Artikel als PDF herunterladen

Zeitschrift für philosophische Literatur 2. 1 (2014), 67–74

Majer, René: Scham, Schuld und Anerkennung. Zur Fragwürdigkeit moralischer Gefühle. Berlin/Boston: De Gruyter 2013. 122 Seiten. [ISBN 978-3-11-029786-7]

Rezensiert von Alexander Fischer (Universität Bamberg)

Am Schluss von Kafkas Roman „Der Proceß“ heißt es in tiefgreifender Manier: „Es war, als sollte die Scham ihn überleben.“ Doch erst seit uns das Werk durch Malcolm Pasley in der Fassung der letzten Handschrift zugänglich ist, lässt sich nachvollziehen, wie sehr Kafka um den letzten Satz, den Kulminationspunkt allen Schamgefühls des Protagonisten, gerungen hat: „Sein letztes Lebensgefühl war Scham“, hieß es zuerst. Dann: „Bis ins letzte Sterben blieb ihm die Scham nicht erspart.“ Nicht nur legt der Text dem Leser performativ dar, wie undurchsichtig das Dickicht von Scham- und (ebenfalls ein Leitmotiv) Schuldgefühlen scheint. Auch kann der Leser an den Variationen des Schlusssatzes die Schwierigkeiten im Akt der Pointierung dieser Gefühle erspüren.

Kafkas Text, wenngleich nicht als Beispiel von René Majer selbst genutzt, eignet sich dafür, die Verworrenheit von Schuld- und Schamgefühlen zu illustrieren und Majers Perspektive zu verdeutlichen. Majers – erfreulich konzise – Dissertation wagt sich in das von Kafka illustrierte Dickicht hinein und verspricht etwas mehr Licht in die mitunter sprichwörtlich kafkaesk scheinenden Verhältnisse von Scham und Schuld zu bringen. Der Text widmet sich also zweien der wichtigsten miteinander in Verwandtschaft stehenden moralischen Gefühlen, deren Präsenz in unserem Gefühlsleben alltäglich ist. Allerdings spricht Majer weniger von Emotionen, als vielmehr von Urteilen und Werturteilen, nämlich solchen, die sich eine Person mit Scham- oder Schuldgefühlen zu eigen macht, wenn sie sich mit ihnen identifiziert. Der Autor legt hier eine neue und aktuelle Analyse von Scham- und Schuldgefühlen vor, die sich durch ihren Fokus auf die Sorge eines Anerkennungsverlustes als Kernelement von gefühlter Scham und Schuld auszeichnet: „Es geht darum, jene Wertschätzung zu beschreiben, deren Entzug jemand fürchtet, deren Entzug er für berechtigt hält, oder die für ihn ihren Wert verliert, wenn er sich schämt oder schuldig fühlt“ (29).

Majer erarbeitet einen Anerkennungsbegriff anhand der Geste des Kompliments (Kap. 1) und der normalen Antwort darauf – dem Dank. Über die Zusammenhänge von Anerkennung (Kap. 2), dem Streben danach und der benötigten Selbstachtung (Kap. 3 und 4) erfolgt anschließend die Verknüpfung mit Scham- und Schuldgefühlen (Kap. 5 und 6). Zuletzt, vor dem nur teilweise resümierenden Schlusskapitel, wird nach deren Fragwürdigkeit als moralische Gefühle gefragt (Kap. 7).

Anerkennung: Über den Präzedenzfall des Kompliments zur Wesensbestimmung

Eine sorgfältige Analyse der Geste des Kompliments erscheint dem Autor, auch in Anlehnung an Jon Elster, als Möglichkeit, einen Anerkennungsbegriff zu konstruieren, der fest in unsere moralische Praxis verwoben ist. Die Nutzung des Terminus’ ist in der Philosophie uneinheitlich, denn meist fehlt eine Abgrenzung zu anderen Ausdrücken für Wertschätzung. Majer versucht hier eine Schneise in den Dschungel zu schlagen: Was also sind die wichtigsten Merkmale seines Anerkennungsbegriffs? Vorausgesetzt wird, dass unser Streben nach dieser bestimmten Form der Anerkennung insbesondere für unsere Handlungsmotivation zentral ist. Damit ist verknüpft, dass wir ohne die Wertschätzung eines anerkennenden Kompliments auch keine Disposition zu Scham- und Schuldgefühlen aufweisen würden.

