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Zeitschrift für philosophische Literatur 2.2 (2014), 53–63

Conly, Sarah: Against Autonomy. Justifying Coercive Paternalism.Cambridge. Cambridge University Press. 2013. 216 Seiten. [978-1-107-02484-7]

Rezensiert von Julia Gründel (Goethe-Universität Frankfurt)

Es ist ein provokantes Unterfangen im philosophischen Diskurs, die Idee des rationalen, selbstbestimmten Individuums in Frage zu stellen und damit die Werte der Aufklärung, die Basis liberaler Demokratien, herauszufordern. Sarah Conly, Assistenzprofessorin an der Bowdoin College, wagt diesen Schritt glücklicherweise dennoch. Sie fragt mit ihrer jüngst erschienen Monographie Against Autonomy. Justifying Coercive Paternalism, wie ein empirisch fundiertes Menschenbild Eingang in politische Theorie und Praxis finden kann, warum und wann eine wohlwollende Regierung die Freiheit des Einzelnen in dessen Sinn einschränken kann und muss.

Der Mensch handelt nicht rational und das ist – so attestiert Conly – ein Problem, das es zu adressieren gilt. Menschen lassen sich von Portionsgrößen in Restaurants leiten, essen weit mehr als sie zum satt werden brauchen und sind überzeugt, dass ihr Tabakkonsum keine gesundheitlichen Konsequenzen nach sich zieht. Freiwillig schließt niemand eine Kranken- oder Rentenversicherung ab. Später bereut man, was das Ich von gestern verpasst hat. Deswegen sei ein „harter“ Paternalismus, ein direktes Eingreifen in die Freiheit des Menschen, nicht nur moralisch vertretbar, sondern – nach sorgfältiger Kosten-Nutzen-Analyse ganz im utilitaristischen Sinn – manchmal gar geboten. Wenn die klassischen Maßnahmen des Liberalismus versagen, hat die Politik eine Verantwortung. Conly will dem reuigen Raucher sein Schicksal ersparen, die übergewichtige amerikanische Bevölkerung vor sich selbst schützen und so dem Ich von Morgen die Möglichkeit geben, ein glückliches, unverschuldetes und gesundes Lebens zu führen.

Das klingt nach einem anmaßenden, gar gefährlichen Vorschlag, der Tür und Tor für eine autoritäre Politik öffnet und ganz nebenbei das moderne Selbstverständnis eines autonomen und freien Menschen an neue Grenzen führt. Auch wenn gerade der letzte Punkt von der studierten Philosophin leider nur am Rande thematisiert wird, ist ihre Arbeit ein herausfordernder Beitrag für die analytische Philosophie und den liberalen Diskurs. In letzterem wurden die beschriebenen Erkenntnisse bereits durch die Theorie des liberalen Paternalismus rezipiert. Diese lehnt Conly allerdings ab, weil sie in dem Versuch, die Idee des selbstbestimmten Menschen mit der empirischen Realität seiner Fähigkeiten zu versöhnen, Inkonsistenzen erkennt. Dementsprechend wendet sie sich dann auch gegen eine aus besagter Theorie resultierende Politik des wohlwollenden „Schupsens“, die über veränderte Anreize das rationale Verhalten des Einzelnen zu fördern sucht. Mögliche Beispiele sind Werbung gegen Zigaretten oder eine Rentenversicherung, die direkt vom Arbeitgeber finanziert wird (Thaler und Sunstein 2009). Gerade weil man hier noch „falsch“ entscheiden kann, die Idee der Gesetzgebung also nicht effektiv umgesetzt wird, zieht Conly die für sie logische Konsequenz und geht einen Schritt weiter.

