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Zeitschrift für philosophische Literatur 2.3 (2014), 10–19

Symposium zu: Jaeggi, Rahel: Kritik von Lebensformen. Berlin: Suhrkamp 2013. 451 Seiten. [978-3-518-29587-8]

Kritik und Metakritik von Lebensformen

Von Stefan Deines (Universität Frankfurt)

Rahel Jaeggi beginnt ihre Kritik von Lebensformen mit der Frage nach dem Gegenstandsbereich einer kritischen Theorie: Welches sind die sozialen und gesellschaftlichen Phänomene und Verhältnisse, die aus einer philosophischen Perspektive analysiert, kritisiert und beurteilt werden können und sollten? Die Antwort erfolgt im Zuge einer kritischen Auseinandersetzung mit der Grenzziehung, wie sie im Bereich der politischen Philosophie in der Tradition von Kant durch die Liberalisten sowie durch Habermas vorgenommen wurde: Durch die Differenzierung zwischen dem Rechten (bzw. der Moral) und dem Guten (bzw. dem Ethischen) und die damit verbundene Trennung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten sind viele Aspekte menschlicher Praxis und Lebensführung in einen Bereich individueller Vorliebe und persönlicher Wahl verschoben, in dem eine Beurteilung und Kritik durch öffentliche Instanzen als illegitime und paternalistische Einmischung verstanden werden muss. Ob ich in einer Groß- oder Kleinfamilie bzw. als Single leben möchte, ob ich in der Stadt oder auf dem Land wohnen will und ob ich meine Freizeit lieber im Theater oder aber mit Ego-Shootern verbringe, ist danach keine Sache öffentlicher oder philosophischer Kritik.

Die genannten Phänomene sind Beispiele für das, was Jaeggi unter dem Begriff der ‚Lebensformen‘ fasst, und sie argumentiert in sehr überzeugender Weise dafür, dass es sich hier um einen Bereich der sozialen Realität handelt, der durchaus kollektive Relevanz besitzt und theoretischer Analyse zugänglich ist. Dabei ist eine kritische Reflexion und Bewertung von Lebensformen Jaeggi zufolge zum einen unumgänglich, da in modernen und pluralistischen Gesellschaften die verschiedenen Praktiken und Lebensentwürfe in Konflikt geraten können, etwa weil sie um dieselben knappen infrastrukturellen Ressourcen konkurrieren; zum anderen erweist sich die liberalistische Grenze zwischen Privat und Öffentlich selbst als eine Unterscheidung, die ethischer Natur ist, insofern sie mit historischen und kulturellen Lebensformen verbunden ist und sich mit diesen auch verschiebt. Dies bedeutet aber, dass immer schon kollektive Beurteilungs- und Aushandlungsprozesse stattfinden, die durch die Abschiebung in den Bereich des Privaten der öffentlichen Reflexion und dem theoretischen Zugriff entzogen werden. Durch diese Unsichtbarmachung der die Lebensformen betreffenden Aushandlungsprozesse bekommen die Trennung von Privat und Öffentlich und die damit einhergehende philosophische Doktrin der ethischen Enthaltsamkeit einen ideologischen Charakter. Demgegenüber geht es Jaeggi um die Ausarbeitung einer „kritische Theorie der Kritik von Lebensformen“, die eine rationale und wertende Auseinandersetzung mit Lebensformen ermöglicht.

Die große Relevanz und Originalität dieses Projekts resultiert nun aber nicht einfach aus der Tatsache, dass hier bestimmte Phänomene des sozialen Lebens als Objekte einer reflektierten kritischen Aushandlung (wieder) zugänglich gemacht werden, sondern daraus, dass die sozialen Konfigurationen, welche die Gestalt von Lebensformen haben, eine besondere Art der kritischen Auseinandersetzung und ein dementsprechendes theoretisches Instrumentarium erfordern. Hier wird also eine innovative und eigenständige Alternative kritischer Theoriebildung ausgearbeitet, die sich aus der besonderen sozialen Struktur und normativen Verfasstheit von Lebensformen herleitet. (Die vorliegende Studie ist, wenn man so möchte, nicht als Ergänzung zu einem bestehenden Forschungsprogramm im Bereich der kritischen Theorie zu verstehen, sondern als die Grundlegung eines neuen.) Die vorgeschlagene Ausweitung des Gegenstandsbereichs kritischer Aushandlung auf den Bereich der Lebensformen erschließt Objekte mit einer spezifischen ontologischen Struktur, mit spezifischen normativen Ressourcen und spezifischen Verfahren der kritischen Theorie und der kritischen Praxis.