Anerkennung bedeutet für Majer also nicht bloß eine Meinungsäußerung seitens des Anerkennenden, sondern vor allem eine Würdigung von bestimmten Handlungen oder Fähigkeiten durch einen gewissermaßen selbstlosen Anerkennenden. Dieser selbstlose Anerkennende schätzt sein Gegenüber, ist ihm altruistisch und wohlwollend zugeneigt. Die Anerkennung muss zudem wahrhaftig, am richtigen Platz und im richtigen Maß sein – sonst bleibt sie leer und enthüllt eine unglaubwürdige Selbstpräsentation des Anerkennenden. Ein Anerkennender geht laut Majer mit seinem Kompliment davon aus, dass seine Wertschätzung gewürdigt wird, dass ein Wort des Dankes wiederum die Anerkennung des Anerkennenden anerkennt. Damit wird meist nicht der Inhalt des Komplimentes berührt, vielmehr provoziert der bloße Akt der Anerkennung eine ähnliche Reaktion: wiederum eine Wertschätzung des Anderen. Hierdurch wird der soziale Charakter von Anerkennungsbeziehungen deutlich, als deren wichtigste Merkmale Zustimmung, Wohlwollen, Gegenseitigkeit und sozialisierte Selbstbezogenheit bestimmt werden. Majer geht hier mit einem grundsätzlichen philosophischen Anerkennungsbegriff seit der antiken Ethik konform, bei dem die anerkannte Leistung als solche nicht nur zur Selbstwertschätzung dient, sondern auch die unparteiische Fremdwertschätzung maßgeblich ist – jedoch erweitert er die Rolle des Anerkennenden, der durch Dank ebenfalls anerkannt wird und damit auch wieder auf seine eigene Selbstbezogenheit zurückgeworfen wird. So kann es, in Kontrast zu anderen, einseitigeren Formen der Wertschätzung, sogar zu „vollendeter Anerkennung“ (43) kommen, die über das Wechselseitigkeitsverhältnis im Rahmen eines Kompliments hinausgeht: Beide Beteiligten finden sich dann „in ihren Fähigkeiten, Leistungen und Rechten im Anderen wieder […]“ (43). Jedoch verweist Majer nur darauf, dass diese vollendeten Anerkennungsbeziehungen möglich seien – als Arbeitsdefinition greift er jedoch auf den im Rahmen der Besprechung des Kompliments gefundenen, weiter gefassten Anerkennungsbegriff zurück.

Eine Anerkennungsbeziehung besteht bisher also aus einem reziproken wertschätzenden Akt zweier sich wechselseitig respektierender Akteure. Die Anerkennung eines Leistungserbringers geschieht altruistisch durch den Anerkennenden, der in der Regel eine positive Rückmeldung des Anerkannten erhält. Um nun deutlicher machen zu können, wie Scham und Schuld mit Anerkennung verzahnt sind, muss Majer explizieren, welche Rolle Selbstachtung in Anerkennungsbeziehungen spielt. Selbstachtung ist nach Majer ein „hypothetisches Selbstverhältnis“ (52), nach dem man sein Leben in einer Art führt, die Anerkennung eines Anderen verdienen würde. Welches Verhalten anderer einer Person gegenüber als angemessen eingeschätzt wird, ist so an Selbstachtung geknüpft. Achtung und Respekt, so Majer, sind zwar verdient, reichen hierfür aber nicht aus: „Selbstachtung bedeutet darüber hinaus, zu wissen, dass die eigene Wertschätzung etwas wert ist – und zwar auch dort, wo andere so tun, als sei dies nicht der Fall“ (53). Selbstachtung erfordert daher eine persönliche Autorität, derer man sich bewusst ist – und diese Autorität wird in erster Linie in Anerkennungsbeziehungen erfahren. Anerkennung ist also mit Selbstachtung eng verknüpft, und letztere ist als Voraussetzung des reziproken Verhältnisses von Anerkennungsbeziehungen zu lesen: „Weil man andere immer schätzt, insofern sie diese Wertschätzung erwidern, schätzt man sich selber, indem man andere anerkennt“ (60).