Ihr Plädoyer für einen harten Paternalismus lässt sich grob in vier Abschnitten vorstellen. Der sehr gut argumentierte erste Teil (16–47) konzentriert sich auf die Ergebnisse von Verhaltens- und Kognitionswissenschaft. Obwohl Conly ihren Begriff von „Rationalität“ hier nicht eindeutig definiert, erklärt sie überzeugend, warum die Methoden des klassischen Liberalismus und auch die eines weichen Paternalismus dem Menschen nicht gerecht werden, warum sie für einen harten Paternalismus argumentiert. Das zweite und dritte Kapitel (47–100) konzentriert sich auf die die Befürchtungen von John Stuart Mill. Dessen Hinweis auf die psychologischen Kosten einer paternalistischen Gesetzgebung hält Conly die Unzulänglichkeiten des Menschen entgegen. Im dritten, deutlich schwächeren und deswegen hier auch intensiver diskutierten Abschnitt (100–149) macht sie deutlich, wie sich ihr Vorschlag umsetzen lässt und unterstreicht, dass die Ziele des Einzelnen akzeptiert werden müssen. Statt vermeintlich objektive Werte zu implementieren, soll im demokratischen Diskurs über einen vernünftigen, effizienten Umgang mit menschlicher Irrationalität diskutiert werden. In der Folge bestimmen dann aber auch Konventionen, wie das paternalistische Regelwerk aussieht. Das problematisiert Conly nur am Rand. Wenig überzeugend ist zudem ihre Auseinandersetzung mit den möglichen Gefahren für die Privatsphäre des Einzelnen. Sie arbeitet unreflektiert mit dem Sinn und dem Begriff des Privaten. Der letzte Teil (149–182) schließt mit einigen sehr detailliert recherchierten und hervorragend argumentierten Fallbeispielen. Gerade weil diese aus dem Kontext amerikanischer Gesetzgebung und Kultur stammen, wird besonders dem europäischen Leser vor Augen geführt, dass harter Paternalismus bereits politische Realität ist und mit dem Konzept von Conly eine auch durchaus nachvollziehbare Legitimation erhält.

1. Grenzen menschlicher Rationalität

Im ersten Kapitel motiviert Conly ihre Arbeit und erklärt, dass Paternalismus notwendig ist, weil Menschen sich systematisch so entscheiden, dass sie ihre Handlungen bereuen. „We need help“ (29) ist der fragwürdige Tenor des Kapitels, der die kognitiven Defizite menschlicher Natur genauer beleuchtet und zu dem Schluss kommt, dass diese notwendigerweise von Gesellschaft und Politik akzeptiert und anerkannt werden müssen.

Conly beruft sich hier auf die Forschungsergebnisse der inzwischen weltberühmten Mathematiker Kahnemann und Tversky (2000). Diese haben in zahlreichen Studien die Idee eines rational handelnden Individuums in Frage gestellt und mit ihrer Kritik am klassischen Vorgehen der Wirtschaftswissenschaften und am populären Modell des homo oeconomicus eine neue Debatte um Rationalität entfacht.

Obwohl diese Debatte für Conlys Argument von zentraler Bedeutung ist, geht sie nicht darauf ein, wie sie Rationalität versteht. Ihrer Arbeit fehlt damit eine zentrale Definition, denn so bleibt das Konzept, mit dem sie ihr Anliegen überhaupt erst zu motivieren sucht, unbestimmt. Der Leser kann nur erahnen, wann Entscheidungen irrational sind und nach einem wohlwollenden Gesetzgeber verlangen. Conlys Ausführungen werden zwar genauer, wenn sie erklärt, dass kognitive Defizite sich da offenbaren, wo der Einzelne an seinen Zielen scheitert, doch auch mit dieser Konkretisierung einer instrumentellen Rationalität (23) bleibt der Begriff unterbestimmt.

