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Zeitschrift für philosophische Literatur 2.1 (2014), 102–110

Müller, Jan-Werner: Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2013. 519 Seiten. [978-3-518-58585-6]

Rezensiert von Felix Petersen (Humboldt-Universität Berlin)

„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an sie zu verändern.“ (Marx [1845] 2008: 49; Herv. i. Orig.)

Folgt man Jan-Werner Müllers Darstellung in seinem jetzt auch auf Deutsch veröffentlichtem Buch Das demokratische Zeitalter, dann kann das vergangene Jahrhundert als Epoche verstanden werden, in der in Europa verschiedene Experimente unternommen wurden, die Marx’sche Forderung nach Weltveränderung umzusetzen. Der in Princeton lehrende Ideengeschichtler zeigt anschaulich und überzeugend, dass europäische Gesellschaften unter Berufung auf Ideen wie Sozialismus, Kommunismus, Faschismus, Nationalismus, Sozialdemokratie, Christdemokratie, Konstitutionalismus, Rechtsstaatlichkeit, Selbstverwaltung u.a. mit oft sehr gegensätzlichen Zielen und unter Rückgriff auf unterschiedlichste Mittel mehr oder weniger erfolgreich versucht haben, eine Antwort auf eine der zentralen politischen Fragen des 20. Jahrhunderts zu geben: Wie können sich moderne Massengesellschaften gerecht und demokratisch organisieren?

Die hier erzählte politische Geschichte Europas beginnt im 19. Jahrhundert. Die Zeit zwischen dem Ende des Deutsch-Französischen Kriegs 1871 und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914, so argumentiert Müller, „erwies sich als die längste Phase innereuropäischen Friedens, die es in der Geschichte je gegeben hatte“ (21). Dieses „Zeitalter der Sicherheit“ (21) brachte den Parlamentarismus zwar nicht hervor, hob ihn aber auf eine neue Stufe. Insofern kann die Zeit des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts als Zeitalter des Parlamentarismus gelten (23). Historisch wie theoretisch repräsentiert der Erste Weltkrieg einen radikalen Bruch, der alles Gewesene in Frage stellte (32). Die Monarchie war am Ende, Republiken waren plötzlich „die Regel und nicht mehr nur Ausnahmen“ (35f.), Max Weber ist für Müller der wichtigste Theoretiker dieser Phase. Die in seinem Aufsatz „Politik als Beruf” (Weber 1992) entwickelte Typologie traditioneller, charismatischer und rationaler Herrschaft steht paradigmatisch für die Übergangszeit vom 19. ins 20. Jahrhundert (18ff.). Nun wird Weber hier nicht nur als Theoretiker, sondern auch als historische Figur behandelt. Müller porträtiert ihn im Streit mit Joseph Schumpeter in einem Wiener Kaffeehaus, während der Friedensverhandlungen in Versailles, bei der Erarbeitung der Weimarer Verfassung oder als Verteidiger ihm eigentlich unsympathischer politischer Akteure wie dem bayrischen Sozialisten Ernst Toller (71–81). Theoretisch ist nachvollziehbar, warum der deutsche Soziologe so zentral für diesen Abschnitt ist, denn seine Arbeiten zur modernen politischen und wirtschaftlichen Organisation bieten den Schlüssel zum Verstehen dieser Zeit. Nach Weber funktioniert die Koordination von Massengesellschaften immer dann besonders erfolgreich, wenn soziales Handeln durch Regeln gerahmt ist und dem Hierarchieprinzip folgt. Und die Bürokratie ist die Institution der Moderne; ohne Zugriff auf diese Einrichtung ist Gesellschaft kaum zu organisieren (Weber 2008).

Neben dem Bürokratieprinzip, das ein Element der Organisation moderner Gesellschaften darstellt, diskutiert Müller eine weitere Konstituente: die Kultur. Der italienische Sozialist Antonio Gramsci steht paradigmatisch für diesen Strang politischen Denkens. Die Auseinandersetzung mit dessen Hegemoniekonzept wird häufig überstrapaziert. Insbesondere in Theorien der radikalen Demokratie, in kulturalwissenschaftlichen oder postkolonialen Arbeiten oder den Critical Legal Studies wird Gramsci als Säulenheiliger verehrt. Jan-Werner Müllers Auseinandersetzung mit Gramsci ist angenehm unaufdringlich und wenig pathetisch. Hier hat der italienische Sozialist seinen Platz als Theoretiker einer politischen Praxis, die auf eine „völlige Erneuerung der Kultur“ abzielte (116). Müller erläutert, was dies zu bedeuten hatte:

