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Zeitschrift für philosophische Literatur 2.3 (2014), 20–27

Symposium zu: Jaeggi, Rahel: Kritik von Lebensformen. Berlin: Suhrkamp 2013. 451 Seiten. [978-3-518-29587-8]

Gerechtigkeit, Rationalität und das gute Leben

Von Dorothea Gädeke (Universität Frankfurt)

Über Lebensformen lässt sich mit Gründen streiten. Diese Annahme nimmt Rahel Jaeggi zum Ausgangspunkt ihrer umfassenden Studie zur Möglichkeit einer Kritik von Lebensformen, die darauf abzielt, Kriterien des Nicht-Gelingens von Lebensformen auszuweisen. Damit wendet sich Jaeggi gegen die insbesondere von zeitgenössischen liberalen Gerechtigkeitstheorien propagierte philosophische Enthaltsamkeit gegenüber Fragen des guten Lebens: Ziehen diese sich aus Sorge vor einer Sittendiktatur auf die moralphilosophische Bewertung politischer Ordnungen zurück und nehmen Lebensformen jenseits dessen als unhinterfragbar gegeben hin, so geht es Jaeggi gerade darum, einer solchen Renaturalisierung von Lebensformen zu widerstehen und sie als gestalt- und kritisierbare soziale Formationen auszuweisen. Ihr Projekt bewegt sich somit auf einer „mittleren Ebene“ (28), zwischen moralphilosophisch begründeten Geboten auf der einen sowie der mit philosophischen Mitteln nicht weiter zu durchdringenden individuellen Beliebigkeit auf der anderen Seite, welche sie der philosophischen Reflexion zu erschließen sucht.

Um Lebensformen überhaupt einer philosophischen Betrachtung und Kritikzugänglich zu machen, bedarf es zunächst einer genaueren Betrachtung ihrer inneren Struktur. Diesem Unterfangen sind die ersten beiden Teile der Studie gewidmet, in denen Lebensformen schrittweise in einem Hegelschen Sinne als normativ verfasste Formationen des Sittlichen praxistheoretisch rekonstruiert werden. In einem ersten Schritt bestimmt Jaeggi Lebensformen als sozial hervorgebrachte Ensembles von Praktiken und weist sie damit als prinzipiell veränderbar aus. Zwar bergen Lebensformen stets auch eine präreflexive Seite, die uns als selbstverständliche, ja unhintergehbare Struktur entgegentritt. Dies gilt sowohl für die materiellen Ausdrucksformen einer Lebensform, die sich etwa in der Stadtplanung zeigen, als auch für ihre institutionalisierten Aspekte und den Gewohnheitscharakter eingelebter Praktiken, der bedingt, dass wir uns häufig nicht in einem expliziten, reflexiven Modus auf unsere Lebensformen beziehen, sondern uns allein im praktischen Vollzug in ihnen bewegen. Insofern sind Lebensformen, so Jaeggi, keineswegs unumschränkt verfügbar. Dennoch sei auch diese träge Seite von Lebensformen letztlich im Sinne sedimentierter menschlicher Aktivität (121) zu verstehen; die in sie eingelagerten Praktiken und deren Zusammenhang können durchaus explizit gemacht und damit thematisierbar werden, was insbesondere im Falle des Auftretens von Konfliktsituationen geschieht. In diesem Sinne sind Lebensformen sowohl gegeben als auch gemacht (120) – und damit trotz des ihnen eigenen Beharrungsvermögens grundsätzlich gestaltbar.