Das macht ein Blick in die Literatur deutlich. Eine zwar umstrittene, aber in diesem Zusammenhang durchaus erwähnenswerte Position vertritt Gary Becker (Becker und Murphy 1988). Der Nobelpreisträger erklärt mit seiner Theorie des rationalen Süchtigen, dass Abhängigkeit, ein Scheitern an den eigenen Zielen keineswegs – so wie Conly es darlegt – ein Fehlen von Kompetenzen beweist. Für den prämierten Ökonom schätzen Abhängige den Nutzen der Gegenwart einfach mehr als den der Zukunft. Sie nehmen das Glück von Morgen weniger wichtig. Nach Becker handeln Süchtige damit rational, nach Conly nicht. Warum und wie sich diese unterschiedlichen Positionen begründen lassen, welche Arten von Rationalität sich hier gegenüberstehen, thematisiert Conly nicht. Später berücksichtigt sie diese Problematik zwar, bleibt dort aber leider zu oberflächlich. Ihr Hinweis, dass viele Menschen der Zukunft „unverhältnismäßig“ (169) wenig Gewicht geben, lässt nämlich offen, was das richtige, besser: das rationale, Verhältnis ist oder sein soll.

Diese methodischen Mängel schwächen ihr Argument. Dennoch wirft das Buch eine Reihe interessanter Fragen und Probleme auf. Vor dem Hintergrund der gewählten Beispiele kann und muss − das deutet sich im Verlauf des Buches an − kollektiv entschieden werden, wie man mit den empirischen Evidenzen menschlicher Unzulänglichkeiten umgeht, was diese genau ausmacht und wie man ihnen effizient begegnen kann.

Hier offenbart sich das utilitaristische Moment von Conlys Theorie, an dem im weiteren Verlauf ihrer Argumentation sowohl die klassisch liberalen Maßnahmen wie Bildung oder das Vertrauen auf Erfahrung als auch die Ideen eines weichen Paternalismus scheitern. Die klassischen liberalen Maßnahmen würden nicht alle Menschen erreichen. Zudem könne man nicht davon ausgehen, dass vermittelt oder auch durch Erfahrung erlernt werden kann, dass die eigenen Fähigkeiten und Entscheidungen systematisch scheitern müssen (25ff.). Gegen den liberalen Paternalismus müsse man vorbringen – und da kann man ihr nur zustimmen –, dass der Versuch, das Ideal der Freiheit durch ein Beeinflussen derselben aufrecht zu erhalten, in sich widersprüchlich ist. Letztendlich akzeptiere man hier das Problem nicht und könne ihm deswegen kaum gerecht werden (29ff.).

Motivierten Rauchern, übergewichtigen Menschen und Personen, die zur Selbstüberschätzung neigen, kann so nicht geholfen werden. Es bleibt also nur die Möglichkeit eines harten Paternalismus. Die damit verbundenen intuitiven Ängste sind – so argumentiert Conly mit Blick auf bestehende Gesetze wie Helm- und Anschnallpflicht ziemlich überzeugend – unbegründet. Der stärkste Punkt ihrer Argumentation ist der Hinweis darauf, dass alle Menschen gerade in ihrem systematischen Scheitern gleich sind. Würde man diesen Gedanken konsequent weiter denken – was Conly leider nicht tut –, ergäben sich ganz neue Perspektiven für die Debatte um Würde und Vernunft des Menschen. Einige Überlegungen dazu finden sich in ihrem Hinweis auf die notwendige Akzeptanz menschlicher Unfähigkeit. Jemanden entsprechend seiner „real abilities and real limitations“ (41) zu behandeln, sei weder beleidigend noch degradierend. Die Politik habe eine Verpflichtung, der sie nur gerecht werden könne, wenn sie sich auf die wahre Natur des Menschen beziehe, statt einer alten und bewiesenermaßen falschen Idee nachzuhängen. Hier schwingt das Vertrauen in die Forschungsergebnisse deutlich mit. Conly baut darauf, dass wir unsere Fehlentscheidungen bereuen, dass wir Hilfe brauchen und auch – davon will und muss sie den Leser überzeugen – wollen.