Damit war nicht die Indoktrination der Arbeiter durch sozialistische Intellektuelle gemeint, sondern die Schaffung einer authentischen Kultur, die in den gesellschaftlichen Institutionen ihren Mittelpunkt hätte – vor allem in den Schulen. […] Kultur hieß für Gramsci Selbsterkenntnis, Selbstbeherrschung, und vor allem: selbst zu denken. (108)

Verbinden wir Weber und Gramsci, so können wir argumentieren: Verbindliche Regelwerke, Regelbefolgung und arbeitsteilige Aufgabenerfüllung durch hierarchische Institutionen auf der einen und eine durch Eliten konstruierte und von den gesellschaftlichen Massen akzeptierte Kultur auf der anderen Seite sind die entscheidenden Bedingungen, um Gesellschaft im 20. Jahrhundert erfolgreich zu organisieren. Müller diskutiert verschiedene Fälle, die illustrieren, wie dieses Zusammenspiel von Machtapparat und dominanter Kultur inszeniert wurde. Das von Mustafa Kemal Atatürk nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs initiierte Modernisierungsprojekt, die türkische Revolution, erweist sich als gut gewähltes Anschauungsbeispiel. Atatürk, der laut Müller Comte und Rousseau gelesen hatte (43), verordnete von oben die Einrichtung eines Staatsvolkes, säkularisierte die Türkei nach französischem Vorbild, verbot religiöse Symbole wie den Fez und das Kopftuch, setzte eine radikale Sprachpolitik mit Hegemonie des Türkischen als offizieller Sprache durch und konstruierte die moderne Türkei so als Nation. Das Charisma des Vaters der Türken (auf Türkisch: Atatürk), eine gut funktionierende Bürokratie und eine – wenn auch nur konstruierte – türkische Kultur stellten die Legitimität der politischen Herrschaft sicher (45). Ein weiteres interessantes Beispiel ist Schweden: Die schwedische Sozialdemokratie konnte aufgrund einer „Koalition von Arbeitern und Bauern, Stadt und Land“ (111) langfristig die Regierung stellen. Die „Eroberung der kulturellen Hegemonie“ (111) erfolgte unter dem Dach des schwedischen „folkhemmet (Volksheim)“ (112). Die bis 1975 durchgeführten Eugenikprogramme zur grundlegenden Veränderung des schwedischen „Volkskörpers“ (116) stellen hingegen eine häufig unterschlagene problematische Schattenseite der sozialdemokratischen Gesellschaftspolitik dar, die Müller nicht ausblendet, sondern ebenfalls thematisiert.

Das Paradigma gesellschaftlicher Erneuerung – auch das hebt der Autor hervor – ist im 20. Jahrhundert aber vor allem im Zusammenhang mit den Totalitarismen (Kommunismus und Faschismus) perfektioniert und gleichzeitig diskreditiert worden. Denn sowohl die Nationalsozialisten wie auch die sowjetischen Kommunisten zielten auf eine mitunter durch Gewalt erzwungene kulturelle Erneuerung des Kontinents. Müller diskutiert die Totalitarismen in zwei Kapiteln (Kapitel 2 und Kapitel 3) und räumt dem Thema damit ausreichend Raum ein. Dem Stalinismus ist ein Unterkapitel gewidmet (134–154), dem Faschismus ein ganzes Kapitel (155–210). In der Überschrift des Kapitels zum Faschismus („Faschistische Subjekte: Der totale Staat und die Volksgemeinschaft“) ist zu erkennen, dass Staat und Kultur für den Autor die zentralen Konstituenten gesellschaftlicher Organisation auch im Totalitarismus darstellen. Selbst Stalin musste einen bürokratischen Apparat konstruieren, um die Gesellschaft der neuen Menschen mit den notwendigen Strukturen auszustatten (138).

