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Zeitschrift für philosophische Literatur 2. 2 (2014), 17–26

Rancière, Jacques: Die Nacht der Proletarier. Wien, Berlin: Turia + Kant 2013, 485 Seiten. [978-3-85132-699-4]

Rezensiert von Felix Steilen (Humboldt-Universität Berlin)

Anschauungen ohne Begriffe mögen blind sein – politische Theorie ohne Geschichte aber ist leer. So ließe sich eine der zentralen Einsichten aus Rancières La Nuit des Prolétaires formulieren, welches nun erstmals in deutscher Sprache vorliegt. Behutsam entwickelt der Autor seine Ansichten zunächst am historischen Text, ohne dem Beginn des Buches einen fixen theoretischen Rahmen voranzustellen. Im Zentrum steht das Los des französischen Proletariats im Anschluss an die Julirevolution 1830, bis auf wenige Ausnahmen könnte man fast exklusiv von Pariser Entwicklungen sprechen. Die französische Geschichte des 19. Jahrhunderts ist dabei freilich mehr als nur eine Geschichte Frankreichs. Moderne Entwicklungen nehmen hier nicht nur ihren geistesgeschichtlichen Ausgang. Insofern verhandelt die vorliegende Studie, auch wenn sie vorgibt, ein mehr oder weniger begrenztes Untersuchungsfeld historiographisch zu durchleuchten, gleichzeitig Themenkomplexe, die über den eigentlichen Gegenstand hinausgehen.

Laut Rancière versteht sich der Titel „Nacht der Proletarier“ keineswegs als Metapher, er möchte nicht erneut das dunkle Kapitel vom Leid der Arbeiter erzählen. Stattdessen stellt der Autor dem Handwerk und der Lohnarbeit des Tages die Gedanken, Wünsche und Ziele – kurzum die Träume – der Nacht entgegen. Es mag dennoch schwerfallen, seinen Buchtitel nicht als Metapher zu lesen. Immerhin kombiniert er zwei äußerst schillernde Bestandteile aus dem Sprachschatz moderner industrialisierter Romantik miteinander. So drängt sich hier bereits im Rahmen assoziativ naheliegender Buchtitel Célines „Reise ans Ende der Nacht“ auf. Rancière verzichtet aber größtenteils nicht nur auf die anschauliche Materialität der eindringlichen Schilderungen von Schmutz und Elend, wie wir sie bei Céline finden, sondern auch fast durchgängig auf die Referenz zu Nachgeborenen. Dieses Vorgehen hat neben offensichtlichen Mängeln seinen Reiz, wie die umfangreiche und bisweilen schwierige, aber ohne Zweifel ergiebige Lektüre des Buches zeigen wird.

Jene Ideale, Empfindungen und Reflexionen von Angehörigen der zahlreichsten und ärmsten Klasse (Saint-Simon), um die es Rancière in dieser primär historischen Studie geht, entnimmt er ihren Journalen, Pamphleten, zeitgenössischen Enqueten, Dokumenten des Saint-Simonianismus und dergleichen. Um den Fluss seiner narrativen Geschichtsschreibung nicht zu unterbrechen, verzichtet Rancière auf methodologische Hinweise, etwa zur Quellenauswahl. Der Leser folgt einer zusammenhängenden Erzählung wie im Roman, denn das Skelett der Geschichtsschreibung bleibt zunächst unsichtbar. Auf diesem Wege vollzieht sich - verbunden mit der Annäherung an eine epische Perspektive wie jener von Le Rouge et le Noir – der beabsichtigte Bruch mit den „Gewohnheiten der Sozialwissenschaft“ (17). Die Archive, denen Rancière sein Rohmaterial entnimmt, sind die von Saint-Denis, Arsenal und Amsterdam. Es gibt durchaus Verweise auf Klassiker, aber „große“ Texte jeglicher Couleur stehen eindeutig nicht im Vordergrund. Darstellungsfragen werden bewusst in die Problematik miteinbezogen, die „Existenz der Arbeiter“ wird auch methodisch dem „Himmel der Ideen“ entgegengesetzt (30). Brechts Frage des lesenden Arbeiters (wer baute die Pyramiden?) wird somit gewissermaßen implizit auf die Ideengeschichte gewendet (wer baute am Fundament des Sozialismus?). Insofern mag es verständlich erscheinen, dass Rancières Hauptaugenmerk nicht auf großen Doktrinären und Theoretikern liegt. Ohne seinen Gegenstand der Einfachheit halber einmal eingangs zu erläutern, geht es Rancière um jene französische Frühphase des Sozialismus, welche Engels folgeschwer als „utopisch“ charakterisierte. Thematisch spannt er dabei einen Bogen von eigenbrötlerischen Arbeiterliteraten über die sich nur mühsam formierenden Arbeiterassoziationen hin zu Verbindungen wie den Saint-Simonisten, Fourieristen und schließlich den Ikariern, deren Spur sich irgendwann in der amerikanischen Einöde verlieren wird. Insofern lässt sich bezüglich der chronologischen Abfolge der Darstellung ein Ansteigen des Organisationsgrades der beobachteten Gruppen ausmachen, was mit dem Ausbleiben gesamtgesellschaftlicher Durchsetzungsfähigkeit kontrastiert wird. In der Beschränkung auf unmittelbare bzw. zeitnahe Quellen besteht zugleich eine Qualität des Buches, indem so die kommentarreiche Geschichte marxistischer Geschichtsinterpretationen ausgeblendet wird. In diesem Zusammenhang sei jedoch bereits einmal auf ein begleitendes Problem hingewiesen, das freilich nicht nur eines des historischen Erzählens ist: Vorausgesetzt, dass es dominante spätere Interpretationen gibt, lassen sich diese einfach zu Gunsten eigener, vermeintlich direkterer Arbeit am Text vernachlässigen?