2. Einspruch des Liberalismus

Dass eine paternalistische Gesetzgebung sinnvoll sein kann, widerstrebt den Grundsätzen liberaler Politik und Philosophie. Ihrem berühmtesten Vertreter, John Stuart Mill, widmet Conly deswegen gleich zwei Kapitel. Überzeugend streitet sie in diesen für ihre Position, kann die Befürchtungen des englischen Philosophen nachvollziehbar entkräften und auf Inkonsistenzen seiner Theorie aufmerksam machen.

Dabei hat Mill selbst sich intensiv mit paternalistischer Gesetzgebung auseinandergesetzt, sie als Gefahr für das Glück des Einzelnen identifiziert und in der Folge abgelehnt. Der Utilitarist fürchtete um Individualität und Authentizität des Menschen und glaubte, dass durch so ein Bestreben nur konservative, mehrheitsbestimmte Werte umgesetzt werden und die Genialität und Besonderheit des Einzelnen, also die Motoren des gesellschaftlichen Fortschritts, chancenlos verstummen. Dies widerlegt Conly, indem sie auf Mills zu positives und vereinfachendes Menschenbild hinweist. Man könne dem Einzelnen sein Glück eben gerade nicht anvertrauen (51). Auch seien Menschen – und hier rekurriert sie wieder auf die Erkenntnisse von Psychologie und Verhaltensforschung – gerne „normal“ und ließen sich von Meinungen und Überzeugungen der Masse leiten. Nicht die Politik setze den Möglichkeiten des Einzelnen Grenzen, sondern die Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund könne und müsse man das paternalistische Wirken einer wohlwollenden Regierung als Chance begreifen. Der objektive Gesetzgeber helfe dem Einzelnen, sich gegen gesellschaftliche Normen durchzusetzen und zwingt ihn dazu, seine eigenen, selbstgewählten Ziele effizient zu erreichen. Mit einer paternalistischen Gesetzgebung seien wir „mehr als wir selbst, nicht weniger“ (88) resümiert Conly, auch hier auf ein sehr optimistisches Politikverständnis bauend. Für sie ist klar, dass Mill dem Staat zu Unrecht ein totalitäres Gesicht gibt und dessen positive Einflussmöglichkeiten gerade auch im Hinblick auf die für ihn so wichtige Freiheit verkennt.

Ob diese bei Mill als intrinsischer Wert oder notwendige Determinante eines glücklichen Lebens verstanden wird, sei irrelevant. Eine wohlwollende Gesetzgebung will schließlich auch, dass Freiheit gefördert und gesichert wird. Ein Verbot von Zigaretten oder die Pflicht, sich anzuschnallen, bewahrt vor einem vorzeitigen Tod. Was Conly Mill damit eigentlich vorwirft, ist eine fehlende Unterscheidung zwischen Mittel und Zweck. Wenn Freiheit das Ziel von Politik, der Zweck des Lebens oder der Philosophie ist, muss herausgearbeitet werden, wie man dieses erreicht und ob man auf dem Weg auf das Ziel verzichten kann (52).

Dieser Hinweis, so logisch einwandfrei er von Conly auch dargelegt wird, ist paradox, wenn man sich vor Augen hält, dass sie selbst zwar besagte Unterscheidung vor Augen hat, aber darauf verzichtet, klar zu definieren, was Zweck, was Mittel ist, und was beides unterscheidet. Die Regierung soll dem Menschen helfen seine eigenen Ziele zu verwirklichen – so ihre These. Dabei darf kein Politikbereich, kein Feld persönlicher Entscheidungen grundsätzlich außen vor gelassen werden, nichts ist „off limits“ (101). Aber gerade dann stellt sich doch die Frage, wann der Einzelne dem paternalistischen Streben seiner Regierung gerechtfertigt widersprechen kann. Wann schreibt die Regierung vor, wann reicht sie die Hand? Wie soll man ein Fehlverhalten der Politik erkennen, wenn Begriffe für dessen Markierung fehlen? Dürfen zum Beispiel die Turban tragenden Sikh in Indien die Helmpflicht vernachlässigen, weil die Regeln ihrer Religion es ihnen unmöglich macht? Ist es ein legitimes Ziel, nach den Regeln des Glaubens zu leben?