Sozialismus und Faschismus werden anhand verschiedener Beispiele und unterschiedlichster Theorien erörtert. In der Diskussion des ersteren verweist Müller auf die praktische und theoretische Bewegung von Lenin zu Stalin und thematisiert die Transformation der Sowjetunion im Stalinismus (59–71, 134ff.). Er behandelt die sozialistischen Experimente der Austromarxisten (94ff.) sowie der Bayrischen Sozialisten (79ff.) und diskutiert die sozialistischen „Volksdemokratien“ in Mittel- und Osteuropa (265–288). Als Theoretiker werden neben den russischen Revolutionären (u.a. Lenin, Stalin, Trotzki) vor allem der bereits genannte Antonio Gramsci (104ff.), sowie Georg Lukács (116ff.) und Ernst Bloch (129ff.) diskutiert. Auch der Faschismus wird sehr vielseitig behandelt. Müller wendet sich nicht nur dem deutschen Nationalsozialismus zu (z.B. 191ff.), sondern thematisiert Theorie und Praxis faschistischer Politik mit Bezug auf Mussolini und den italienischen Faschismus (171–183), die faschistischen Autoritarismen unter Salazar in Portugal und Franco in Spanien (184ff.), und die Arbeiten von Denkern wie Georges Sorel (159ff.), Giovanni Gentile (177ff.) und Carl Schmitt (168ff., 197ff., 205ff.). Die Auseinandersetzung mit den totalitären Herrschaftssystemen ist, wie bereits erwähnt, sehr ausführlich und detailliert, so dass eine erschöpfende Diskussion von Müllers Argumenten den Rahmen dieser Besprechung sprengen würde. Deswegen sei hier nur auf die m.E. demokratiegeschichtlich wichtigste Facette verwiesen: Für die Geschichte der Demokratie in Europa ist vor allem relevant, dass Faschisten wie Sozialisten zumindest auf der symbolischen Ebene am Kampf um die Demokratie teilgenommen haben. Zwar war das „Denken der Nazis […] eine zutiefst illiberale Antwort auf ein demokratisches Zeitalter“ (196); dennoch waren, so könnte man argumentieren, die Systemzwänge schon in den 1930er und 1940er Jahren so signifikant, dass auch autoritäre und totalitäre Regime sich an den Legitimationsprinzipien der Demokratie orientieren mussten. Müller deutet in diesem Zusammenhang beispielsweise auf Carl Schmitts Umdeutung der Demokratie als „Volksgemeinschaft“ (197) oder Hitlers Aussage, der Nationalsozialismus mache mit der Demokratie Ernst und ergänze sie (198). Er zeigt auf, dass auch Lenins „proletarische Demokratie“ (65) bzw. die „Sowjetdemokratie“ (66) – also das nachrevolutionäre Selbstverwaltungssystem – den Parlamentarismus als politische Institution anzuerkennen hatte und dass nach der Erkenntnis, wie beschwerlich der Weg zu einer sozialistischen Demokratie sein würde, der „Kommunenstaat“ (69), d.h. eine selbstverwaltete Gesellschaft, weiter das Ziel der sozialistischen Revolution sein sollte. Selbst in der Rhetorik und Praxis der „sozialistischen Volksdemokratien“ – die gängige Selbstbezeichnung, die sich die sozialistischen Gesellschaften in Mittel- und Osteuropa nach 1945 zulegten – wird deutlich, dass sich die Demokratie spätestens nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa festgesetzt hatte. Die Institutionen, Legitimationsmechanismen und Praktiken der Demokratie hatten sich also nach dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts bereits so weit etabliert, dass noch die Totalitarismen ihnen Rechnung tragen mussten, und sei es nur rhetorisch (12ff.). Interessant ist diese Schlussfolgerung, weil auch heute autoritäre, illiberale und andere nichtdemokratische Herrschaftssysteme – Russland ist wie so oft das Paradebeispiel – sich eben dieser Mimikry bedienen und durch halbherzige Reformprozesse suggerieren, dass die Herrschaftsordnung freiheitlich-demokratisch sei, wobei das Demokratische an der Herrschaft, so wie des Kaisers neue Kleider, nicht mehr als Luft ist. Hierbei handelt es sich also um eine historische Kontinuität, die mit Rückgriff auf Müllers Argumentation rekonstruiert werden kann.

Zu einem wirklich demokratischen Kontinent wurde Europa erst durch verschiedene Demokratisierungswellen; insbesondere die Zeitfenster nach 1945 und nach 1989 sind hier entscheidend. Beide Phasen werden von Müller analysiert, der vor allem die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg – also die Demokratisierung Westeuropas – sehr detailliert behandelt. Um die Verfestigung der Demokratie nach 1945 durch die Augen des Autors verstehen zu können, möchte ich eine längere Passage zitieren:

Oft heißt es in, in den Jahrzehnten nach 1945 sei in Westeuropa die Sozialdemokratie endlich zu voller Blüte gelangt. Doch trifft dies schwerlich zu. In manchen Ländern hatte die Sozialdemokratie die ganze Zeit über in voller Blüte gestanden, so in Schweden und, in geringerem Ausmaß, in Dänemark. In den Kernländern des kontinentalen Westeuropa jedoch, also in Deutschland, Italien, den Beneluxstaaten und Frankreich, war es in Wirklichkeit die Christdemokratie, die entscheidend dazu beitrug, die innerstaatliche Nachkriegsordnung sowie insbesondere den Wohlfahrts- und den modernen Verwaltungsstaat zu errichten. Ihre Anführer waren zu politischen Neuerungen bereit, während ihre Intellektuellen diese Neuerungen in weitestgehend traditionelle Vokabulare zu kleiden vermochten. (220)

Die Praxis demokratischer Politik ist immer mit Unsicherheit verbunden, oder wie Müller am Ende seines Werkes mit den Worten des französischen Philosophen Claude Lefort argumentiert: „Demokratie […] ist institutionelle Ungewißheit“ (407). Vergegenwärtigen wir uns ausgehend von dieser These die instabile politische Lage in Europa nach den großen Kriegen, erscheint es nachvollziehbar, dass insbesondere konservative politische Kräfte nach 1945 in Deutschland, Italien oder Frankreich die Grundzüge der neuen politischen Ordnungen so massiv prägen konnten. Verkürzt kann man hier folgern, dass die stabilen normativen Präferenzen dieser Akteure den Übergang von einer paternalistisch geprägten in eine liberal demokratische Gesellschaftsordnung erleichtert haben. Jenseits politischer Parteien und Regierungen ist allgemeiner auch das System demokratischer Politik, das für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts charakteristisch war, als konservativ zu bezeichnen – hier sei insbesondere auf die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit verwiesen. Denn Müller zeigt, und wird damit der seit einigen Jahren etablierten Forschung zur Justizialisierung von Politik (z.B. Hirschl 2008) gerecht, dass die „Disziplinierung der Demokratie“ (247) erst durch die von Hans Kelsen (2008) schon zu Beginn des Jahrhunderts propagierten Verfassungsgerichte möglich wurde.

Verfassungsgerichte schienen den traditionellen Vorstellungen der Volkssouveränität Grenzen zu setzen oder sogar zu widersprechen, aber in einer Nachkriegszeit, die die Gefahren einer potentiell totalitären Demokratie fürchtete, war eine Stärkung der Gewaltenteilung, waren zusätzliche ‚Checks and Balances’ gerade der springende Punkt. (248)

Folgen der konservativen Demokratie im Nachkriegseuropa waren der politische Protest und die sozialen Bewegungen, beginnend mit den Studentenprotesten von 1968. Hier sind die Schlüsselwörter Anti-Staatlichkeit und Anti-Autoritarismus. Auf politischer wie gesellschaftlicher Ebene waren plötzlich politische Bewegungen entstanden, die keine Angst vor Unsicherheit oder Veränderung hatten, sondern ganz im Gegenteil ein Aufbrechen der sehr klaren und einschränkenden Vorstellungen vom „guten“ oder „richtigen“ Leben erkämpfen wollten. Die sich häufenden Demonstrationen richteten sich gegen die Stellvertreterkriege und die Unterstützung autoritärer Regime durch die westlichen Demokratien (289ff.). Insbesondere in Deutschland und Italien stellten sie jedoch viel mehr einen Bruch der jüngeren Generation mit den Relikten des Faschismus dar. Politik sollte laut theoretisierenden Praktikern wie Daniel Cohn-Bendit oder Rudi Dutschke auch außerhalb der etablierten Institutionen und Körperschaften des liberalen Staates stattfinden oder der Staat, der in linken Kreisen weithin als totalitäres Element verstanden wurde, gleich ganz abgeschafft werden. Gruppen wie die deutsche RAF und die italienischen Roten Brigaden attackierten den Staat oder das, was sie als Staat identifizierten (325ff.). Neben den bereits genannten Anführern der Studentenbewegung bezieht der Autor in seiner Diskussion der 1960er und 1970er Jahre auch die Ideologen und Ideengeber der linken terroristischen Vereinigungen mit ein (327) und elaboriert darüber hinaus die Rolle von Philosophen wie Herbert Marcuse (313ff.) oder Johannes Agnoli (309ff.).