Die Ausarbeitung dieses Ansatzes gliedert sich in vier aufeinander aufbauende systematische Teile: Der erste Teil erörtert die Ontologie von Lebensformen. Es handelt sich bei ihnen um Ensembles und Zusammenhänge von Praktiken, die durch eine gewisse Verbindlichkeit und Beständigkeit ausgezeichnet sind. Diese Theorie der Lebensform ist auch für sich betrachtet und unabhängig vom Projekt der Fundierung einer kritischen Theorie äußerst erhellend, liefert sie doch ein sinnvolles Mittel zur Beschreibung der historischen und sozialen Welt und unseres Involviertseins in sie sowie die Explikation eines Begriffs, der zwar zur Charakterisierung menschlichen kulturellen Daseins nicht selten Verwendung findet – prominent etwa in Wittgensteins Spätphilosophie –, dabei aber meist recht vage bleibt. Bedeutsam für den Zuschnitt der kritischen Theorie ist an dieser Stelle bereits die Erörterung des spezifischen Doppelcharakters von Aktivität und Passivität, von Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit, der die Seinsweise von Lebensformen auszeichnet. Denn es handelt sich bei ihnen einerseits um Produkte menschlicher Praxis und menschlicher Gestaltungskraft, die von denjenigen, die an ihnen teilhaben, thematisiert und modifiziert werden können; andererseits sind in Lebensformen stets auch Kräfte der Beharrung wirksam: Gewohnheiten, implizites Wissen und Institutionen stellen konstitutive Momente von Lebensformen dar, die den Hintergrund menschlicher Praxis bilden, der zwar punktuell, aber nicht als ganzer reflektiert und transformiert werden kann.

Der zweite Teil expliziert die spezifisch normative Struktur von Lebensformen. Als Ensembles von Praktiken erweisen sie sich als durch und durch normative Gebilde, die durch Regeln und Konventionen konstituiert sind und die mit bestimmten sozialen Rollen und Erwartungen einhergehen; sie strukturieren damit einen Handlungsraum, in dem bestimmt ist, was als rational, angemessen, sinnvoll oder gelungen anzusehen ist. Diese Aspekte der Normativität stellen jedoch noch nicht die normativen Ressourcen für die Kritik der Lebensformen dar, da sich hier zwar Maßstäbe für die Beurteilung der Güte einer Handlung finden lassen, nicht aber die Maßstäbe für die Beurteilung der Praxis als Praxis. Im Rahmen der angestrebten reflektiert-kritischen Aushandlungsprozesse soll aber nicht (nur) erörtert werden, ob etwas im Kontext einer Lebensform als gut zählt, sondern es soll sich mit Gründen abwägen lassen, ob die Lebensform selbst als gut zu betrachten ist. Dass sich Lebensformen selbst kontext-transzendierend normativ beurteilen lassen, ist nun der Tatsache geschuldet, dass sie auf etwas bezogen sind, was außerhalb ihrer liegt: Probleme. Lebensformen sind nicht einfach kontingente Konfigurationen von Praktiken, sondern sie haben die Struktur, die sie haben, weil sie eine bestimmte Aufgabe erfüllen (sollen), nämlich die, bestimmte Problemstellungen des Menschen zu lösen; sie sind Jaeggi zufolge „Problemlösungsinstanzen“ (200). Probleme ergeben sich dabei zwar aus der menschlichen Natur, sie sind aber immer kulturell überformt und deutungsabhängig; Probleme haben demnach eine Geschichte und stellen sich jeweils in einer bestimmten historischen Gestalt. Die Normativität und Rationalität von Lebensformen, auf die sich die kritische Theorie beziehen kann, besteht im Anspruch, ein bestimmtes Problem zu lösen, der in dem Begriff bzw. im Selbstverständnis jeder Lebensform enthalten ist. An diesem Anspruch können die faktischen Realisierungen der Lebensform auf die eine oder andere Art scheitern. Sie stimmen dann, wie Jaeggi mit Bezug auf Hegel formuliert, nicht mit ihrem Begriff überein, indem sie lediglich vereinseitigte, defiziente oder widersprüchliche Gestalten hervorbringen. Eine Lebensform gerät dann als Ganze in eine Krise, wenn sie vor einem bestimmten historischen Hintergrund nur noch in solchen defizienten Formen vorliegt und damit dysfunktional und „unbewohnbar“ (195) wird.