3. Gefahren paternalistischen Gesetzgebung

Dass sich diese Fragen sehr wohl lösen lassen und ein Paternalismus ohne Einschränkungen keine Gefahr darstellt, erläutert Conly im vierten und fünften Kapitel. Dabei widmet sie sich zunächst der Basis paternalistischer Gesetzgebung, nämlich der Frage, welche Ziele und Werte eine wohlwollende Regierung umsetzen sollte (100–126).

Conly verweist auf die subjektiven Ziele des Einzelnen. Der Paternalismus will dem Individuum und seiner ganz eigenen Definition von Glückseligkeit gerecht werden. Für die Autorin kann folgerichtig Gesundheit – auch wenn die Diskussion ihrer Fallbeispiele manchmal einen anderen Anschein macht – nicht als allgemeines, wahres und erstrebenswertes Ziel festlegt und die dahin führenden Wege gesetzlich vorgeschrieben werden. Der Paternalismus ist kein Perfektionismus (103). Der Menschen soll nicht zu einem „besseren“ Wesen erzogen, ihm sollen keine fremden Werte aufoktroyiert werden.

Das führt zunächst zu der Frage, wie die Regierung um die persönlichen, individuellen Ziele ihrer Bevölkerung wissen kann. Conly verweist nicht explizit auf einen öffentlichen Diskurs, dennoch lassen ihre Beispiele erkennen, dass sie auf eine offene Diskussion hofft, die zwar respektvoll mit kulturellen Werten und Wünschen umgeht, gleichzeitig aber auch hinterfragt, was diese implizieren. Wann Akzeptanz, wann Kritik angebracht ist, sucht die Autorin im Sinn einer utilitaristischen Logik auszuloten. Demnach sollen jene Politikvorhaben im demokratischen Diskurs thematisiert werden, die das Erreichen von subjektiven Zielen möglich machen und darüber hinaus effektiv und effizient umsetzbar sind. Was dem Menschen sehr wichtig ist und dementsprechend im Fall einer Regulierung mit großem psychologischen Schaden einhergeht, soll durch so eine Gegenüberstellung von Kosten und Nutzen berücksichtigt werden.

Ganz dieser Logik entsprechend erwähnt sie das klassische Thema paternalistischer Gesetzgebung, das Thema Alkohol, im gesamten Verlauf ihres Buches nur am Rand, hält es noch nicht einmal für notwendig, es auch nur im Ansatz zu diskutieren (119). Das ist mit Blick auf den Anspruch ihres Buches durchaus bemerkenswert, zeugt hier wohl auch von ihrem Bestreben, den Leser von einem politischem Vorgehen zu überzeugen, das der Lebenswelt des Einzelnen gerecht werden will. Ihr geht es um einen vernünftigen Umgang mit den Erkenntnissen von Wissenschaft und Geschichte, darum die Vor- und Nachteile eines Politikvorhabens auch dann einander gegenüberzustellen, wenn es um die persönliche Freiheit des Menschen geht.

Dass es bei so einer Kalkulation auch zu kostspieligen Fehlern kommen kann, räumt die Philosophin ein. Doch gerade diese machten es notwendig, Gesetze und die in ihnen zum Ausdruck kommenden Normen zu hinterfragen. Anhand einer sehr detaillierten Analyse amerikanischer Drogenpolitik illustriert sie, warum zum Beispiel ein Verbot von Marihuana so einer kritischen Analyse unterzogen werden sollte und warum es kaum auf Basis jenes Paternalismus zu rechtfertigen ist, den sie hier zu verteidigen sucht (119–122). Sie zeigt damit schließlich auch, dass ihr Ansatz Konventionen kritisch hinterfragen kann.