Hervorragend an Müllers Auseinandersetzung mit dieser Phase europäischer Geschichte ist, dass er nicht nur auf die Studentenproteste in Deutschland, Frankreich oder Italien eingeht, sondern aufzeigt, dass dieses Phänomen nicht allein charakteristisch für den Kampf um Demokratie in Westeuropa war. Der Prager Frühling ist ein eigentlich zu oft gebrauchtes Beispiel, um Prozesse gesellschaftlichen Wandels in Mittel- und Osteuropa zu verstehen, doch bei Müller wird durch die Kontrastierung deutlich, dass die 1960er und 1970er Jahre auf beiden Seiten der Mauer entscheidend für die heute deutlichen Unterschiede in der Praxis demokratischer Politik im vereinigten Europa sind. Wenn der Prager Frühling „der letzte große Versuch [war], den Sozialismus sowjetischer Prägung von innen zu reformieren“ (279), dann waren die Studentenproteste in Westeuropa eine Prüfung der Demokratie – vor allem mit Blick auf die Frage, wie viel Dissens Politik und Gesellschaft auszuhalten bereit waren – und der Nährboden für eine sich kontinuierlich von innen demokratisierende Gesellschaft. Die Frauen- und Umweltbewegung (355ff.) werden hier nachvollziehbar als Folge der Studentenproteste dargestellt, und Jürgen Habermas richtigerweise als der Theoretiker der Demokratie des späten 20. Jahrhunderts ausgewiesen. Denn seine Theorie deliberativer Demokratie (Habermas 1998) macht politische Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft zu zentralen Kategorien demokratischer Politik. Auch in Osteuropa waren am „Ende der Geschichte“ (Fukuyama 1989) zivilgesellschaftliche Gruppen wie die polnische Gewerkschaftsbewegung Solidarność oder Bürgerrechtler wie der tschechische Dissident Vácval Havel die entscheidenden Akteure des Wandels (382ff.), denn sie reagierten demokratisch auf die Systeminstabilität und erzwangen somit die Transformation.

Jan-Werner Müller beschließt sein Buch mit einer prägnanten Beschreibung der aktuellen Herausforderungen für die Demokratie: „Es ist […] Aufgabe des politischen Philosophen, zu sagen, daß kein einziger leitender Gedanke oder Wert – ob Stabilität oder Autonomie oder sonst etwas – den europäischen Demokratien zur Gewißheit über ihre Zukunft verhelfen wird.“ (407) Die Demokratie, so möchten wir heute gern glauben, ist in Europa als Siegerin aus dem Kampf um Hegemonie hervorgegangen. Da der Kontinent allerdings erst nach und nach demokratisiert wurde und erst die dritte Demokratisierungswelle (Huntington 1991) nach 1989 Europa auch quantitativ demokratisch gemacht hat, kann das 20. Jahrhundert nur aus zweierlei Gründen als „Zeitalter der Demokratie“ gelten: weil um und gegen die Demokratie gekämpft wurde, und weil Demokratie schließlich zu Beginn des 21. Jahrhunderts das dominante Organisationsmodell westlich-europäischer Gesellschaften darstellt. Der englische Originaltitel von Müllers Buch, Contesting Democracy. Political Ideas in Twentieth Century Europe, ist in dieser Beziehung eindeutiger. Denn Müller will nicht zeigen, dass Europa im 20. Jahrhundert die Demokratie entdeckte oder diese Europa. Er verweist vielmehr darauf, dass – obschon der Kontinent heute weitestgehend demokratisiert ist – die liberale Demokratie nicht der „natürliche Sollzustand Europas oder des Westens insgesamt“ (16) war oder ist. Demokratie hat keinesfalls endlich und für alle Zeit in Europa Einzug gehalten. Weil Demokratie nicht eigentlich Stabilität garantiert, sondern immer von einer gewissen Unsicherheit geprägt ist, wird sie auch in Zukunft in Frage gestellt und herausgefordert werden. Die Geschichte des Kampfes um Demokratie, das hat nicht zuletzt die Finanzkrise gezeigt, ist auch im 21. Jahrhundert nicht abgeschlossen; nur wandeln sich die Herausforderungen.