Der dritte Teil widmet sich der Ausarbeitung derjenigen Theorie der Kritik, die der ontologischen Gestalt und der normativen Verfasstheit der Lebensformen entspricht. Dabei handelt es sich um eine Form immanenter Kritik, die am Beispiel des Verfahrens der Phänomenologie des Geistes und in Abgrenzung zu ‚externer Kritik‘ auf der einen Seite und zu ‚interner Kritik‘ auf der anderen profiliert wird. Im Gegensatz zur externen Kritik, die fordert, die gesellschaftlichen Verhältnisse an eine von außen herangetragene (universelle) Norm anzupassen, und im Gegensatz zur internen Kritik, die fordert, die Verhältnisse an eine innerhalb der Gesellschaft explizit artikulierte und geteilte Norm anzupassen, wird die immanente Kritik als Ferment eines laufenden gesellschaftlichen Transformationsprozesses beschrieben. Dieser Prozess lässt sich als dialektischer Verlauf beschreiben, in dem die Realisierung der mit Lebensformen verbunden normativen Ansprüche zu – nicht einfach kontingenten, sondern aus strukturellen Gründen notwendigen – Widersprüchen innerhalb der sozialen Realität führt, die eine Krise darstellen, welche zu einer Transformation der gesellschaftlichen Verhältnisse treibt, in der sowohl die Realität als auch die normativen Maßstäbe verwandelt werden. Immanente Kritik ist darüber hinaus als theorieabhängig konzipiert und unterscheidet sich auch in diesem Punkt von der internen Kritik, wie sie etwa Michael Walzer skizziert. Denn es braucht Jaeggi zufolge mehr als mutige und aufrichtige Menschen, die auf die Diskrepanz zwischen Realität und geteilten Idealen verweisen: nämlich eine theoretische Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse, die den normativen Gehalt der Wirklichkeit, die strukturelle Widersprüchlichkeit und die notwendigen Ursachen der Krise herausarbeitet, um so den Transformationsprozess voranzutreiben. Bleiben diese strukturellen Zusammenhänge unanalysiert und unsichtbar, überdauern möglicherweise auch obsolete Lebensformen trotz ihrer Dysfunktionalität und Unbewohnbarkeit. Kritik stellt damit einen „Katalysator“ des historischen Wandlungsprozesses dar (296).