Dieser Wunsch nach einer reflektierten Diskussion zeigt sich auch in ihrem Umgang mit den eigenen Darlegungen. So bemerkt sie, dass Urteile über die Langzeitschäden von Drogen bislang unsicher und daher fallibel sind. Auch weist sie darauf hin, dass die Wahl ihrer Beispiele durch persönliche Präferenzen geprägt ist und demnach selbst zur Diskussion gestellt werden muss (122). Als nichtrauchende Weinliebhaberin hat sie andere Vorstellungen als ein rauchender, trockener Alkoholiker.

Die daraus resultierende Notwendigkeit eines Austausches schwingt in ihren Ausführungen zwar immer mit, wird aber leider nicht problematisiert. Ob eine Auseinandersetzung die Bedürfnisse der Parteien fair und gerecht in die Öffentlichkeit trägt, thematisiert sie nicht. Welche Akteure über Macht verfügen oder warum sich bestimmte Konventionen haben durchsetzen können, bleibt ungeklärt. Das ist gerade dann problematisch, wenn diese Konventionen diskriminierend wirken und auch noch im positiven Recht verankert werden. Conly selbst begründet mögliche paternalistische Vorstöße gegen kollektive Fettleibigkeit mit dem Hinweis, dass man so das Selbstwertgefühl der Menschen steigere, da diese dann den „cultural standards of attractiveness“ (164) entsprächen. Sie nimmt hier eine bestimmte Vorstellung von Schönheit, von einem guten, gesunden Leben als gegeben hin. Ihr Vorgehen läuft damit im schlimmsten Fall Gefahr, fragwürdigen Normen einen Platz im Rechtsgefüge einzuräumen.

Diese Gefahr sieht Conly selbst, erklärt an anderer Stelle mit Meyers (1989) aber sehr optimistisch, dass sozialer oder juristischer Druck auch Ansporn und Herausforderung sind, gefühlten Ungerechtigkeiten zu widersprechen (92). Soziale Konventionen und Werte werden – so das Argument – besonders dann einer kritischen Bewertung unterzogen, wenn sie im positiven Recht umgesetzt und bestärkt werden. Diese Überlegung ist zwar schlüssig, aber auch sehr hoffnungsvoll. Conly selbst weist an anderer Stelle darauf hin, dass positives Recht häufig Akzeptanz seitens der Bevölkerung nach sich zieht (62). Folgt man diesem zweiten Hinweis, bleibt die genannte Gefahr ein Problem der Theorie.

Selbst wenn man von dieser Gefahr absieht und Conlys Verweis auf die Möglichkeit, Gesetze zu verändern, hinreichend findet, bleibt das Projekt des Paternalismus umstritten. Die Skepsis gegenüber einem die Bürger_innen überwachenden und im Falle von Missachtung strafenden „großen Bruder“ prägt die Diskussion. Conly versucht im fünften Kapitel (126–149) dieser Skepsis entgegenzuwirken, indem sie aufzeigt, wie ihr Vorschlag in der Praxis umgesetzt werden kann.

Weil es ungerecht wäre, Menschen, die sich selbst im Weg stehen, dafür auch noch zu bestrafen, plädiert Conly für einen – wie Dworkin es nennt – „Impure Paternalism“ (Dworkin 1983). Nicht der Zigarettenkonsum soll verboten, gar bestraft werden, sondern die Zigarettenproduktion. Ansatzpunkt für eine wohlwollende Regierung ist demnach nicht der irrationale Mensch, sondern die Umgebung, in der er sich bewegt. Wer sich verschuldet, raucht oder ungesund ernährt, muss – so der Tenor des Argumentes – bereits eine Rechnung zahlen, die zu erhöhen gerade im Licht menschlicher Defizite ungerechtfertigt wäre.

