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Zeitschrift für philosophische Literatur 2. 2 (2014), 1-9

Lindner, Urs: Marx und die Philosophie. Stuttgart: Schmetterling Verlag 2013. 424 Seiten. [ISBN 3-89657-060-9]

Rezensiert von Michael Quante (Westfälische Wilhelms-Universität Münster)

Das Buch von Urs Lindner, 2010 an der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen, war ursprünglich als „eine Einführung in die Philosophie von Marx“ (7) gedacht, hat sich aber über die Jahre und unter der Hand in „eine eigene Forschungsarbeit zu Marx und die Philosophie“ (7) verwandelt. Die Ansprüche, die Lindner mit seinem Buch zu erfüllen versucht, bringen diesen Konzeptionswandel zum Ausdruck: „Von der ursprünglich geplanten Einführung ist vor allem der Anspruch geblieben, auf begrenztem Platz einen philosophischen Durchgang durch das gesamte marxsche Werk zu unternehmen und dabei so klar als irgend möglich zu schreiben“ (7f.).

Der Titel nennt einen großen Namen, führt durch ein überaus umfangreiches sowie facettenreiches Werk und in ein komplexes Problem: Die zu berücksichtigenden Textgattungen sind von Art und Status (veröffentlichtes Werk, Manuskript, Brief oder Exzerpt) ganz unterschiedlich, die von Marx behandelten Themenfelder nahezu allumfassend und, besonders erschwerend, ihre Behandlung Ausdruck eines komplizierten Selbstverständnisses von Marx, das die Frage betrifft, inwieweit das Ganze als Philosophie zu begreifen ist. Für einen philosophischen Durchgang, den Lindner sich vorgenommen hat, sicher erschwerende Bedingungen. Kein Wunder also, dass er sein Projekt selbst als „ein angesichts der Komplexität dieses Werks ziemlich aberwitziges Vorhaben“ (8) bezeichnet. Sein „Gefühl“, diese Aufgabe „irgendwie bewältigt zu haben“ (8), trügt ihn — so viel sei vorab gesagt — nicht. Im Folgenden werde ich die Hauptstationen dieser philosophischen Reise durch das marxsche Werk nachzeichnen und ausloten, wie das „irgendwie“ dieser Bewältigung zu verstehen ist.

Um mich nicht meinerseits in ein „ziemlich aberwitziges Vorhaben“ (8) zu stürzen, bei dem mich sofort das „Gefühl“ beschliche, es keinesfalls „bewältigen“ zu können, werde ich allerdings Lindners komplexes Projekt in zweierlei Hinsicht vereinfachen: Zum einen werde ich den Argumentationsstrang dieses Buches nicht verfolgen, der darauf abzielt, zu klären, was vom marxschen Denken „für eine heutige kritische Sozialtheorie zu gebrauchen“ ist (13). Und zum anderen werde ich die Ausführungen Lindners zur Bewertung der marxschen Konzeption aus der Perspektive einer feministisch aufgeklärten Sozialphilosophie, die den männlichen und eurozentrischen Herrschaftsblick durchbricht, ignorieren.

Diese Auslassungen, die den Autor von „Marx und die Philosophie“ sicher enttäuschen werden, sind dabei weniger Ausdruck einer inhaltlichen Geringschätzung als Anerkennung der beschränkten Kompetenz des Rezensenten. Denn für den ersten Argumentationsstrang bedarf es einer Vorstellung davon, was eine den heutigen Anforderungen angemessene „kritische Sozialtheorie“ ist, über die ich nicht verfüge. Deshalb bleibe ich auf dem zwar komplexen, aber doch festen Gelände des marxschen Werkes und betrete den schwankenden Boden nicht, der mit der Vorstellung einer zeitgemäßen kritischen Sozialtheorie benannt, nicht aber hinreichend erfasst ist.