Der vierte Teil erörtert nun, unter welchen Umständen dieser Transformationsprozess als ‚Lernprozess‘ bzw. als Fortschritt aufgefasst werden kann. Die ‚kritische Theorie der Kritik von Lebensformen‘ muss sicherstellen, dass es sich bei den durch die Eingriffe der immanenten Kritik beschleunigten Transformationen nicht um bloße Veränderungen, sondern um Verbesserungen handelt. „Die Kritik von Lebensformen wird damit zu einer Art Metakritik historisch-sozialer Prozesse.“ (315) Jaeggi unterbreitet hier den bestechenden Entwurf einer „pragmatistisch deflationierten Geschichtsphilosophie“ (318), in welchem der Prozess der Forschung (‚Inquiry‘), wie Dewey ihn expliziert hat, die Dynamik der Dialektik und der bestimmten Negation im Sinne Hegels und die Rolle der Narration, wie sie Alasdair MacIntyre in Bezug auf das Leben von Traditionen beschreibt, verschmolzen werden. Um ‚Geschichtsphilosophie‘ handelt es sich dabei, weil Jaeggi tatsächlich substantielle Annahmen über eine Fortschrittsdynamik macht, die sich aus gewissen strukturellen Aspekten der sozialen Wirklichkeit ergibt; ‚deflationiert‘ ist sie aber, weil sie (dennoch) nicht von einem bestimmten mit Notwendigkeit sich vollziehenden historischen Prozess mit einem festen Zielpunkt ausgeht, sondern von einer stets offenen Entwicklung, die darüber hinaus eine Pluralität sozialer Konfigurationen als Lernergebnisse zulässt. Dass ein auf Widersprüche und Krisen reagierender Lernprozess stattfindet, so könnte man sagen, ist aufgrund der Struktur der Lebensformen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit angelegt; wie dieser Prozess verläuft, ist allerdings nicht im Vorhinein entschieden.

Nach dieser kurzen Skizze der Systematik des Buches sollen im Folgenden kurz ein paar Fragen bezüglich der Verfahren der Kritik artikuliert werden, die sich insbesondere am Zusammenhang der Theorie der Lebensformen und der Theorie historischer Lernprozesse entzünden: Die Kritik von Lebensformen erschließt im Zuge ihrer Analyse von Lebensformen zwei unterschiedliche Quellen von Normen bzw. von Rationalität, die in einem komplexen Verhältnis zueinander stehen. Zum einen sind die einzelnen Lebensformen mit gewissen Geltungsansprüchen verbunden, die sich aus dem immanenten Anspruch ergeben, ein bestimmtes Problem zu lösen. Diese Probleme betreffen jeweils unterschiedliche Werte, die es zu realisieren gilt: So zielt etwa die Lebensform der Wissenschaft auf Erkenntnis, zur Aufgabenstellung der Lebensform Familie kann es gehören, ihren Mitgliedern im Rahmen von Abhängigkeitsbeziehungen Autonomie zu gewähren, es kann aber auch um die Ermöglichung von Geborgenheit und Sicherheit, um die biologische und kulturelle Reproduktion gehen etc. (was genau ein Problem ist, ist, wie Jaeggi überzeugend ausführt, interpretationsabhängig). Die Norm aber, die allen Lebensformen implizit ist, und an der sie scheitern oder sich bewähren können, ist die, eine angemessene Lösung für das jeweilige Problem anzubieten.

Der historische Wandel von Problemen sowie die Möglichkeit des Scheiterns führen nun zu einer sozialen Dynamik von Lebensformen, welche die zweite Quelle der Normativität und Rationalität darstellt. Nur die Dynamik, die sich als ein gelungener Lernprozess begreifen lässt, stellt eine gute und vernünftige soziale Entwicklung dar. Man könnte sagen, dass die Rationalität und Normativität des Lernprozesses damit einhergeht, dass es uns gelingt, die richtige Einstellung gegenüber der Rationalität und Normativität der Lebensformen einzunehmen. Die Normativität der Lebensformen ist dann zwar konstitutiv dafür, dass der historische Prozess des Lernens überhaupt in Gang kommt; was das normative Gewicht angeht, ist aber die Normativität des Lernprozesses dominierend und sie wirkt sogar auf die normative Beurteilung der Lebensformen zurück. Denn eine Lebensform kann nicht nur aufgrund ihrer Problemlösungskapazität, sondern auch aufgrund ihrer Herkunftsgeschichte beurteilt werden; und es ist die zweite Betrachtungsweise, die für die hier vorgeschlagene kritische Perspektive die maßgebliche ist: „Eine gelungene Lebensform ist etwas, was sich als Resultat einer gelungenen Transformationsdynamik beschreiben lässt.“ (314) Auch eine Lebensform, die ihre Probleme auf angemessene Weise löst, heißt das, ist dann als negativ einzustufen, wenn sie aus einem defizitären Lernprozess erwachsen ist. An dieser Stelle bekommt die Theorie einen prozeduralistischen Zug, wenn sie Geltung und Güte der verschiedenen ins Spiel gebrachten Problemlösungsangebote in Bezug auf ihr jeweiliges Zustandekommen bewertet.