Für zeitgenössische Arbeiten zur demokratischen Politik kann dieses Buch einen ideengeschichtlich fundierten Ausgangspunkt darstellen. Es diskutiert die markantesten politischen Experimente des 20. Jahrhunderts sowie deren Ideengeber und Ideologen. Hervorzuheben ist vor allem, dass Müller nicht allein den „vermeintlichen“ Einfluss philosophischer Texte auf den Gang der Geschichte nachzeichnet. Damit gelingt ihm, was politischer Theorie oft abgeht: nämlich eine Brücke zwischen politischem Denken und Handeln zu schlagen. Müller sucht eine ganze Reihe prominenter und weniger prominenter Theoretiker_innen und theorisierender Praktiker_innen auf und versucht ihren Einfluss auf und ihr Bild von der sich wandelnde(n) europäischen Gesellschaft nachzuzeichnen. Er interessiert sich für „folgenreiche Theorien, also solche, die die politische Praxis beeinflusst haben“ (9).

Der Anspruch, die politische Entwicklung eines ganzen Kontinentes über einen Zeitraum von mehr als 100 Jahren nachzuzeichnen, ist natürlich gewagt. In dem Buch wird sich daher bestimmt einiges finden lassen, wogegen allzu detailversessene Leser_innen Einspruch erheben mögen. Es sollte aber nicht vergessen werden, dass der Mehrwert „großer“ Fragen und „mutiger“ Thesen darin besteht, den größeren Zusammenhang nachvollziehen zu können. Die hier vom Autor rekonstruierte Identität der Demokratie fällt gänzlich anders aus als beispielsweise das auf tönernen Füßen stehende Ideal des post-demokratischen Paradigmas (Crouch 2004). Theorien der Postdemokratie suggerieren die Existenz eines sozialdemokratischen Idealzustands europäischer Demokratie und behaupten, dass einzig die Rückkehr zu diesem Zustand gesellschaftlicher Organisation die Probleme des neoliberalen Zeitalters bewältigen könne. Müller zeigt schon zu Beginn seines Buchs, dass dieses Ideal eine historisch haltlose Konstruktion darstellt. Hier heißt es:

Die vorliegende Darstellung bezweifelt, daß es in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg jemals ein goldenes Zeitalter der Demokratie und insbesondere der Sozialdemokratie gab. Im Gegenteil, abgesehen von Großbritannien – und Skandinavien, einem Spezialfall […] – war die westeuropäische Nachkriegsordnung das Werk gemäßigt konservativer, vor allem christdemokratischer Kräfte. Müsste man eine einzig ideelle und parteipolitische Bewegung benennen, die jene politische Welt geschaffen hat, in der die Europäer heute immer noch leben, dann wäre dies die Christdemokratie. (14)

Dass die Christdemokratie das prägende Modell europäischer Demokratie darstellt, wird in einer Vielzahl von Besprechungen des Werkes hervorgehoben. Zweifelsohne ist diese These interessant, doch sollte das Buch nicht darauf reduziert werden. Man könnte sogar argumentieren, dass Müller hier einem Unilateralismus folgt, den seine Argumentation eigentlich nicht braucht. Denn zunächst ist es unerheblich, ob christdemokratische, sozialdemokratische oder klassisch liberale Bewegungen die europäische Demokratie gemacht haben. Denn die profundeste Schlussfolgerung dieses Werks ist, dass die zeitgenössische europäische Demokratie auf der nationalstaatlichen wie auf der supranationalen Ebene das Ergebnis eines von Kampf und Auseinandersetzung geprägten Jahrhunderts darstellt, und dass die Demokratie weiter umkämpft bleiben wird.

Literatur

Crouch, Colin. Post-democracy. Malden, MA: Polity, 2004.

Fukuyama, Francis. „The End of History?” National Interest 16 (1989), 3–18.

Hirschl, Ran. „The Judicialization of Politics.“ In The Oxford Handbook of Law and Politics, hg. von Gregory A. Caldeira, R. Daniel Kelemen, und Keith E. Whittington. Oxford: Oxford University Press, 2008.

Huntington, Samuel P. The Third Wave. Democratization in the Late 20th Century. Norman: University of Oklahoma Press, 1991.

Kelsen, Hans. Wer soll Hüter der Verfassung sein? Abhandlungen zur Theorie der Verfassungsgerichtsbarkeit in der pluralistischen, parlamentarischen Demokratie. Tübingen: Mohr Siebeck, 2008.

Marx, Karl. „Thesen über Feuerbach.“ In Philosophische und ökonomische Schriften, 46–49. Stuttgart: Reclam, 2008.

Weber, Max. Politik als Beruf. Stuttgart: Reclam, 1992.

Weber, Max. „Die legale Herrschaft mit bürokratischem Verwaltungsstab.“ In Wirtschaft und Gesellschaft, 160–167. Frankfurt a.M.: Verlag Zweitausendeins, 2008.

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