Wichtig ist in Bezug auf diese grundlegende Bestimmung von Lebensformen als Ensemble von Praktiken überdies, dass Lebensformen sich nicht einfach nur aus unverbundenen Praktiken zusammensetzen, sondern einen Zusammenhang von Praktiken bilden. Dieser ist einerseits als Funktionszusammenhang zu verstehen, insofern die einzelnen Praktiken, die einen solchen Praxiszusammenhang konstituieren, praktisch-funktional aufeinander bezogen sind. Ihren Bedeutungsgehalt erlangen sie jedoch andererseits erst im Kontext des interpretativen Deutungsrahmens einer Lebensform, auf den sie ausgerichtet sind und der letztlich auch erst ihre Funktion verständlich werden lässt. Damit sind einzelne Praktiken und die durch sie konstituierte Lebensform nicht nur wechselseitig aufeinander bezogen; in der Doppelbestimmung dieses Zusammenhangs als funktional-interpretativ ist bereits ein erster Hinweis auf Modus und Maßstab der Kritik enthalten, den Jaeggi im Folgenden sukzessive ausarbeitet: Begreift man Lebensformen als Ensemble von Praktiken, deren Bedeutung und funktionales Ineinandergreifen wiederum allein vor dem Hintergrund eines Interpretationszusammenhangs verständlich werden, so lassen sich einzelne Praktiken nicht nur daraufhin befragen, inwieweit sie zueinander passen, sondern auch dahingehend, inwiefern sie nicht allein in funktionaler Hinsicht, sondern mit Blick auf den Bedeutungsrahmen der jeweiligen Lebensform und der von ihr gesetzten Zwecke angemessen sind.

Ein solcher erster Verweis auf die Frage nach der Sachangemessenheit von Praktiken in Bezug auf Lebensformen bietet jedoch noch keine ausreichende Grundlage zur Begründung der Möglichkeit einer Kritik von Lebensformen als solchen; schließlich erlaubt er lediglich die Infragestellung bestimmter Praktiken vor dem Hintergrund der Vollzugsbedingungen der jeweiligen Lebensform, nicht jedoch eine Präzisierung der jeweils erforderlichen Praktiken oder gar eine Kritik des übergreifenden Praxiszusammenhangs selbst. Aufbauend auf dem Grundverständnis von Lebensformen als trägen, funktional-interpretativen Praxiszusammenhängen präzisiert Jaeggi dementsprechend in einemzweiten Schritt, inwiefern diese zugleich selbstintern normativ verfasst sind und somit stets normative Geltungsansprüche erheben, an denen sie sich messen lassen müssen. Dabei geht es ihr insbesondere darum, nachzuweisen, dass die in eine Lebensform eingelassenen Normen gewissermaßen zugleich interne wie auch externe Normen sind – und damit bereits die Möglichkeit einer mehr als nur konventionalistischen Kritik in sich tragen.

Den spezifischen Charakter der internen Normativität von Lebensformen kennzeichnet Jaeggi als einen sittlichen: Die in Lebensformen enthaltenen Normen sind einerseits konstitutiv in dem Sinne, dass sie – ähnlich wie Spielregeln – die jeweiligen Praktiken definieren, also angeben, was es heißt, überhaupt an dem jeweiligen Praxiszusammenhang teilzunehmen. Andererseits begründen sie zugleich insofern einen gewissen Druck zur Teilnahme, als die von ihnen definierten Praktiken in unmittelbarem Zusammenhang mit den Zielen und Vollzugsbedingungen der Lebensform stehen, ja aus dieser Perspektive für notwendig oder zumindest wünschenswert gehalten werden. Dieser Verschränkung von zwei unterschiedlichen Modi der Normativität entspricht auf der Seite der Quellen sittlicher Normen die wechselseitige Durchdringung funktionaler und ethischer Begründungen: Ihre Geltung speist sich weder allein aus ihrer funktionalen Notwendigkeit noch aus dem Verweis auf entsprechende Anforderungen des ethisch Guten, sondern aus der Verschränkung dieser beiden Geltungsgründe:

Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber, dass wir (in dem Bereich, über den wir sprechen) ohne Bezug auf den guten Vollzug einer Praxis gar nicht erkennen können, worin diese besteht. ‚Zu funktionieren’ bedeutet immer, mehr oder weniger gut zu funktionieren. Es gibt kein ‚Funktionieren pur’, ohne Bezug auf die in einer Praxis immanenten Kriterien des Gutseins, genauso wenig wie es in Bezug auf menschliche Lebensformen so etwas wie ‚rohe Fakten’ oder ‚reines Überleben’ gibt. Was eine Praxis überhaupt zu einer bestimmten Praxis macht, scheint sich an den Qualifikationen zu orientieren, die sich auf das gute Ausüben einer Praxis richten. (175f.; Hervorhebungen im Original)

Mit anderen Worten geht Jaeggi davon aus, dass sittliche Normen stets Kriterien für das gute und das faktische Gelingen einer Praxis zugleich angeben, indem sie auf die von der jeweiligen Lebensform gesetzten Zwecke und deren Vollzugsbedingungen Bezug nehmen. In dieser spezifischen, funktional-ethisch begründeten internen Normativität von Lebensformen spiegelt sich somit der zuvor beschriebene funktional-interpretative Charakter sozialer Praktiken, der nun jedoch teleologisch mit Blick auf die in den übergreifenden Praxiszusammenhang eingelassene Normativität erläutert wird.

Nun ist damit zunächst lediglich der spezifische Charakter der internen Normativität von Lebensformen bestimmt, d.h. die Anforderungen, die Lebensformen an sich selbst stellen. Um Lebensformen als Lebensformen als schlecht oder misslungen kritisieren zu können, bedarf es darüber hinaus jedoch eines transzendierenden Moments, das zu erklären vermag, in Bezug auf was Lebensformen scheitern können. Ein solches entwickelt Jaeggi aus der Rekonstruktion von Lebensformen als „Instanzen von Problemlösungen“ (200). Lebensformen, so die Kernidee, lassen sich in nicht-instrumentellem, begrifflichem Sinne als historisch und kulturell je spezifische Antworten auf Probleme begreifen, die sich, vermittelt über je konkrete empirische Probleme, der menschlichen Gattung mit Blick auf die Gestaltung ihres Lebens stellen. Probleme sind dabei – wiederum der ethisch-funktionalen Natur praxisinterner Normativität entsprechend – stets sowohl normative Probleme als auch solche der Dysfunktionalität. Damit hebt Jaeggi gewissermaßen die teleologische Struktur der praxisinternen Normativität auf die Ebene des übergreifenden Praxiszusammenhanges, ohne jedoch dabei auf substantielle Zwecke jenseits von diesem zurückgreifen zu müssen. Der Bezugspunkt des Arguments liegt vielmehr in eben diesem Anspruch auf Problemlösung, den Jaeggi zufolge Lebensformen immer schon erheben, eben weil sie selbst Problemlösungen sind –und an dem sie dementsprechend scheitern können.

Mit der in den ersten beiden Teilen dargelegten zweistufigen Bestimmung von Lebensformen als sozialen, normativ verfassten Ensembles von Praktiken zeigt Jaeggi, dass Lebensformen insofern prinzipiell kritisierbar sind, als sie veränder- und gestaltbare soziale Gebilde sind, die normative Anforderungen stellen, welche verletzt werden können. Die gegenseitige Durchdringung der ethischen und funktionalen Aspekte von Lebensformen, die den spezifischen Charakter der Normativität von Lebensformen kennzeichnet und letztlich auch den Problemlösungscharakter von Lebensformen durchzieht, erfordert nun jedoch ein entsprechendes Modell der Kritik, das in der Lage ist, den Rahmen einer Lebensform selbst zu problematisieren – und damit den jeweiligen Kontext zu transzendieren – ohne dabei jedoch auf externe Maßstäbe zurückgreifen zu müssen.