Der zweite Aspekt führt auf ein mir noch weniger vertrautes Gebiet: Lindner zählt, in Bezug auf die Themen ganz zurecht, eine angemessene Erfassung des Genderaspekts und die Überwindung des Eurozentrismus zu den Adäquatheitsbedingungen jeder zeitgemäßen kritischen Sozialtheorie. Wenn man seine Studie, wie im weiteren Verlauf dieser Besprechung geschehend, primär als jene Einleitung und jenen Reiseführer durch das komplexe marxsche Werk liest, die es ursprünglich einmal war und (dem eigenen Anspruch des Autors nach) immer noch ist, dann ist diese doppelte Auslassung vertretbar, auch wenn man dem Gesamtanliegen Lindners damit nicht vollständig gerecht werden kann. Im Schlussabschnitt seines Buches (387-397) fasst Lindner nicht nur die zentralen Ergebnisse noch einmal bündig zusammen, sondern skizziert auch, was ihm unter einer zeitgemäßen kritischen Sozialtheorie vorschwebt. Es sei hier ausführlich zitiert, weil ich auf diesen Aspekt des vorliegenden Buches nicht mehr zurückkommen werde:

Eine solche Sozialtheorie basiert auf einem ethisch-politischen ‚Standpunkt der Nicht-Herrschaft‘ [Zitatnachweis ausgelassen] und ist im selben Moment sensibel gegenüber sozialer Macht. Sie ist überdies plural und vielstimmig in dem Sinn, dass sie sich aus verschiedenen Ansätzen und Perspektiven zusammensetzt. [Literaturhinweis ausgelassen] Minimalbedingungen für diese Ansprüche der Herrschaftskritik und der Pluralität sind, dass die kritische Sozialtheorie intersektional angelegt ist und auf eine Überwindung eurozentrischen Denkens zielt. (387 f.)

Selbst nach dieser Komplexitätsreduktion kann Lindners Projekt jedem, der mit dem Werk von Marx vertraut ist, auch weiterhin als ein „aberwitziges Vorhaben“ (8) erscheinen, denn „wer heute einen philosophischen Zugang zu Marx finden will, sieht sich (…) mit einer kaum zu überblickenden Vielzahl an Deutungsvorschlägen konfrontiert, die mit den unterschiedlichsten theoretisch-politischen Ambitionen einhergehen“ (10). Außerdem ergeben sich, so Lindner, für ein solches Vorhaben „mindestens drei große Herausforderungen“ (10): das philosophiekritische Selbstverständnis von Marx; die unterschiedlichen Ansprüche und Ziele der verschiedenen marxschen Texte (Lindner nennt dies „eine historisch einzigartige Verschränkung verschiedener Subjektpositionen“ [11]); und die Tatsache, dass das marxsche Werk „in einem elementaren Sinn auch heterogen und unabgeschlossen“ (11) ist.

Der dritte Punkt bringt mit sich, dass jede systematisch rekonstruierende Interpretation auf Inkonsistenzen und Vagheiten stoßen wird, die es nicht nur auszuhalten, sondern auch in dem Sinne zu bewerten gilt, dass man offen legt, an welche Aspekte (und in welcher Lesart) man produktiv anzuschließen gedenkt. Es ist eine der großen Stärken von Lindners Buch, dass es diese Herausforderung annimmt, vereinfachende interpretatorische Einseitigkeiten vermeidet und an ihre Stelle „komplexere Sichtweisen“ (12) setzt. Die Anerkennung des Zustands, in dem sich das marxsche Werk befindet, legt nicht nur ein „weitgehend chronologisches Vorgehen“ (17) nahe, sondern erfordert auch, jene die Interpretation leitenden Zielvorstellungen vorab offen zu legen, die an den verschiedenen Weggabelungen den einzuschlagenden Kurs bestimmen: Es geht Lindner darum, „den ‚wissenschaftlich-materialistischen‘ und den ‚ethisch-politischen‘ Marx zusammenzubringen“ (13). Dies läuft, so der Untertitel des Buches, auf eine Synthese von wissenschaftlichem Realismus, ethischem Perfektionismus und kritischer Sozialtheorie hinaus, die Lindner dann in den Kapiteln 2 bis 7 entfaltet. Das erste Kapitel (25-48) stellt die „moderne Philosophie vor Marx“ (25) in zwei Abteilungen vor; nach einer knappen Darstellung der newtonianischen Wissenschaft, der Aufklärung und des Materialismus folgt eine noch gedrängtere, an vielen Stellen zwangsläufig an der Oberfläche bleibende Skizze von Kant und dem Deutschen Idealismus. Lindner kommt dabei leider nicht ohne die bei diesem Vorgehen zu erwartenden Plattitüden aus, wie beispielsweise die folgende: „Schelling unterscheidet dazu zwischen Selbstbewusstsein als bewusster und Natur als unbewusster Tätigkeit und fundiert beide als Punkt ihrer Einheit im ‚Geist‘. Transzendentalphilosophie und Naturphilosophie werden über einen geschichtlichen Bildungsprozess ineinander verflüssigt, in dem sich die Natur zunehmend mit Selbstbewusstsein anreichert.“ (42) Nicht nur die pseudokritische Distanzierung vom Geist, durch den rein rhetorischen Einsatz von Anführungsstrichen zum Ausdruck gebracht, ist, obwohl in einer Marxstudie nicht gänzlich unerwartet, ärgerlich. Auch die nichts erklärende Verschleierung systematischer Problemstellungen durch die bilderreiche Umschreibung, hier werde etwas „ineinander verflüssigt“, ist bestenfalls redundant. Hinzu kommen grobe sachliche Schnitzer, wenn Lindner Hegels 1820 publizierte Rechtsphilosophie als dessen „drittes Hauptwerk“ (45) bezeichnet und der Leser sich fragen muss, welches der drei anderen Werke — „Phänomenologie des Geistes“ (1807), „Wissenschaft der Logik“ (1812-16) oder „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse“ (1817) — hier von Lindner, und aus welchen Gründen, gerade von der Liste der Hauptwerke Hegels gestrichen worden ist (Marx jedenfalls, für dessen philosophisches Denken das Werk Hegels ja keineswegs nebensächlich war, zitiert aus allen vier Hauptwerken, auch wenn er, dies sei Lindner zugestanden, dabei die 1830 erschienene dritte Auflage der „Enzyklopädie“ verwendet). Nach der klar strukturierten und den Leser gut informierenden Einleitung (9-24) muss man dieses erste Kapitel überstehen, bevor man in den darauf folgenden sechs Kapiteln reichlich entschädigt wird.