Majer findet so in der ersten Hälfte seines Buches in der Auseinandersetzung mit Autoren wie Taylor, Hegel, Elster, Calhoun, Honneth oder Margalit eine brauchbare Definition für die noch anstehende Analyse der Scham- und Schuldgefühle – ein Zurückverfolgen der Diskussion bis zu Kant und Rousseau unterbleibt, vielleicht auch, weil behauptet werden könnte, dass in der älteren Diskussion der Faktor der zwischenmenschlichen Interaktion unterbeleuchtet blieb. Gerade durch die Betonung des reziproken Charakters der Anerkennungsbeziehung und die bewusste ‚Weite‘ des Begriffes eröffnet sich die Möglichkeit, mehrere in der Diskussion kursierende Scham- und Schuldvorstellungen als Anerkennungsverhältnisse zu verstehen.

Die Verzahnung von Scham, Schuld und Anerkennung

Scham und Schuld sind mit der skizzierten Anerkennungstheorie, die als Probierstein für die nähere Bestimmung der anvisierten Gefühle gelten kann, nun in unterschiedlicher Art und Weise verbunden. Klar ist: Anerkennung ist Thema beider Gefühle; Scham und Schuld sind Ausdruck von problematisierten Anerkennungsverhältnissen und so nicht ohne diese zu denken. Ohne Wertschätzung für zwischenmenschliche Anerkennung besäßen wir, so Majer, auch keine Disposition zu Scham- und Schuldgefühlen. Wie die Dreieckskonstellation von Scham, Schuld und Anerkennung nun zu denken ist, wird, in der Auseinandersetzung mit Autoren wie Bernard Williams, Hilge Landweer, Jean-Paul Sartre, Max Scheler u.a. in der zweiten Hälfte des Textes erörtert.

Schon Aristoteles spricht von Scham als „Schmerz und Beunruhigung über diejenigen Übel, die einem ein schlechtes Ansehen einzubringen scheinen“ (Rhetorik II 6). Ohne Aristoteles zu erwähnen, geht Majer in eine ähnliche Richtung: Scham ist für ihn die Erfahrung eines Autoritätsverlustes oder zumindest der Sorge über einen möglichen Autoritätsverlust, denn „[w]er sich schämt, muss befürchten, dass die eigene Anerkennung für andere Personen an Wert verliert – und dass diese damit auch jede Scheu vor der eigenen Person ablegen“ (66). Hier wird wiederum die Rolle der Selbstachtung in Majers Anerkennungsbegriff deutlich, denn eine Person sorgt sich auch darum, dass sie es nicht mehr verdient hat, ernst genommen zu werden.

Im Verlauf des Kapitels wird deutlich, inwiefern sich diese Definition des Schamgefühls von anderen unterscheidet. Sie hat nämlich zur Folge, dass sich konkret-situationsbedingte und kontextuell unabhängige Schamgefühle hierunter vereinen lassen:

[…] es [ist] vor allem der Begriff der Anerkennung, der unserer Rede über Schamgefühle ihre Kohärenz verleiht, ohne deswegen die vielfältigen Unterschiede zu verwischen. Es geht bei Scham immer um die eigene Autorität, also um den Wert der eigenen Anerkennung. Nur geht es bei verschiedenen Schamgefühlen um jeweils unterschiedliche Arten von Anerkennung und damit auch um unterschiedliche Formen von Autorität. (67-68)

In Abgrenzung zu Gabriele Taylor, die nicht erklären kann, wie Scham von anderen selbstkritischen Einstellungen unterschieden ist, und Cheshire Calhoun, bei der offen bleibt, wie Scham von bloßer Enttäuschung über verweigerte Anerkennung zu differenzieren ist, präzisiert Majer seine Definition. Denn erklärendes Bindeglied ist für ihn der Bezug auf andere Personen, der sich so bei anderen Gefühlen nicht zwingend findet. Scham ist somit als ein gewissermaßen egozentrisches Gefühl etabliert, sorgt sich doch eine Person, die sich schämt, vornehmlich um die eigene Autorität – beispielsweise unter dem von Jean-Paul Sartre beschriebenen objektivierenden Blicks eines anwesenden, angenommenen oder auch nur vorgestellten Anderen. Zwar fehlt Sartre eine Anerkennungstheorie, doch findet sich bei ihm ein für Majer wichtiger Kerngedanke: Der sich Schämende erfährt die Wirkungslosigkeit seines eigenen Blicks, und dies sei eben, so Majer, am ehesten als Verlust von Autorität zu verstehen (82).