Ein solches entwickelt Jaeggi im dritten Teil der Studie: Die von ihr vorgeschlagene Strategie immanenter Kritik (277) zielt darauf ab, die transformative Zielsetzung externer Kritik mit dem partikularen Ausgangspunkt interner Kritik zu vereinen, in dem sie das jeweilige Transformationsideal aus der immanenten, systematischen Widersprüchlichkeit der jeweiligen Praxis entwickelt. Immanente Kritik setzt an krisenhaften Situationen einer Lebensform an, in denen diese Widersprüchlichkeit in praktischen Verwerfungen zutage tritt. Ihr Bezugspunkt ist die jeweilige funktional-ethisch begründete interne Normativität, die einen Praxiszusammenhang konstituiert, welcher wiederum dieser Normativität – im Hegelschen Sinne einer Normativität des Begriffs – nicht entspricht. Da die durch immanente Kritik offengelegten Widersprüche konstitutiven Charakter haben, erstreckt sich die anzustrebende Transformation stets auf die Wirklichkeit ebenso wie auf die Normen selbst. Der Maßstab der Kritik ist daher nicht unveränderlich gegeben, sondern verändert sich selbst im Vollzug der Kritik.

Für Jaeggis Frage nach einer Kritik von Lebensformen ist die Strategie immanenter Kritik insofern von Bedeutung, als sie die Aufmerksamkeit auf den Charakter des jeweiligen Transformationsprozesses lenkt: Begreift man Lebensformen als Instanzen von Problemlösungen vor dem Hintergrund einer fortlaufenden Problemgeschichte, so fragt immanente Kritik danach, inwieweit sich eine Transformation, d.h. ein auf eine Krise reagierender Lernprozess, als richtige, und das bedeutet: als rationale Lösung für eine je spezifische Problemkonstellation verstehen lässt.

Im vierten Teil wendet Jaeggi sich dementsprechend der Ausarbeitung eines Modells der rationalen Entwicklungsdynamik von Lebensformen zu. Nachdem Jaeggi bereits ihr Verständnis von interner Normativität und die korrespondierende Strategie immanenter Kritik unter Bezugnahme auf Hegel entwickelt hatte, ist es nicht weiterüberraschend, dass sie auch die Rationalität der Entwicklungsdynamik von Lebensformen in einem Hegelschen Sinne als dialektischen Lernprozess konzipiert. Allerdings stellt Jaeggi den Anspruch, Hegels Geschichtsphilosophie in Auseinandersetzung mit Dewey und MacIntyre gewissermaßen eine pragmatistische Wende zu geben, die dessen starkes Verständnis von Notwendigkeit überwindet und die Möglichkeit neuer und kontingent auftretender Probleme und Widersprüche in das Modell gelingender Lernprozess zu integrieren weiß. Mit der Synthese pragmatistischer und dialektischer Motive soll somit Hegels teleologische Ausrichtung vermieden und der grundsätzlichen Offenheit sozialer Lernprozesse Rechnung getragen werden (444).

Fraglich bleibt allerdings, welches Gewicht den pragmatistischen Motiven tatsächlich zukommt. Die hegelianische Konzeption interner Normativität von Lebensformen sowie immanenter Kritik scheint eine entsprechende dialektische Konzeption ihrer Entwicklungsdynamik bereits vorwegzunehmen. Auch die pragmatistische Lösung des Problems der konzeptionellen Abschottung, das Jaeggi bei Hegel ausmacht, vermag daran nicht allzu viel zu ändern. Zwar weist Jaeggi ausdrücklich daraufhin, dass es ihrem Modell zufolge insofern nicht die richtige Lebensform gibt, weil eine jede immer nur als eine von vielen möglichen rationalen Antworten auf eine Krise verstanden werden kann. Dementsprechend muss von einem „experimentellen Pluralismus von Lebensformen“ (451; Hervorhebung im Original) ausgegangen werden, der seine Grenze allein im Kriterium irrationaler Entwicklungsdynamiken findet, welche weitere Lernprozesse behindern und somit das Misslingen einer Lebensform anzeigen. Dennoch scheint das Kriterium rationaler Entwicklungsdynamiken, das gelungene Lebensformen als offene und dennoch gerichtete Lernprozesse beschreibt, letztlich auf die Entfaltung eines bestimmten, reflexiven Verständnisses von Rationalität hinauszulaufen. Dieses kann zwar neue, auch kontingente Problemkonstellationen integrieren; es bleibt jedoch in seiner Struktur ein hegelianisches und scheint somit die Problematik der Hegelschen Dialektik lediglich auf eine Metaebene zu verschieben.