Das vorliegende Projekt lässt sich, angesichts der Verfasstheit des marxschen Werkes und des Anspruchs Lindners, nur mittels einer chronologischen Abfolge in Angriff nehmen. Damit aber steht man sofort in einer der ewigen Debatten der Marxforschung, die um die Frage „Kontinuität oder Bruch im marxschen Denken“ kreist. Spätestens seit Althusser, im Grunde aber schon durch die Selbstdeutungen von Karl Marx und Friedrich Engels nahe gelegt, geht es hier nie nur um werkgeschichtliche Fragen, sondern stets auch um die Frage nach dem Theorietyp der marxschen Konzeption, dem Anspruch auf eine wissenschaftliche Weltanschauung oder ähnliches. So unklar die Streitfrage: „Schließt ‚Kontinuität‘ jegliche Veränderung aus oder impliziert ‚Bruch‘, dass es gar keine sich durchhaltenden Theoriebausteine gibt?“ ist, so unklar bleiben die systematischen Konsequenzen, die sich aus den unterschiedlichen Periodisierungen ableiten lassen. Vermutlich ist es umgekehrt sinnvoller, die jeweils vorgeschlagene Periodisierung der Schriften von Marx als Illustration systematischer Interpretationshypothesen zu verstehen. Lindner geht, obwohl auch er seine eigene Periodentafel aufstellt (19), über die man sich editorisch und werkexegetisch trefflich, aber systematisch wenig fruchtbar würde streiten können, mit dieser Frage geschickt und sachlich überaus plausibel um, indem er verschiedene Ebenen und Kontexte innerhalb des Werkes von Marx unterscheidet, Kontinuität und Weiterentwicklung nicht in Gegensatz bringt, somit Brüche von sozusagen mittlerer Reichweite identifiziert, die er zugleich als systematisch motivierte Interpretationsvorschläge kenntlich macht. Diese Art des Umgangs mit dem Problem ist als vorbildlich und eine der großen Stärken der vorliegenden Untersuchung anzuerkennen.