Nachdem er die Verbindung von Scham und Anerkennung erarbeitet hat, wendet sich Majer der Schuld zu: Schuld ist, so wird entlang der landläufigen Annahme festgestellt, mit der Scham wesensverwandt, sozusagen verschwistert. Wer sich schämt, sorgt sich um den Verlust von Wertschätzung oder meint, sie nicht mehr verdient zu haben. Schuldig fühlt sich eine Person nach Majer dann, wenn der „Umschlag guten Willens in Aversion“ (91) stattfindet oder zumindest zu befürchten ist. Gefürchtet werden Groll und Enttäuschung des Anderen. Ist Scham intuitiv eher als selbstbezogen zu verstehen, involviert Schuld stärker andere – beide verbindet jedoch die Anerkennungsproblematik, die nur jeweils unterschiedlich im Vordergrund steht. Im Falle von Schuld gibt es neben der eigentlichen Sorge um den Anerkennungsverlust die „Autorität des Reumütigen“ (103). Diese ist die letzte verbliebene und zugleich der erste Schritt zur Wiedererlangung der vorigen Autorität. Hieraus schließt Majer, dass der schuldigen Person etwas an Anerkennungsbeziehungen liegt – so bekommen viele unserer mit Schuld verbundenen Praktiken Sinn.

Durch die Einpassung von Scham und Schuld in den vorher etablierten Rahmen von Anerkennungsbeziehungen gelingt es Majer eine konsistente und vielerlei Situationen integrierende Definition der jeweiligen Gefühle zu bilden. Tatsächlich bietet die Betrachtung von Scham- und Schuldgefühlen in Verbindung mit Anerkennung eine erweiterte Sichtweise, die es beispielsweise ermöglicht, Scham von Schuld, Selbstzerknirschung, Frustration oder bloßer Enttäuschung abzugrenzen. Dass hier lediglich ein weiterer Baustein zum Verstehen von Scham- und Schuldgefühlen geliefert wurde, ist dem Autor bewusst. So ließen sich einzelne Beispiele anders lesen, es ließe sich am Anspruch, eben nur einen Baustein zu liefern, Anstoß nehmen, es ließe sich die kulturell begrenzte Perspektive angreifen, genauso wie sich natürlich die Plausibilität der Anerkennungskonstruktion in Frage stellen ließe – jedoch gelingt es Majer, der sein Vorgehen durch die gesamte Arbeit hindurch auf hohem Reflexionsniveau gewissermaßen selbst begleitet, seinem eigenen Anspruch, nämlich ein zusätzliches Erklärungsangebot für die Dynamik von Scham- und Schuldgefühlen zu bieten, durchaus – auf Höhe der gegenwärtigen Debatte – gerecht zu werden.

Fragwürdige moralische Gefühle oder fragwürdiger Untertitel?

Jedoch wird derjenige Leser stutzig, der noch den Untertitel der Arbeit im Ohr hat: „Zur Fragwürdigkeit moralischer Gefühle“. Dass genau diese Fragestellung verhältnismäßig kurz kommt, lässt fragen, ob er wirklich den Status eines Untertitel gebenden Arbeitsteils beanspruchen kann.

Majer hebt in seinem letzten inhaltlichen Kapitel (vor dem lediglich das Schamkapitel zusammenfassenden Schluss) zu einem Versuch der Rehabilitation von Scham- und Schuldgefühlen (die keine allzu gute Reputation genießen würden – sind sie doch vermeintlich mit Makeln, Versagen oder Unwohlgefühl assoziiert) an, widerspricht jedoch zunächst der Annahme, dass Scham- und Schuldgefühle uns immer motivieren müssten, denn dies impliziere, dass bei allen Handlungen eine Angst vor dem Versagen akut sei. Eine dominierende Rolle sollten diese beiden in der Motivation einer Person nicht spielen, und auch ein Vergleich zwischen ihnen ist in diesem Motivations-Kontext eher irreführend:

Das Szenario, in dem man Scham- und Schuldgefühle miteinander vergleichen kann und soll, ist viel einfacher: Jemand hat einen Fehler gemacht, er hat sich, zum Beispiel, grausam verhalten. Er könnte jetzt sowohl mit Scham- als auch mit Schuldgefühlen reagieren. Welches von beidem sollte man ihm wünschen? Welche Reaktion soll er kultivieren? (107-108)