Blickt man nun zurück auf die eingangs geschilderte Anlage des Projektes, so ist festzustellen, dass mit der Strategie immanenter Kritik und ihrer Anwendung auf das Grundverständnis von Lebensformen als Problemlöseinstanzen zwei entscheidende Verschiebungen der Stoßrichtung von Jaeggis Fragestellung verbunden sind: Im Vordergrund steht erstens nicht, inwieweit eine Lebensform sich als je konkrete Problemlösung als unangemessen erweist; Jaeggi verortet die gesuchte (Ir-)Rationalität vielmehr auf der Ebene der Transformationsprozesse, die Lebensformen durchlaufen, um auf Krisen zu reagieren. Damit verlagert sich der Gegenstand der Kritik weg von der Auseinandersetzung mit einzelnen Instanziierungen von Lebensformen oder der substanziellen Bewertung einzelner Lebensformen und ihrer Elemente, von der Jaeggi zu Beginn ausgegangen war, hin zur Begutachtung der Entwicklungsdynamik von Lebensformen – und damit zu „einer Art Metakritik historisch-sozialer Prozesse“ (315). Inwieweit ein derart allgemeines, geschichtsphilosophisches Verständnis von Kritik die im zweiten Teil erfolgte sozialtheoretische Bestimmung des Begriffs der Lebensform einholen kann, sei dahingestellt (zumal im vierten Teil auch die Kategorien der Tradition und Theorie parallel zu derjenigen der Lebensform diskutiert werden); aus Sicht der Frage nach einer Kritik von Lebensformen handelt es sich um eine Metakritik der Kritik von Lebensformen. Insofern scheint es konsequent, dass Jaeggi auch von einer „kritischen Theorie der Kritik von Lebensformen“ spricht (448).

Neben dem Gegenstand der Kritik verschiebt sich zweitens auch der Bewertungsmaßstab, und zwar weg von der Frage nach dem Gutsein einer Lebensform bzw. ihrer Entwicklungsdynamik hin zur Beurteilung ihrer Rationalität. Auch diese Verschiebung ist durchaus beabsichtigt (vgl. 447) und sie ist insofern folgerichtig, als sie bereits in der grundlegenden Struktur von Jaeggis Argumentation angelegt zu sein scheint: Aufgrund des funktional-ethischen Charakters sittlicher Normen lässt sich Jaeggi zufolge das gute vom bloßen Funktionieren einer Lebensform nicht trennen; nach dem Gelingen einer Lebensform zu fragen bedeutet stets, nach deren gutem Funktionieren zu fragen. Wendet man diesen Gedanken an auf das Grundverständnis von Lebensformen als Problemlöseinstanzen, so scheint es durchaus naheliegend, den entscheidenden Maßstab der Kritik von Lebensformen in deren Fähigkeit zu rationaler Problemlösung zu entdecken. Eine gelingende Lebensform ist demnach eine, welche ihren Anspruch auf Problembewältigung einzulösen weiß, und zwar mit Blick auf die ihr eigene Entwicklungsdynamik. Damit jedoch droht sich der ethische Gehalt sittlicher Normen in der bloßen Frage nach ihrer reflexiven Problemlösefähigkeit aufzulösen und die Verschränkung funktionaler und ethischer Begründungen verloren zu gehen. In diesem Sinne beschreibt Jaeggi zwar durchaus eine mittlere Ebene zwischen moralischen Geboten und persönlicher Beliebigkeit, auf der sich mit Gründen streiten lässt; diese mittlere Ebene der Sittlichkeit und die hier relevanten Gründe scheinen jedoch, wo sie nicht bereitsauf der höherstufigen, reflexiven Ebene angesiedelt sind, in solchen technischer Rationalität aufzugehen. Ethische Gründe scheinen hier vielmehr gerade keine Rolle zu spielen.