Was sind nun die Kriterien eines Lernfortschritts bzw. wie sieht die ‚ideale Lernsituation‘ aus? Jaeggi gibt z.B. die folgenden Bestimmungen: In einem Lernprozess werden Lebensformen „durch die kollektive und (in einem gewissen Maße) reflexiv begleitete Transformation durch die an dem jeweiligen Praxiszusammenhang Beteiligten verändert“ (329), es geht darum „die Realitäten des sozialen Wandels [...] mit angemessenen Begriffen zu reflektieren, sie kollektiv zu gestalten und ihnen mit einem adäquaten kollektiven Selbstverständnis zu begegnen“ (407), bei den Transformationsprozessen muss es sich um „Vorgänge[] kollektiver Selbstbestimmung“ (446) handeln; die Lernprozesse sind durch das „Bewusstsein der Freiheit“ (431) bzw. die „Einsicht in die Gestaltbarkeit der eigenen Lebensverhältnisse und das Vermögen zu ihrer Gestaltung“ (445) geprägt, wobei letzteres als das „Metakriterium“ der kritischen Theorie der Lebensformen ausgezeichnet wird.

Es ist also ein hohes Maß an Freiheit und Selbstbestimmung erforderlich, damit eine Lebensform als ‚lernend‘ betrachtet werden kann. Damit wird allerdings die Frage virulent, wie genau diese Aspekte der Freiheit und Selbstbestimmung realisiert bzw. implementiert sind. Jaeggi stellt klar, dass man sich hier aufgrund der strukturellen Eigenschaften von Lebensformen kein falsches Bild machen darf. Kollektive Selbstbestimmung ist nicht als durch und durch rationaler und diskursiver Aushandlungsprozess zu verstehen, an dessen Ende auf Basis der besseren Argumente eine demokratische Entscheidung gefällt wird, nach deren Maßgabe dann die soziale Realität modifiziert wird. Dass dies nicht möglich ist, ist den bereits erwähnten Aspekten der Unverfügbarkeit und Intransparenz geschuldet, die sich der expliziten Thematisierung und der aktiven Gestaltung entziehen. Darüber hinaus wird mit der Rolle der „welthistorischen Individuen“ ein undemokratischer Aspekt des Lernprozesses expliziert: Sozialer Wandel ist abhängig von innovativen Individuen mit einem besonderen Gespür für das Neue, deren Handlungen die soziale Welt modifizieren, ohne dass dies im Vorhinein demokratisch legitimiert würde.

Aber trotz dieser Einschränkung sind bestimmte Aspekte des Kommunikativen, Diskursiven und Reflexiven für eine ‚kollektive Selbstbestimmung‘ notwendig – es ist die ‚Thematisierung‘ von Problemlagen erforderlich, es braucht eine ‚Begrifflichkeit‘ zur Diagnose der Verhältnisse, es muss eine ‚Debatte‘ über verschiedene Deutungen stattfinden, es braucht die integrative ‚Narration‘ der historischen Abfolge von Problemlösungsangeboten und ein artikuliertes ‚Bewusstsein‘ der Gestaltungsmacht –, von denen fraglich bleibt, an welchem Ort sie zu lokalisieren sind, oder genauer: ob sie als reflexive Aspekte der Lebensformen selbst betrachtet werden sollen. Selbstverständlich verfügen einige Lebensformen, wie etwa die ‚Wissenschaft‘, über Foren und Praktiken selbstreflexiver Thematisierung und Aushandlung. Dies gilt aber vorderhand nicht für alle Lebensformen: Zwar gehören gewisse basale Formen der Deutung und Kritik zur Teilhabe an einer Lebensform dazu; es fragt sich aber, ob die anspruchsvolleren reflexiven und diskursiven Aspekte der Selbstbestimmung tatsächlich als Elemente der Lebensformen etwa der ‚Familie‘ oder des ‚Landlebens‘ zu konzipieren sind, oder ob sie nicht auf begleitende externe, politische oder wissenschaftliche, Diskurse und Praktiken angewiesen sind.