Darüber hinaus finden sich auf den mehr als 300 Seiten in Lindners Buch eine Fülle richtiger Einsichten, beispielsweise den Status des Theorieprogramms einer Kritik der politischen Ökonomie betreffend (Kapitel 6 und 7). Wie die Diskussion um die jetzt abgeschlossene II. Abteilung der MEGA ebenfalls gezeigt hat, ist die marxsche Konzeption gravierenden Veränderungen unterworfen, permanent im Fluss und keineswegs als ein kohärenter, geschweige denn konsistenter Gesamtentwurf interpretierbar. Lindners gelegentlicher Unmut, bei Marx sei an manchen Stellen „auch theoretisch nichts im Lot“ (204) und seine materialistische Geschichtsphilosophie sei „ein eigentümlicher Gemischtwarenladen“ (204), bricht sich zwar nur bei seiner Kritik des Historischen Materialismus (Kapitel 4) Bahn, trifft in milderer Form aber auch auf die späteren Schriften zu. Die entscheidende Frage kann daher nicht, eine Formulierung Lindners aufgreifend, sein: „Wer ist hier näher dran an Marx?“ (233), sondern muss lauten: Was ist eine philosophisch in systematischer Hinsicht attraktive Deutung, die möglichst viele Einsichten von Marx zu integrieren in der Lage ist?

Lindner gibt hier, wenn ich richtig sehe, eine dreigeteilte Antwort, von der ich einen Aspekt zustimmend zitieren möchte: Es macht Sinn, die Kritik der politischen Ökonomie auf einen ethischen Perfektionismus zu gründen, dem zufolge „die Individuen bei aller Verschiedenheit von der Grundausstattung ihrer Natur her derart gleich sind, dass jede Form sozialer Ungleichheit ein Skandal wider die Menschheit ist“ (352 f.). So gelesen würde man dann „ergänzend oder alternativ dazu argumentieren können, dass Freiheit als Selbstverwirklichung Reziprozität und damit Gleichheit impliziert“ (353). Lindner ist auch darin zuzustimmen, dass Marx dieses Potential seiner Konzeption „nicht ausgeschöpft“ hat und wir Interpreten hier „eine normative Leerstelle in seinem Werk“ (353) füllen müssen.

Die anderen beiden Teilantworten Lindners, umschrieben mit „kritischer Realismus“ einerseits und „kritische Sozialtheorie“ andererseits, sind in meinen Augen aus verschiedenen Gründen wesentlich problematischer. So hängt letztere, wenn ich richtig sehe, entscheidend davon ab, wie man sich zur Unterscheidung von Erklären und Verstehen als zweier explanatorischer Strategien verhält. Lindner (261 ff.) stellt zwar klar, dass die Konzeption von Marx diese Trennung unterläuft, investiert aber systematisch nichts, um nachzuweisen, dass man dies auch sinnvoller Weise tun kann. Eine Aussage wie diese: „Mit den Dualismen von Erklären und Verstehen bzw. ‚nomothetischen‘ und ‚ideographischen‘ Ansätzen wurden Gebietsaufteilungen zwischen Positivismus und Hermeneutik vorgenommen, deren ausgeschlossenes Drittes eine historisch-kritische Sozialwissenschaft war“ (261) hilft hier, auch wenn sie historisch korrekt sein mag, nicht weiter. Liest man Lindners Buch als Plädoyer für eine neue Art von philosophischer Sozialtheorie, müsste die wissenschaftstheoretische Arbeit an dieser Stelle beginnen. Die dafür notwendige philosophische Argumentation sucht man in seinem Buch jedoch, trotz aller Komplexität, die dem marxschen Theorieentwurf zugesprochen wird (vgl. 265 ff.), vergebens.

Mag dies in dem Moment, wo der rekonstruierende Aspekt dieses Buches im Vordergrund steht, mit Blick auf den Theorietyp der Sozialphilosophie von Marx noch vertretbar sein, so schlägt meines Erachtens die mangelnde begriffliche Klarheit und die fehlende systematische Problematisierung bei der Frage nach dem Materialismus der Philosophie von Marx auch auf den Rekonstruktionsaspekt von Lindners Untersuchung durch. In seiner Auseinandersetzung mit der „Historischer Materialismus“ (186) genannten Orthodoxie der marxistisch-leninistischen Tradition wehrt Lindner sich nicht nur entschieden dagegen, diese kurze „Etappe[…] einer materialistischen Geschichtsphilosophie“ (188) zu verabsolutieren. Er liefert auch überzeugende Gründe dafür, dass sie in einem überaus wirkmächtigen, aber systematisch unhaltbaren Resultat mündet. Ihr Ausgang sind jene „marxsche[n] Abgründe“ (204), die aus einer grob vereinfachenden Grundkonzeption, schlichten Kausalmodellen und übergeneralisierenden Aussagen bestehen.

