Auf theoretischer Ebene sei dazu ein „Begriff des Gemeinen, der Prekarität, Heterogenität, Unabgeschlossenheit und Differentialität als konstitutiv“ (241) anerkenne, nötig. Spitta bezieht sich dabei affirmativ auf das Konzept der Multitude, mit dem es Negri und Hardt erstmals gelinge, „marxistische Ansätze mit poststrukturalistischen, dekonstruktiven und Deleuzianischen Zugängen“ (300) zu verbinden. Unter Beibehaltung des emanzipatorischen Impetus des Marxismus sind also im Namen der Differentialität und des Fehlens eines substanziellen Grundes einer jeglichen Gemeinschaft die Proletarier als Statthalter von Identität loszuwerden. Das „Empire“, das die Proletarier bilden könnten, kennt klare Grenzen; das Empire der Multitude hingegen lobt Spitta gerade aufgrund der Absenz solcher Grenzen: „Das Empire erscheint als durch das Fehlen unmittelbarer Grenzziehungen ausgezeichnet.“ (302) Identität – und wenn es sich dabei nur um die bloße Selbstunterscheidbarkeit der sich zusammenschließenden Handelnden von denen, die nicht an ihrem Projekt partizipieren, handelt – muss anders erzeugt werden.

Was damit untergründig eingeführt wird, ist ein an einer starken Idee von Sachlichkeit orientierter Pragmatismus: identifiziert die Probleme, bildet die zur ihrer Lösung nötigen Zusammenschlüsse, identifiziert euch über das, was euch sachlich verbindet, aber nicht über mehr. Anders gesagt: „Gemeinsames politisches Handeln wäre eines, das kleinteilige, umsetzbare und ‚realpolitische’ Forderungen mit der Perspektive auf weitergehende Veränderungen verbindet.“ (323) An anderer Stelle bestimmt Spitta explizit das anvisierte Ziel und die angestrebte Verfahrungslogik einer solchen Politik:

So kann der Gemeinschaftsdiskurs von theoretischen Fundierungen gelöst und konkret an demokratische und realpolitische Fragen gekoppelt werden, ohne auf Nationalstaatlichkeit, auf kulturelle, sprachliche oder ethnische Gemeinsamkeiten, auf Erbauung, Erhebung oder Sublimierung abzuheben. Das Ziel wäre die gemeinsame Gestaltung und Verbesserung der Lebensbedingungen. (322f.)

Doch obwohl es sich bei einer derart losen Organisation politisch gemeinsam Handelnder dem Anschein nach nur um ein philosophisch sublimiertes aktivistisches Organisationscredo zu handeln scheint, auf das beispielsweise Attac-Aktivisten und Reformer jeglicher Couleur sich berufen könnten, bezieht Spitta sich affirmativ auf Rosa Luxemburgs Begriff der „revolutionären Realpolitik“. In Anbetracht der oben zitierten politischen Zielvorgaben erscheint der Rekurs auf Luxemburg unangemessen, wird doch als Ziel (Verbesserung der Lebensbedingungen) nichts anderes artikuliert als eine Grundintention, die von jeder politischen Gruppierung propagiert wird, welche sich als kritisch und emanzipatorisch verstanden wissen will – parlamentarische Oppositionen eingeschlossen. Angemessener erscheint der Begriff eines „kritischen Pragmatismus“ (vgl. 305, 323), der die bescheidene politische Intention Spittas nicht mit der Berufung auf die Vordenkerin eines politischen Umsturzes von welthistorischem Ausmaß garniert. Charakteristikum des „kritischen Pragmatismus“ sei, dass er das jeweilige „Situationspotential kritisch evaluiert“ (305). Die Transzendenz der Evaluation der Praxis gegenüber der Faktizität der Praxis legitimiert offenbar in Spittas Augen, die „revolutionäre Realpolitik“ und den „kritischen Pragmatismus“ nicht nur parallel-, sondern gar ineinanderlaufen zu lassen und reformistische Projekte wie Rekommunalisierungskämpfe als Revolutionsgefechte misszuverstehen:

Revolutionäre Realpolitik setzt reale Widersprüche und eine Praxis voraus, die sich in ihnen entfaltet, ohne mit ihnen identisch zu werden. Kämpfe wie die um Re-Kommunalisierung sind ein Beispiel dafür, wie zwischen Reform und Revolution, zwischen Protest und Gestaltung vermittelt werden kann. Sie indizieren nachhaltige Verschiebungen von Machtverhältnissen und ermöglichen Neugewichtungen. (323f.)