Es ist bemerkenswert, dass Conly die Regulierung des Marktes damit begründet, dass Menschen irrational handeln. Das „Problem“, wenn man es so bezeichnen will, ist demnach im Individuum, nicht etwa im Markt oder in der Gesellschaft verortet. Nicht die Logik eines nur auf Wachstum und Konsum fixierten Systems wird in Frage gestellt und problematisiert, sondern der darauf nicht effizient reagierende Mensch. Ganz in diesem Sinn führt Conly im letzte Kapitel an, dass die stetig steigenden Portionsgrößen in Restaurants reguliert werden sollten (162), nicht weil der dahinter stehende Mechanismus – Conly spricht von einem „Portionskrieg“ – falsch ist, sondern weil der Mensch irrational handelt. Auch an anderer Stelle offenbart sich diese einseitige Analyse. Im Zusammenhang mit einer Schuldenobergrenze fragt Conly zum Beispiel nicht, warum es für so viele lange so einfach war, sich hoch zu verschulden oder warum Bankangestellte einen Anreiz hatten, diesen Menschen unabhängig von ihren Rücklagen Kredite auszustellen.

Um ihren Paternalismus weiter zu plausibilisieren, spricht Conly zuletzt die Sorge an, dass die Privatsphäre der Menschen in einem paternalistischen Staat keinen Platz hat, dass er zu viel weiß und zu viel Macht hat. Die Philosophin argumentiert hier wie in ihrer Diskussion des Freiheitsbegriffes: Eine wohlwollende Regierung erreicht, dass Informationen geschützt werden, dass der Einzelne sich nicht unbedacht auf sozialen Webseiten degradiert oder zu viel von sich preisgibt.

Ihre Diskussion bleibt dabei allerdings zu oberflächlich, unterschätzt, dass die Frage nach der Grenze zwischen Individuum und Kollektiv von fundamentaler Bedeutung für das menschliche Zusammenleben ist. Wer wir sind, wen wir zu unseren Freunden oder zu unseren Geliebten erklären, ist eng mit dem verbunden, was wir von uns preisgeben (Rössler 2001). Conly verweist auf die Objektivität der wohlwollenden Regierung, die nicht zu unserem sozialen Zirkel gehören und daher keine Gefahr darstellen würde (141). Es spiele keine Rolle, wenn Bürokraten Informationen über unsere Person, unsere Krankheiten, unsere Familie haben – so das wenig überzeugende Argument. Darüber hinaus gelte: „All government is dangerous“ (148).

4. Anwendung und Umsetzung

Im letzten Abschnitt resümiert Conly ihre theoretischen Überlegungen und entwickelt vier Kriterien, die eine Bewertung von paternalistischen Politikvorschlägen erleichtern sollen. Das entsprechende Gesetz muss demnach das Erreichen von subjektiven Zielen möglich machen (1) und effektiv umsetzbar sein (2). Der Nutzen muss die Kosten überwiegen (3). Außerdem sind harte paternalistische Maßnahmen nur dann gerechtfertigt, wenn sie die effizienteste Zielumsetzung versprechen (4). An vier Fallbeispielen führt sie deren Umsetzung vor. Sie plädiert – differenziert und mit Sinn für Details – für ein Verbot von ungesättigten Fettsäuren in Lebensmitteln, für ein Produktionsverbot von Zigaretten und für eine Regulierung von Portionsgrößen in Restaurants. Den Vorschlag des New Yorker Bürgermeisters, Limonade nicht mehr an jene Menschen auszugeben, die Lebensmittelmarken erhalten, lehnt sie ab. Das führe zu einer Stigmatisierung der Armen und sei obendrein nicht effizient. Weitere Beispiele sind die Krankenversicherungspflicht und die Regulierung von Banken. Die Autorin rechtfertigt so die klassischen Ziele eines Sozialstaates, ohne dabei auf die Werte desselben zu rekurrieren. Sie könnte theoretisch also auch jene politischen Kräfte von der Einführung einer Krankenversicherung und Bankenregulierung überzeugen, die dem Sozialstaat und seinen Zielen traditionell widersprechen.