Blickt man auf Lindners Behandlung der Frage, wie der marxsche Materialismus mit seiner vielschichtigen Hegelrezeption und –adaption zusammenpasst, ergibt sich ein zwiespältiges Bild. Auf der einen Seite wird, beispielsweise anhand der marxschen Feuerbachthesen (131 ff.), zutreffend nachgewiesen, dass Marx versucht, zentrale Elemente der hegelschen Philosophie in seine eigene, materialistisch getaufte Konzeption zu überführen. Auf der anderen Seite arbeitet Lindner dabei mit jener groben Kelle, die es verhindert, dass die systematisch relevanten Aspekte des Hegel-Marx-Verhältnisses im Detail nachvollzogen werden können. Zum Teil mag dieses Vorgehen dem großen Ziel seines Buches geschuldet sein, das eine kleinschrittige Auseinandersetzung mit der komplizierten Diskurskonstellation nicht erlaubt. Doch damit gehen die für eine systematisch orientierte Bestimmung des marxschen Verhältnisses zur Philosophie entscheidenden Einsichten verloren. Zum anderen geht Lindner in seiner Rekonstruktion dieses Aspekts seiner Studie in ähnlich grober Weise vor, die er am Historischen Materialismus gerade kritisiert hatte. Die Frage nach der formierenden Funktion der marxschen Auseinandersetzung mit Hegel wird als so genannter „Hegelmarxismus“ vom Platz gestellt, wobei Linder eine diesen Interpretationsansatz grob vereinfachende Konzeption unterstellt, wenn darunter „eine Deutung des marxschen Werks“ verstanden wird, „die meint, das Kapital sei der hegelschen Logik nachgebildet, bzw. der Kapitalbegriff eine materialistische Fassung von Hegels ‚Geist‘.“ (419) Allerdings ist, um diese Kritik ein wenig abzumildern oder einzugrenzen, anzuerkennen, dass Lindner selbst in seinen Ausführungen zur „Dialektikkonzeption im Kapital“ (334) ein wesentlich differenzierteres Bild der Problemlage zeichnet, auch wenn er es dabei unterlässt, die beachtlichen Forschungsergebnisse der Autoren, die sich mit dem Verhältnis von Marx zu Hegel auseinandergesetzt haben, zu erwähnen.

Mindestens genauso undifferenziert wie seine Abhandlung des Deutschen Idealismus bleibt Lindners Rede von dem „junghegelianischen Theorierahmen“ (185), dessen sich Marx 1845/46 entledigt habe. Musste man nach dem ersten Kapitel schon die Sorge haben, dieser Studie liege ein wenig differenziertes Bild des Deutschen Idealismus und insbesondere der Philosophie Hegels zugrunde, zeigt sich in der Rekonstruktion des marxschen Materialismus, dass es um die Kenntnisse der — durchaus heterogenen — Autorengruppe, die man heute in der Regel Jung- oder Linkshegelianer nennt, nicht wesentlich besser bestellt ist. Auch hier steckt nicht nur der Teufel, sondern auch der philosophische Erkenntnisgewinn im Detail; dieses aber fällt den übergeordneten Erkenntniszielen Lindners leider zum Opfer, diesmal jedoch zu Lasten der philosophischen Qualität. Das Prinzip des hermeneutischen Wohlwollens verlangt, jeden Text auf seine Stärken hin zu lesen; deshalb ist es angemessen, den Blick von der philosophiehistorischen auf die systematische Ebene des Problems, wie sich Elemente des Hegelschen Denkens in den marxschen Theorierahmen einfügen lassen, zu wenden. Anzuerkennen ist, dass Lindner den Versuch von Marx zutreffend als Versuch charakterisiert, in dem er „einen dynamischen ontologischen Realismus mit einem epistemologischen Konstruktivismus kombiniert“ (185). Wie dies systematisch gelingen kann, erfährt der Leser allerdings nicht, weil Lindner diese Frage mit der Einführung des Terminus „Reflexivitätsmaterialismus“ (185) offenbar für abschließend beantwortet hält. Da hilft es auch nicht, dass man an gleicher Stelle erfährt, dieser „neue Materialismus“ werde von Marx in der „Deutschen Ideologie“ dann „zu einer realistischen Sozialphilosophie ausgebaut“ (185). Es gehört zu den Erblasten der Marxinterpretation, systematische Probleme durch Bindestrichsynthesen wie etwa „reflexions-materialistisch“ lösen zu wollen, oder die kritische Diskussion philosophischer Konzeptionen mittels diffamierender Kennzeichnungen (beispielsweise „kleinbürgerlich“, „idealistisch“, „essentialistisch“ oder „positivistisch“) zu ersetzen. Und es ist überaus bedauerlich, dass sich Lindner in seiner Untersuchung nicht immer von diesem Sozialisationsmuster hat lösen können. Während er auf der einen Seite mit großer Detailkenntnis sowie einer unbestechlichen Diagnose der Probleme und Komplexität des marxschen Denkens überzeugt, bricht er auf der anderen Seite seine systematisch ausgerichtete Rekonstruktion unter Einsatz von Stereotypen und philosophiegeschichtlichen Zerrbildern viel zu früh ab. Wenn er dann selbst, dies Ausdruck seiner interpretatorischen Redlichkeit, in den nach der „Deutschen Ideologie“ entstandenen Schriften von Marx auf Argumentationsfiguren oder Konzeptionen stößt, die es nach dessen Wende zum Reflexionsmaterialismus gar nicht mehr geben dürfte, wird entweder ein Rückfall konstatiert, oder aber das historische Vergessen bemüht. Sinnbildlich hierfür sei Lindners Kommentar zu der Tatsache angeführt, dass Marx auch im „Kapital“ noch die Konzeption des Gattungswesens in Anspruch bringt, die er doch selbst aufgrund der Essentialismuskritik Max Stirners angeblich aufgegeben hatte. Als Erklärung erhält der Leser keine Analyse der marxschen Konzeption, sondern diesen Hinweis: „Die Kontroverse mit Stirner ist so lange her, dass Marx selbst den Gattungsbegriff wieder verwendet“ (311). Dass und warum Marx in seiner Kritik der politischen Ökonomie auf die Konzeption, die er 1844 im Pariser Exil ausgearbeitet hat, nicht verzichtete, wird Lindner nicht zum Problem, „denn die Kontroverse mit Stirner ist schon lange vorbei“ (303).