Dies würde für die Konzeption einer positiven Lernumgebung je Unter­schiedliches bedeuten: Eine ‚Kritische Theorie der Lebensformen‘ müsste es dann entweder als zusätzliche Problemstellung jeder modernen Lebensform betrachten, die reflexiven und diskursiven Mittel ihrer Selbstbestimmung be­reitzustellen – Selbstbestimmung wäre dann selbst eine der Aufgaben an deren Erfüllung jegliche Lebensform zu messen ist; oder sie müsste aus der formalen Bestimmung des Lernprozesses substantielle Schlüsse für eine gute Einrichtung der Gesellschaft ziehen: Es wäre dann die Anforderung, be­stimmte Institutionen und Praktiken der diskursiven Auseinandersetzungen zu ermöglichen, und das würde bedeuten, verschiedene theoretische, politi­sche oder wissenschaftliche (Meta-)Lebensformen herauszubilden, die ein be­stimmtes Problem moderner pluralistischer Gesellschaften lösen: das Pro­blem, auf angemessene und produktive Weise mit den Krisen und Konflikten der unterschiedlichen Lebensformen klarzukommen.

An diese Frage nach dem Ort von Reflexion und Aushandlung schließt sich die Frage nach dem Verfahren von Kritik an. Sie ergibt sich aus der Tatsache, dass Jaeggi scheinbar zwei verschiedene kritische Perspektiven erläutert, die wiederum den beiden genannten Quellen der Normativität korrespondieren. Dass es sich um zwei Perspektiven handelt, lässt sich bereits aus der ‚Projektbeschreibung‘ einer „kritischen Theorie der Kritik von Lebensformen“ (12, 447) herauslesen. Dies lässt sich so verstehen, dass wir es hier mit einer Theorie zu tun haben, die eine bestimmte Form der Kritik zum Gegenstand hat, und dass diese theoretische Erörterung dabei nicht neutral ist, sondern selbst eine kritische Perspektive auf ihren Gegenstand einnimmt.

Die Form der Kritik, die den Gegenstand der kritischen Theorie darstellt, ist die bereits skizzierte ‚immanente Kritik‘. Diese Art der Kritik hat die Funktion eines Katalysators, indem sie durch die Analyse der gesellschaftlichen Konstellationen und die Bewusstmachung struktureller Widersprüche eine Transformation der sozialen Realität herbeiführt. Diese Funktion kann die Kritik nur mithilfe theoretischer Mittel leisten: Sie braucht eine „gute Theorie“ (278) und angemessene Begriffe, die es erlauben, die normativen Potentiale und die systematischen Konflikte einer Lebensform herauszuarbeiten. Hier fragt sich, was als ‚gute Theorie‘ zählen kann; können hier unterschiedliche soziologische, volkswirtschaftliche oder psychologische Analysen als Katalysator fungieren – oder braucht es das spezifische Vokabular der ‚kritischen Theorie der Lebensformen‘, um zu den maßgeblichen Zusammenhängen durchzudringen (was allerdings, zumindest auf den ersten Blick, zu einer gewissen Zirkelhaftigkeit zu führen scheint)?