Zunächst muss als Leistung aber die Kompilation der Quellen hervorgehoben werden. Anfangs verbindet Rancière diese zwar nur locker mit den theoretisch gehaltenen Überlegungen der ersten Kapitel, die genauso am Schluss stehen könnten. Dann aber folgt er konkret einzelnen Arbeitern, die ihrem Arbeitsalltag durch Schreiben entkommen. Da gibt es den Lumpensammler und Latrinenreiniger, der die Einsamkeit wählt und dafür den Schmutz in Kauf nimmt. Den Parkettleger, der in den unfertigen Räumen der Bourgeoisie träumend aus dem Fenster schaut. Den Schriftsetzer, dessen Beruf besonders stark dem Konkurrenzdruck ausgesetzt ist, der früh seine Familie verliert und später in Tagträumen der verlorenen Kindheit nachspürt. Schriftsetzerarbeit besteht nicht nur aus Arbeit, denn auch wenn es gerade nichts zu tun gibt, sind die Männer in der Druckerei eingesperrt, bis wieder Aufträge hereinkommen. Der Arbeiterschriftsteller poetisiert nicht seinen prosaischen Alltag, sondern lässt die Realität auf die Seite der Fiktion wechseln: „Als wäre die Realität von Arbeitslosigkeit und Elend weniger der handfeste Ausdruck eines sozialen Übels als eine Halluzination“ (91). Von kurzen Lichtblicken und wenigen Erfolgsgeschichten abgesehen, leben die hier angeführten Männer ein unbestreitbar prekäres Leben. Claude Anthime Corbon aber wird nacheinander Weber, Schildermaler, Bauleiter, Schriftsetzer, Bildhauer, Mitglied der Assemblée constituante von 1848 und Senator in der III. Republik. Seine Biographie deckt sich in etwa mit der bei Rancière behandelten Phase. Seine Erfahrungen wird er im Secret du peuple de Paris (1863) verarbeiten.

In den Selbstbeschreibungen und Erzählungen der Arbeiter findet Rancière unzählige Variationen des Entfremdungsthemas, wobei er den Quellen gerade dadurch ihre Singularität zugesteht, dass er einen pauschalisierenden Begriffsapparat vermeidet. Indem er nicht die Schlagwörter eines unendlich wiederholten und sich wiederholenden Diskurses vor sein Material schiebt, lässt er selbiges in weiten Teilen direkter zu uns sprechen. Jedoch neigt er dazu, diese Passagen gelegentlich mit einer unweigerlich zeitgenössischen, manierierten Interpretation zu überfrachten. Entsprechend fehlt bisweilen der Wille, Sachverhalte klar auszudrücken. Die Übersetzung (jede Übersetzung) vom Französischen ins Deutsche erweist sich dabei noch als zusätzliche Hürde für den Leser. Vielleicht hätten La Phalange, La Ruche populaire, L’Atelier und Le Globe eingeführt werden können – warum sind gerade diese Journale wichtig? Insofern ist es womöglich bezeichnend, dass wir als Ergänzung zur poetischen Geschichtsschreibung im Anhang eine Chronik der Jahre 1830–1898 finden. Schließlich bildet die Chronik den Kontrapunkt zur narrativen Historiographie.