Vor diesem Hintergrund lässt sich fragen, inwieweit Jaeggi ihrem Projekt, gegen die Forderungen nach ethischer Neutralität des Staates und philosophischer ethischer Enthaltsamkeit einen gewissen Kognitivismus in Bezug auf Fragen des guten Lebens zu verteidigen, gerecht wird. Ihr Rückzug auf die Ebene einer reflexiven Metakritik, welche Lebensformen nurmehr anhand entsprechender Rationalitätsstandards beurteilt, scheint diesbezüglich Zweifel aufzuwerfen, handelt es sich doch letztlich gar nicht mehr um den mit ethischen Gründen geführten Streit um Lebensformen. Geht es jedoch nicht um ethische, sondern um jegliche (Meta-)Kritik an Lebensformen, so liefern bereits die von Jaeggi eingangs kritisierten liberalen Gerechtigkeitstheorien den Nachweis, dass über Lebensformen durchaus auch substantiell gestritten werden kann: nämlich mit moralischen Gründen. Dabei stehen weder allein Fragen der Verteilung noch solche individuellen Handelns im Zentrum, wie Jaeggi glaubhaft macht (26). Vielmehr kennzeichnet bereits Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit den Gegenstand als Grundstruktur einer Gesellschaft; zeitgenössische Gerechtigkeitstheorien, wie etwa jene Youngs, Frasers, Forsts, oder in gewisser Weise auch Pogges, lenken die Aufmerksamkeit darüber hinaus zunehmend auf strukturelle Rahmenbedingungen unseres Handelns, die uns – ganz im Sinne Jaeggis – teils gegeben und teils von uns gemacht sind, und dabei, wie Jaeggi betont, auch Lebensformen immer schon vorstrukturieren (40). Ein gewisses Bewusstsein für die Relevanz des Bezugsrahmens und seiner Auswirkungen auf Lebensformen und die Möglichkeit, diese zu leben, findet sich somit durchaus auch auf Seiten derer, die die ethische Neutralität des Staates und eine entsprechende philosophische Enthaltsamkeit verteidigen – und spiegelt sich auch in den keineswegs durchgehend normativistisch angelegten Strategien der Kritik (wobei in dieser Hinsicht die Gerechtigkeitstheorie sicher einiges von Jaeggis systematischer Ausarbeitung der Strategie immanenter Kritik lernen kann). Gerade vor diesem Hintergrund wäre es aufschlussreich, die Unterscheidung von Fragen des guten und solchen des richtigen Lebens, auf die auch Jaeggi sich bezieht, genauer zu bestimmen und somit die Differenzzwischen Jaeggis Projekt den genannten jüngeren Entwicklungen in der Gerechtigkeitstheorie zu schärfen.

Möglicherweise ließe sich dann die liberale Ausklammerung von Fragen des guten Lebens vor dem Hintergrund von Jaeggis kritischer Theorie der Kritik an Lebensformen tatsächlich als Resultat einer misslungenen Entwicklungsdynamik kennzeichnen, wie sie am Ende ihrer Studie suggeriert (451). Doch reicht nicht schon der fortgesetzte Streit darüber, welche Elemente in eine im weitesten Sinne liberale Gerechtigkeitstheorie zu integrieren sind, und welche aus ihrem Gegenstandsbereich (nicht aber zwangsläufig aus dem der Philosophie) herausfallen, um diese These zu widerlegen? Oder anders gefragt: Wann genau ist der Zeitpunkt, Versuche der Selbstkorrektur innerhalb eines fortlaufenden Entwicklungsprozesses als Anzeichen einer misslungenen Entwicklungsdynamik zu begreifen?

© 2014 Zeitschrift für philosophische Literatur, ISSN 2198-0209, lizenziert unter CC-BY-ND-3.0-DE