Unklar bleibt hier, wie eine Vermittlung zwischen Reform und Revolution aussehen soll, will man nicht den Luxemburg’schen Denkrahmen verlassen, unterscheidet Luxemburg doch Reform und Revolution dem Wesen nach. Gerade Rosa Luxemburg, auf die Spitta sich bezieht, hat die Differenz zwischen beiden pointiert ausgearbeitet und daraus nicht nur stringent ein rigoroses Entweder-Oder entwickelt, sondern überdies behauptet, dass „einzig der Hammerschlag der Revolution, d.h. die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat“ (Luxemburg: 1970: 44) die Wand zwischen der kapitalistischen und der sozialistischen Gesellschaft niederreißen könne. Spitta möchte sich augenscheinlich den marxistischen-revolutionären Impetus bewahren, ohne den Singularitäten zumuten zu müssen, sich anders als bloß temporär, lokal und projektgebunden zu organisieren. Weder ist es so möglich, dem marxistischen Paradigma die Treue zu halten, noch den „Dualismus von Reform und Revolution“ (294) zu überwinden. Offen bleibt die von Spitta nicht beantwortete Frage, ob eine revolutionäre Realpolitik im Sinne von Luxemburgs politischer Radikalität denkbar sei, ohne das Proletariat oder ein strukturell ihm vergleichbares Kollektiv anrufen zu müssen und d.h.: ohne die Aporien der Gründung von Politik in einer identitär definierten Gemeinschaft realpolitisch zu prozessieren?

Wie auf dieser Grundlage der Übergang von der lokalen Aktion zur Gegenmacht im weltpolitischen Maßstab geschafft werden soll, bleibt fraglich. Spitta bezieht sich mit Luxemburg auf eine Theoretikerin, die in der Marx’schen Größendimension der Weltrevolution denkt und dabei auf von Spitta als identitär verworfene Konzepte wie das der Klasse zurückgreift, um das Proletariat als sich universalisierendes Kollektiv und Akteur der Weltrevolution denken zu können. Spitta hingegen schließt sich Derridas Vorschlag an, „sich auf eine über Staat und Nation hinausgehende Universalisierung zu konzentrieren, die auf nichts zielt, als auf die Berücksichtigung namenloser und unendlich differenter Singularitäten“ (291). Die Räder, unter welche diese Singularitäten jedoch zu drohen geraten – nämlich die Nationen einerseits und die globale Form der Souveränität, die Negri/Hardt als Empire (vgl. 302) bezeichnen, andererseits –, werden von Spitta möglicherweise sträflich unterschätzt in einer Welt, deren Bestimmtwerden durch planetarische Nationalmächte Panajotis Kondylis in Planetarische Politik nach dem Kalten Krieg und Das Politische im 20. Jahrhundert eingehend analysiert hat. Kondylis ist dennoch kein Dogmatiker der Maßgeblichkeit von Nationen als wegweisenden Akteuren; die unvermindert aktuelle Frage, die er bezüglich der künftigen weltpolitischen Rolle von Nationen stellt, ist samt der formulierten Anforderung an das politische Denken auch an Juliane Spitta zu richten: „Werden sich die Nationen und der Nationalstaat als die beste Organisationsform zur Teilnahme am Verteilungskampf, als die planetarisch konkurrenzfähigste politische und ökonomische Einheit erweisen? Formuliert man die Frage so, wird evident, daß die Antwort vom konkreten Fall, nicht von der grundsätzlichen Sympathie für oder dem […] Bannfluch gegen die Nation diktiert werden darf.“ (Kondylis 2001: 106)

Literatur

Kondylis, Panajotis: Das Politische im 20. Jahrhundert. Von den Utopien zur Globalisierung. Heidelberg: Manutius Verlag, 2001.

Luxemburg, Rosa: Sozialreform oder Revolution? Mit einem Anhang: Miliz und Militarismus. In: Dies.: Politische Schriften. Leipzig: Reclam 1970

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