Spannungsbilder bestimmen Rancières Darstellung: Nacht und Tag entsprechen dem Kontrast von Arbeiten und Denken. Tagsüber wird der Körper vermietet bis zur Erschöpfung, nachts gibt es zumindest ein wenig Zeit, um aus dem Zyklus von Entkräftung und Erholung auszubrechen. Der Schriftsetzer Moreau beschreibt seine Person mit „von Stand Arbeiter und in der Fantasie Dichter“ (98), alltägliche Qualen kontert er mit nächtlichem Opium. Andere verzichten schon von vorneherein auf mögliche Freiheiten. Sie bestätigen die Klassenteilung als Hierarchie der Seinsformen, so die am Bau der Zellengefängnisse beteiligten „Tiermenschen“ oder „Maschinenmenschen“ – Lohnarbeiter bauen hier für andere Lohnarbeiter (116f.). Rancière erblickt in dieser Bewertung die Quellen eines Mythos des Generalstreiks. Georges Sorel mag sich hier inhaltlich aufdrängen, wird allerdings nicht angeführt. Durchweg zeichnen sich die Ausführungen durch eine hohe Sensibilität für sprachliche Bilder und Konventionen aus. So etwa, wenn es um Solidarität von unten und berechnende Freigiebigkeit von oben geht (121). Letztgenannte Variante, die Philanthropen, kommen hier nicht gut weg – was angesichts des allgemeinen Elends kein Wunder ist. Nicht das Klischee republikanische Arbeiter gegen bourgeoise Liberale wird hier bemüht, vielmehr wird der Egoismus in den ersten Organisationsversuchen der Textilarbeiter nachvollzogen. An die Stelle des geteilten Glücks brüderlicher Arbeiter rückt die private Erlösung. So das Testament des Kunsttischlers Adolphe Boyer:

Wenn man den Grund meines Todes wissen will, hier ist er: Im heutigen Zustand der Gesellschaft ist der Arbeiter, je privater er ist, desto glücklicher. […] wenn er die Gesellschaft und seinesgleichen ehrlich liebt, muss er wie ich enden. (127)

Arbeiter vereinigen sich nicht in Assoziationen, um das Ideal einer anderen Menschheit zu erreichen, sondern um Lohnverfall zu stoppen, Alte und Kranke zu unterstützen sowie um ihr Gewerbe selbst auszubeuten – „kleine Republiken von Sesseldrehern, Kistenschreinern, Feilenmachern und Goldschmieden“ (128). Diese Zusammenschlüsse gründen auf einer Übereinstimmung von Interessen, allein, es fehlt die Zuneigung. Es fehlt Rousseau, mag der kontinuitätsversessene Leser an dieser Stelle einwenden. Sympathie in Assoziationsformen einzufordern, wo nur Selbsterhalt als Antrieb wirkt, gestaltet sich als schwierig. Fortan überlegen daher die Apostel der sozialen Bewegungen, wie diese Gegensätze zu überwinden wären. Hiermit deuten sich zwei zentrale Topoi an, die bis zum Ende mitlaufen: die Familie und das Säkularisierungsthema. Familie wird einmal im unmittelbaren Sinne verstanden: die Kleinfamilie aus Arbeiter und ihm verwandtschaftlich nahe stehender Personen. Familie im weiteren Sinne reicht von den Assoziationen der Arbeiter bis zur großen Familie der saint-simonistischen Gemeinschaft. „Verwechsle nie die Religion der Brüderlichkeit mit dem Fanatismus der Familie“ schreibt der Schreiner Jules Thierry an seinen Freund Gauny nach dem ruinösen Ende einer Liebesbeziehung (141). Das heilsgeschichtliche Thema schwingt von Anfang an mit, wird aber mit dem Saint-Simoninismus evident. Den Fonds Enfantin (der einflussreiche Schüler und Popularisierer Saint-Simons) entstammen zahlreiche individuelle Glaubensbekenntnisse, welche die christologischen Ursprünge der neuen Lehre offenbaren:

Wo sonst als in diesen „egoistischen“ Erzählungen, könnte man besser die reine Form dieses Schwankens zwischen exquisitem Schmerz und tödlichen Freuden finden, das der Pulsschlag der apostolischen Aktivität ist, dieser Propaganda für ein anderes Leben, die selbst gemessen an der Enttäuschung bereits die Realität diesen anderen Lebens darstellt. (136)

Rancière stimmt ein in den Kanon jener Stimmen, welche die Wurzeln neuzeitlicher Ordnung in einer vorigen verorten. Er moduliert Erklärungen thematisch entlang der Umschaffung heilsgeschichtlicher Sachverhalte. Sehr schön wird in diesem Zusammenhang die religiöse Inbrunst der Saint-Simonisten ersichtlich. Religiöse Inhalte werden verweltlicht, das zeitlich Spätere in die geschichtliche Kontinuität gestellt. Einzelne Arbeiter lassen sich sogar noch davon überzeugen, die Sache des Volkes mit der des Erlösers gleichzusetzen. Oder wird jener Platz, der in den Herzen der Religiosität zugewiesen war, einfach durch materielle Interessen besetzt? Die kalkulierte Nützlichkeit der Assoziationen wird durch den Saint-Simonismus um das übersinnliche Element einer neuen Religiosität ergänzt. Ein integrierendes Moment besteht so außerhalb des Einzelnen, wird zudem außerhalb der Gruppe verortet. Rancière beschreibt die leidenschaftliche Kraft der Hoffnungen dieses religiösen Beginns gegenüber anderen Formen eines kollektiven Neuanfangs: „Eine Gemeinschaft der Exzesse jenseits der Enttäuschungen des Vertrags und der Anerkennung“ (137). Die Zeit der Entbehrungen ist zugleich gezeichnet durch ein Offenliegen der Möglichkeiten, die als metaphorischer Kontrast erscheinen: Das sprachliche Bild der deux familles beschreibt die Bindung und Liebe in Bezug auf einzelne oder alle; Diogène et saint Jean le Précurseur setzt den Stadtmenschen Diogenes gegenüber Johannes dem Täufer, dem Mann in der Wüste. Solche gedanklichen Möglichkeiten setzen wiederum Fähigkeiten voraus, die im postrevolutionären Frankreich alles andere als selbstverständlich sind. Arbeiterliteraten sind zunächst erst einmal Autodidakten. Ein Kind fängt an die Zeitungen zu lesen, welche die Mutter als Verpackung der täglichen Linsenration mit nach Hause bringt. Natürlich geht es hier unweigerlich auch um Bildung, zuerst über den Bildungshunger Einzelner, dann rücken mit den Schulen der Saint-Simonisten die Anfänge der Volksbildung in den Fokus.

Nacht und Traum stehen zunächst für den Gegensatz zum Arbeitstag, im Fortgang des Buches aber zunehmend für Träume von einer zukünftigen Wirklichkeit. Auf die Nacht folgt die Enttäuschung des Morgens für jene, die wieder zur Arbeit gehen, wie für jene, die sie im Rausch verbracht haben. Bis zum Zeitpunkt, wo „die Träume des Absoluten sich mit den Forderungen der Arbeiter und der Entfesselung des einfachen Volkes vermischen“ (153; vgl. Enzensberger 1978). Einzelne Männer durchwandern die Stadt, zunächst nur monologisierend, irgendwann aber lauter werdend, wenn sich auf einem öffentlichen Platz spontan Zuhörer um sie gruppieren.

1831 setzt die saint-simonistische Hierarchie kurzzeitig Direktoren ein, welche die Lage der proletarischen Bevölkerung von Paris mit Hausbesuchen und Berichten evaluieren. Diesen Berichten sowie den Glaubensbekenntnissen entnimmt Rancière Kurzbiographien und Darstellungen der elenden Zustände. Was die Direktoren und ihre Zuarbeiter in den einzelnen Arrondissements begutachten, ist demnach keine Armee von Außenseitern, sondern eine von Arbeitern. Im 6. Kapitel wird unter anderem die soziostrukturelle Zusammensetzung der Saint-Simonisten beleuchtet. Aufgrund der Regelmäßigkeiten seiner Quellen fällt dieser Teil des Buches am soziologischsten aus. Konkurrenz und Beschäftigungskrise nach der Revolution sorgen für eine Nivellierung der Qualifikationen, absinkende Aufträge und Preise für Lohnarbeit.