Doch dieser „Vorteil“ hat seinen Preis. Überzeugende Beispiele implizieren eben nicht, dass die Theorie gültig und richtig ist. Conlys Ausführungen im letzten Kapitel kann man größtenteils zustimmen, ohne das systematische Scheitern der menschlichen Rationalität anzunehmen. Renten- und Krankenversicherungspflicht lassen sich dann über die Prinzipien eines Sozialstaats rechtfertigen. Verbraucherschutz oder eine allgemeine Regulierung des Marktes kann man mit dessen Schwächen begründen. Man muss sich also – selbst angesichts durchaus überzeugender Beispiele – nicht von der Idee des rationalen, selbstbestimmten Individuums verabschieden.

5. Fazit

Auch wenn die Ausführungen Conlys nicht das einzuhalten vermögen, was ihr verheißungsvoller Titel verspricht, nämlich ein überzeugendes Argument „Against Autonomy“ zu liefern, zeigen sie dem Leser, dass liberale Theorie und Praxis derzeit nicht übereinstimmen. Eine harte paternalistische Gesetzgebung ist bereits Realität und lässt sich vor dem Hintergrund einer Theorie, die Freiheit und Rationalität als das höchste Gut versteht, nicht rechtfertigen. Auf dieses Problem aufmerksam zu machen und es zur Diskussion zu stellen, ist eine der Stärken des Buches. Auch die Kritik am weichen Paternalismus, an den Versuchen, diese Kluft zwischen politischer Praxis und normativer Theorie zu überwinden, ist − wie die Auseinandersetzung mit Mill − sehr überzeugend.

Anders verhält es sich allerdings mit dem theoretischen Konzept, das Conly als Lösung vorsieht. Ihr Vorschlag, einen strikten Paternalismus zu etablieren, der den Einzelnen ermächtigt, seine Ziele zu erreichen, bleibt kritikwürdig, wohl auch weil hier eine zum Teil nur oberflächliche Auseinandersetzung mit den grundlegenden Begriffen stattfindet. Es fehlt ein klarer Rationalitätsbegriff, eine eindeutige Bestimmung von Zweck und Mittel. Weiter kann man Conly vorhalten, dass sie mit den Werten von Gesellschaft und Kapitalismus unkritisch umgeht. Den Portionskrieg von Restaurants zu verbieten, weil der Mensch nicht mit großen Portionen umgehen kann, scheint kaum plausibel − gerade auch vor dem Hintergrund einer Industrie, die Milliarden Dollar in die Untersuchung der Frage investiert, wie sich Menschen am besten beeinflussen lassen.

Von diesen Punkten, von der Idee eines überbewerten Autonomie- und Freiheitsbegriffs, einmal abgesehen, liest sich das sehr gut strukturierte, in Teilen auch sehr kurzweilige Buch wie ein Plädoyer für eine vernünftige Auseinandersetzung mit den Regeln des gemeinsamen, sozialen Miteinanders. Es ist eine empfehlenswerte und herausfordernde Lektüre für jeden, der die Anschnallpflicht oder das Verbot von harten Drogen nachvollziehen kann und sich darüber hinaus als Verteidiger eines selbstbestimmten Menschenbildes versteht.

Literatur

Becker, Gary Stanley und Kevin M. Murphy. „A Theory of Rational Addiction.“ The Journal of Political Economy 96.4 (1988), 675–700.

Dworkin, Gerald. Paternalism in Paternalism. Hg. von Rolf Sotorius. Minneapolis: University of Minnesota Press, 1983.

Kahnemann und Tversky. Choices, Values and Frames. Cambridge University Press, 2000.

Rössler, Beate. Der Wert des Privaten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2001.

Thaler, Richard H. und Cass R. Sunstein. Nudge. Wie man kluge Entscheidungen anstösst. Berlin: Econ, 2009.

Meyers, Diana T. Self, Society and Personal Choice. Columbia University Press, 1989.

© 2014 Zeitschrift für philosophische Literatur, ISSN 2198-0209, lizenziert unter CC-BY-ND-3.0-DE