Als „aberwitzig“ darf man Lindners Versuch nicht bewerten; auch das Gefühl, die selbstgestellte Aufgabe „irgendwie“ gemeistert zu haben, trügt seinen Autor nicht. Neben den einzelnen kleineren und größeren, lokalen oder auch weiterreichenden Kritikpunkten, die hier angesprochen worden sind, weist Lindners Studie eine Schwäche auf, die sie — ironischerweise — mit ihrem Untersuchungsgegenstand teilt. So wie bei Marx das Projekt einer Kritik der politischen Ökonomie immer neue Gestalt annimmt, weil sich während der Ausarbeitungen teils explizit, teils unter der Hand, seine Voraussetzungen oder Beweisziele ändern, so haben sich auch die Ansprüche und Beweisziele Lindners gewandelt. Die Konsequenz war und ist in beiden Fällen, dass das Werk seine klare Kontur verliert und den Leser vielfach zu überfordern droht. Was für die Ausarbeitung einer von Marx inspirierten kritischen Sozialtheorie an philosophiehistorischem Problembewusstsein genügt hätte, reicht für die philosophisch-systematische Rekonstruktion der philosophischen Dimension des Denkens von Marx an manchen Stellen nicht aus. Und was aus Sicht einer dem Ideal einer Einführung in das (philosophische) Denken von Marx verpflichteten Rekonstruktion gesagt werden muss, ist zu wenig, um die Frage zu beantworten, wie eine für heutige Belange taugliche kritische Sozialtheorie insgesamt aussehen sollte. Wenn ich trotz dieses Konstruktionsfehlers das von Lindner vorgelegte Buch als eine der besten philosophischen Einführungen in das Werk von Karl Marx bezeichne, dann ist dies aufrichtig als Auszeichnung gemeint. Zugleich kann man erahnen, dass es kein ganz müheloses Unterfangen sein wird, sich den Schatz an Kenntnissen und Einsichten, der in Lindners Untersuchung verborgen ist, anzueignen. Es bleibt zu hoffen und zu wünschen, dass viele Leserinnen und Leser diese Mühe auf sich nehmen. Wer dabei die Geduld bewahrt und unwegsames Gelände nicht scheut, wird reichlich philosophischen Mehrwert einfahren können.

© 2014 Zeitschrift für philosophische Literatur, ISSN 2198-0209, lizenziert unter CC-BY-ND-3.0-DE