Feinfühlig beschreibt Rancière ein Oszillieren zwischen Familienbildern, „von der häuslichen und sentimentalen Ökonomie der kleinen Familie zu den großen Manövern der universellen Assoziation“ (252). Der großen Familie der Saint-Simonisten gelingt es, den Arbeitern jene Würde zurückzugeben, welche zuvor durch die doppelte Knechtschaft von Auftrag und Nachfrage verloren gegangen ist. Eher implizit hervorgestellt wird der romantische Charakter dieser Bewegung mitsamt ihrem Streben nach einer Vereinigung von Innen- und Außenwelt, der Liebe des Partners wie der Liebe der Vielen, als einer Liebe der Gleichen… Halb angetan, halb abgestoßen reagieren saint-simonistische Direktoren auf den Zusammenhalt innerhalb einiger Kleinfamilien. Hier zeigt sich zudem die zentrale Bedeutung des Erbrechts als ordnungstheoretischer Stellschraube. Utopia wird verzeitlicht als möglicher zukünftiger Zustand. Allerdings lässt die patriarchale Utopie des Sozialstaates die Söhne nichts mehr vom Eigentum ihrer Väter erben. Es gibt das Problem der aufstiegswütigen Anhänger, die nur aus Eigeninteresse der Gemeinschaft beitreten; dann jene, die sich schlicht Arbeit oder eben Almosen erhoffen (221). Eine Assoziationsform wird zwischen der Religiosität ihres Ursprungs und ihren Wohlstandsversprechen für die Zukunft zerrieben. Realpolitische Rückschläge bestärken folglich Bestrebungen, das Heil der zahlreichsten und ärmsten Klasse außerhalb des Vaterlandes zu suchen. Suzanne Voilquin ist zunächst Strickerin und dann Hebamme. Statt als Arbeiter-Apostel zum Urbild einer neuen Frauenrolle werden zu können, muss sie plötzlich allein ihre Angehörigen ernähren. Zum Arbeiten geht sie nach St. Petersburg und kann nicht gleich dem Ruf an den Nil folgen. In Ägypten werden saint-simonistische Apostel zu freiwilligen missionarischen Ingenieuren im Kanalbau. Sie projizieren ihre Vorstellungen auf eine Arbeit, die eigentlich Sklaverei ist: „hier, wo der Arbeiter unter den Sternen schläft und von ein paar Bohnen lebt“, schreibt der Ingenieur Hoart (259).

Statt dem Wühlen in der Erde das Schweben in den Wolken: Auf dem Ikarus-Mythos gründet eine weitere Ausprägung des Saint-Simonismus. Charles Mallard geht nach Amerika, aber bevor die von ihm erträumte Kolonie entstehen kann, stirbt er an Cholera. Es gibt Versuche, den imaginären Ort in der Wüste zu erreichen. „Auf nach Ikarien“ ist die Losung, mit der die erste Avantgarde 1848 nach Texas aufbricht, bald folgt eine zweite, eine dritte. Von den hunderten Ikariern bleiben einige in New Orleans stecken, andere kommen nach Illinois und gründen eine Kolonie. Étienne Cabet, Verfasser der zunächst imaginären Voyage en Icarie (1840), wird als väterliche Figur dieser Kolonie beschrieben. Eine ähnliche Schlüsselrolle kommt auf Seiten der Fourieristen Victor Considerant zu. Unter seiner Führung entsteht die Kolonie Réunion. Gänzlich außen vor bleiben die Merkmale fourieristischer Modellkolonien (den Phalanstères), die sich – modelliert am Palast von Versailles – angeboten hätten, erneut das mit dem Säkularisierungsthema angeschnittene Problem der Traditionslinien zu illustrieren.