Die Perspektive der ‚Metakritik historisch-sozialer Prozesse‘ scheint dagegen eine etwas andere Form zu haben und daher mit der ausgeführten Theorie der immanenten Kritik selbst nicht vollständig beschreibbar zu sein. Zwar ließe sie sich in einem gewissen Sinn durchaus als eine Verlängerung oder Erweiterung der Praxis der immanenten Kritik begreifen, denn auch ihr geht es darum, die Bedingungen zu analysieren und wenn möglich herzustellen, unter denen sich das in den Lebensformen enthaltene Potential der Problemlösung auf eine ungehinderte Weise entfalten kann. Dennoch lassen sich einige Differenzen festhalten. Die immanente Kritik (in der von Jaeggi beschriebenen Form) orientiert sich an der mit der Lösung spezifischer Probleme verbundenen Normativität, während es der Metakritik um die Normativität von Lernprozessen geht; die immanente Kritik reagiert auf eine gegebene Krisensituation, während die Metakritik ihre Beurteilung auch ohne das Vorliegen einer Krise vornimmt; die immanente Kritik ist daher stark gegenwartsbezogen, während die Metakritik (auch) eine retrospektive bzw. genealogische Perspektive einnimmt. Demnach ist die Metakritik nicht im selben Maße ‚transformativ‘ wie die immanente Kritik, sondern scheint zumindest einen ‚rekonstruktiven‘ Anteil zu haben. ‚Rekonstruktiv‘ allerdings nicht in dem von Jaeggi selbst in Anschlag gebrachten Sinn, der sich vielleicht besser als ‚restaurativ‘ fassen ließe – die Widerherstellung einer verlorengegangenen Übereinstimmung von Norm und Realität (vgl. 294f.) –, sondern in einem anspruchsvolleren Sinn, in dem sich etwa auch die Ansätze von Habermas und Honneth als rekonstruktiv charakterisieren lassen. Jaeggis Metakritik hätte dann rekonstruktiven Charakter, insofern sie eine normative Tiefenstruktur freilegt, die alle gesellschaftlichen Formationen prägt, die Lebensformen als Problemlösungsinstanzen ausbilden. Deren historische Dynamik erweist sich als implizit mit dem Ziel des Lernens und mit den Werten der Selbstbestimmung und Emanzipation verbunden, die von der Theorie explizit gemacht und als Maßstab an faktische soziale Konstellationen und historische Prozesse angelegt werden können.

Diese Beobachtung legt natürlich die Frage nahe, wie sich der Entwurf Jaeggis zu anderen Spielarten kritischer Theoriebildung verhält. Dass diese Frage im Rahmen des Buches kaum behandelt wird, ist keineswegs ein Nachteil; im Gegenteil verleiht es den Ausführungen eine große Kraft und Stringenz, dass hier ein Ansatz systematisch entwickelt wird, ohne sich ständig in Abgrenzungsscharmützeln und der Kritik der Schwächen anderer Ansätze zu ergehen. Es wird spannend sein zu beobachten, ob die Kritik von Lebensformen im Feld der kritischen Theorie als konkurrierender oder aber als eher komplementärer Ansatz wahrgenommen wird. In keinem Fall ist es jedoch so, dass sich die verschiedenen Ansätze gar nicht in die Quere kommen, da Jaeggis Theorie nur ein kleines Segment der sozialen Wirklichkeit zum Thema hat: die Lebensformen. Vielmehr fragt man sich nach der Lektüre des Buches, ob nicht nur große Teile unserer Gesellschaft die Gestalt von Lebensformen im Jaeggischen Sinn haben, sondern sogar alles, was von einer kritischen Theorie sinnvollerweise thematisiert und beurteilt werden kann, Lebensform-förmig ist.

Bei der Kritik von Lebensformen handelt es sich um ein bedeutendes und bestechendes Buch, das in systematisch anspruchsvoller Weise einen innovativen und umfassenden Ansatz kritischer Theorie entfaltet. Es ist davon auszugehen, dass mit diesem Buch das Projekt einer Kritik von Lebensformen nicht abgeschlossen ist, sondern dass es vielmehr dessen Anfang darstellt. Man darf sich bereits jetzt auf die verschiedenen Studien freuen, die sich der hier vorgelegten theoretischen Mittel bedienen, um unsere Lebensformen kritisch zu analysieren und diese damit dann hoffentlich tatsächlich, wie Jaeggis Theorie es postuliert, zu transformieren und zu optimieren.

© 2014 Zeitschrift für philosophische Literatur, ISSN 2198-0209, lizenziert unter CC-BY-ND-3.0-DE