Der allgemeinen Ernüchterung entsprechend empfiehlt sich die Melancholie als Darstellungsmodus. Die gealterte Frau Volquin schreibt aus dem Brüsseler Exil ihrer Jugendliebe und denkt, dass die angestrebten gesellschaftlichen Veränderungen eigentlich hätten erreicht werden können. Dazu passen Rancières kontrafaktische Überlegungen zu den Begleitumständen, die nie ganz die richtigen waren. Das Zitat von Desoye, der nach einer finanziellen Bilanzprüfung den Mitgliedern einer Arbeiterassoziation die Auflösung vorschlägt, verdeutlicht diese ernüchterte Stimmung. Am Ende hat es eben einfach nicht gereicht:

Es sind weder vernünftige Auswahl noch Sympathie, weder Analogien im Charakter noch eine Übereinstimmung in politischen und religiösen Meinungen, noch die Kenntnis des geprüften Verdienstes, sondern der Zufall, der uns aus verschiedenen Richtungen zusammengetrieben hat. Wir haben uns erst kennengelernt, als es zu spät war, uns zu kennen. Seinen Charakter dem der anderen anzupassen war eine Anstrengung, die wir uns nicht träumen hatten lassen. Wir sind uns über die Ecken begegnet, daher die Antipathien, die stummen Kämpfe, die unter dem Anschein von Freundschaft vielleicht Hass verborgen haben; das ist also in wenigen Worten unsere Geschichte. (375)

Epilog

„Die Einheit zerfällt in zwei Teile.“ (43) Tag und Nacht, Arbeiter und Bourgeoisie. Sprache bildet nicht einfach nur ab, was ausgedrückt werden soll, ihr kommt auch eine Funktion zu hinsichtlich der Konstitution von Bedeutung. Metonymie beschreibt die Darstellung eines Ganzen qua Reduktion; ist diese Reduktion qualitativer Natur, sprechen wir von einer Synekdoche. Eine Metapher lässt sich als Vergleich zwischen zwei Synekdochen verstehen, also als Verbindung von zwei Reduktionen. „Die Nacht der Proletarier“ kann somit auch im Sinne des Autors als Metapher verstanden werden – entgegen der dem Buch vorangestellten gegenteiligen Behauptung.

Mitunter wird diese gelehrte Studie durch eine stark poetisierende Tendenz beeinträchtigt. Die Übersetzung dieses sehr charakteristischen Stils war sicher alles andere als einfach. Bei den Formulierungen hätte man sich jedoch ein wenig mehr Mut zur Vereinfachung gewünscht, beispielsweise wäre religions humanitaires anstatt mit „humanitäre“ vielleicht besser mit „humanistische Religionen“ übersetzt worden. Eine Verfremdung des Originals besteht in der gender-sensiblen Schreibweise der Übersetzung (DirektorInnen, ArbeiterInnen etc.). Auf Seite 91–92 wurde – ironischerweise im Schriftsetzer-Kapitel – eine ganze Passage versehentlich doppelt abgedruckt.

Inhaltlich besticht die Studie damit, dass Übergänge sichtbar werden, weil einem historischen Diskurs in seine kapillaren Verzweigungen gefolgt wird. Hinsichtlich der Säkularisierungsproblematik besteht insofern ein Vorteil gegenüber Autoren wie Voegelin oder Löwith, die mit deutlich disparateren Beispielen hantieren. Hier wird Entwicklung tatsächlich als eine solche nachvollziehbar und nicht einfach konstatiert; zudem geht es eben nicht darum zu zeigen, „dass die Welt immer noch so ist, wie sie schon war“ (Löwith 1953: 183).

Eine weitere, hier außen vor gelassene Bedeutungsebene der „Nacht der Proletarier“ besteht im indirekten Verweis. Rancière ähnelt insofern beispielsweise Stanislav Lem: Der eine schreibt über die Vergangenheit, der andere verfasst Science-Fiction, beide äußern sich zu damals gegenwärtigen sozialistischen Entwicklungen.

Neben dem werkgeschichtlichen Kontext (vgl. Klass 2013) wurde hier auch der Kontext der zeitgenössischen Historiographie abgeblendet. Dabei sind Parallelen gerade zu Carlo Ginzburgs mikrohistorischer Studie über die Gedankenwelt eines Müllers im 17. Jahrhundert, der sich vor einem Inquisitionsgericht verantworten muss, evident. Hauptmerkmal ist ein Perspektivwechsel, der einer Geschichte „großer“ Persönlichkeiten die Geschichte „kleinerer“ entgegensetzt. Der perspektivischen Dezentrierung „von unten“ entspricht eine weitere konsequente Dezentrierung Rancières, der eine Unzahl von Protagonisten einführt. Gegen historiographische Brillanz und Detailreichtum kann allerdings eingewandt werden, dass es dann doch übergreifende Interpretationsschemata sind, welche hier greifen. Die Einzelnen lassen sich de facto genauso als ein Protagonist zusammenfassen. Dieser Protagonist „Klasse“ lässt dann unweigerlich die Person verschwinden. Letztlich bestimmt ein geschichtsphilosophischer Ordnungsrahmen die Erzählung und ordnet ihre einzelnen Bestandteile: Von den Literaten zur Assoziation zum Saint-Simonismus wächst das Bewusstsein der Arbeiter, auch wenn sie freilich noch nicht ganz zu sich kommen oder zur Klasse für sich werden. Letztlich sind die Umstände noch ungünstig, der Klassengegensatz unterentwickelt, die materiellen Bedingungen unzureichend – ganz so, wie der Frühsozialismus bereits anderswo beschrieben wird:

solange sind diese Theoretiker nur Utopisten, die, um den Bedürfnissen der unterdrückten Klassen abzuhelfen, Systeme ausdenken […]. Aber in dem Maße, wie die Geschichte vorschreitet und mit ihr der Kampf des Proletariats sich deutlicher abzeichnet, haben sie nicht mehr nötig die Wissenschaft in ihrem Kopf zu suchen […] solange sie im Beginn des Kampfes sind, sehen sie im Elend nur das Elend, ohne die evolutionäre, umstürzende Seite darin zu erblicken, welche die alte Gesellschaft über den Haufen werfen wird. Von diesem Augenblick an wird die Wissenschaft bewußtes Erzeugnis der historischen Bewegung, und sie hat aufgehört, doktrinär zu sein, sie ist revolutionär geworden. (Marx 1973: 127)

Schon sind wir beim Fortschrittsbrutalismus der kleinen Preise, die, auch wenn es um Menschenleben geht, zugunsten der Sache zu zahlen sind. Dahin geht, gespeist von der geschichtsphilosophischen Deutung, die Singularität im Prozess historischen Erkennens.

Entsprechend sei im Hinblick auf Rancières poetische Geschichtsschreibung noch kurz der Sprung von einer Geschichtsphilosophie zur anderen gestattet: von Marx zurück zu Hegel. Der nämlich beschreibt die universalhistorische Entwicklung der Kunst als eine Entwicklung hin zu ihrer höchsten Bedeutung. Natürlich gibt es auch später noch Kunst, Kunst nach ihrer höchsten Bedeutung. Allerdings fehlt dieser Kunst fortan die Abbildungskraft oder der Erklärungsanspruch in Bezug auf gesellschaftliche Ganzheiten. Sie besteht weiter, aber sie repräsentiert fortan nurmehr sich selbst. Rancière hat 1981 eine große, fesselnde historische Studie veröffentlicht, deren deutsche Übersetzung längst überfällig war. So wie das Buch mit historischem Detail überzeugt, so offensichtlich ist letztlich seine Synchronizität im Hinblick auf marxistische Geschichtsdeutung: Womöglich wird dem Material eben doch von vorneherein seine Ordnung auferlegt. Inwiefern Rancière damit innerhalb des diskursiven Rahmens des westlichen Marxismus selbst ein Moment innerhalb einer zunehmend selbstreferenziellen Entwicklung repräsentiert, sei hier einmal dahingestellt.

Literatur

Engels, Fréderic. Socialisme utopique et socialisme scientifique. Übers. von Paul Lafargue. Paris: Derveaux, 1880 (aus: Herrn E. Dührings Umwälzung der Wissenschaft. Leipzig: Genossenschafts-Buchdruck, 1878).

Enzensberger, Hans Magnus. „Die Träumer des Absoluten.“ In: Politik und Verbrechen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1978.

Ginzburg, Carlo. Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600. Übers. von Karl F. Hauber. Berlin: Wagenbach, 2011 (1978).

Hegel, Georg W.F. Ästhetik. Hg. von Friedrich Bassenge. Berlin/Weimar: Aufbau, 1976.

Klass, Tobias Nikolaus: Vom Herrenrecht, Geschichte zu geben – von Nietzsche zu Rancière. In: Können wir der Geschichte entkommen? Geschichtsphilosophie am Beginn des 21. Jahrhunderts. Hg. von Christian Schmidt. Frankfurt a.M.: Campus, 2013.

Löwith, Karl. Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Stuttgart: Kohlhammer, 1953.

Marx, Karl. Das Elend der Philosophie. Antwort auf Proudhons „Philosophie des Elends“. Berlin: Dietz, 1973.


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