Hierfür eignet sich nach Majer, in Anlehnung an Bernard Williams (und im Einklang mit dem Tenor der aktuelleren Diskussion), Scham als Grundlage zum kritischen Denken über die eigene Persönlichkeit und das eigene moralische Verhalten, gerade weil sie weder Einverständnis mit der Verachtung durch einen Anderen noch Verachtung der eigenen Person impliziert, da Scham durch das Bewusstsein bestimmt wird, „dass andere das Verhalten oder die Person beim besten Willen nicht anerkennen können“ (11). Mit Max Scheler, der Scham das Gefühl des Selbstschutzes nennt, ist der Sachverhalt, so Majer, vielleicht am besten bezeichnet.

Für Schuldgefühle, die ein wesentlicher Teil unserer moralischen Praxis sind, gilt das Gleiche wie für Scham: Gegenüber manchen Anteilen dieser Gefühle (es bleibt allerdings unklar, welchen) ist Skepsis durchaus angebracht, jedoch nicht allen. Schuldgefühle „enthalten das Bewusstsein, dass Vergeltung oder zumindest Groll angemessen sind“ (111). Ein Gegenüber beendet dann in der Regel die Bereitschaft zur gegenseitigen Anerkennung. Um diesen Umstand zu verändern, muss er von der Schuldigen versöhnt werden. Insbesondere die selbstquälerisch wirkende Annahme, dass Groll gegen die eigene Person angemessen ist, löst Unbehagen gegenüber Schuldgefühlen aus. Diesem versucht Majer relativierend entgegenzutreten, vor allem indem er Schuldgefühle von selbstzerstörerischen Tendenzen (z.B. ist die Tatsache, dass Strafe verdient ist, keine Bedingung dafür, dass man sie sich wünscht) abgrenzt oder erklärt, dass Schuldgefühle ein guter Indikator dafür sind, dass eine Anerkennungsbeziehung schief läuft. Auch werden Reaktionen wie Groll oder Vergeltung nicht dadurch verharmlost, dass Schuldgefühle für grundsätzlich angemessen gehalten werden.

Schluss

„Sie haben einen Proceß nicht wahr?“ K. trat zurück und rief sofort: „Das hat Ihnen der Direktor-Stellvertreter gesagt.“ „Ach nein“, sagte der Fabrikant, „woher sollte denn der Stellvertreter es wissen?“ […] „So viele Leute sind mit dem Gericht in Verbindung!“ sagte K. mit gesenktem Kopf […] (Kafka 2006).

Kafkas Roman lässt sich mit Majers Theoriebaustein von Scham- und Schuldgefühlen als Kampf des Protagonisten um Anerkennung lesen. Die zitierte Szene mit dem Fabrikanten zeigt Josef K. erschrocken und mit gesenktem Kopf – beschämt und in Sorge vor einer veränderten Anerkennungsbeziehung durch den Makel des Prozesses. Ob K. schuldig ist oder nicht bleibt durch den Roman hindurch dunkel. Es scheint jedoch plausibel zu sein, dass gerade die Momente, in denen K. zumindest ein Gefühl der Schuld anhaftet, auch vor dem Hintergrund des spürbaren und im großen Stile drohenden Autoritätsverlustes zu verstehen sind. Kafkas Proceß ist so auch eine Meditation über Schuld- und Schamzustände und ein Zeugnis des vergeblichen Kampfes seines Protagonisten um Anerkennung in den unergründlichen Gegebenheiten, nicht nur vor einem ihm unbekannten Gesetz, sondern auch gegenüber den ihn umgebenden Menschen. Josef K. schwankt im Dunkel der Schuldverhältnisse, mitunter beschämt, mitunter hochmütig und auch verzweifelt, weil er sich nie sicher sein kann, wie die anderen Individuen zu ihm stehen – in welchem Anerkennungsverhältnis sich die Figuren untereinander befinden. Nehmen wir Kafkas Roman als Anwendungsfolie wird deutlich: Majers stringent gestaltete und konzise Arbeit ermöglicht eine solche Interpretation und arbeitet so einem wachsenden philosophischen Verständnis der uns alltäglich begleitenden Gefühle von Scham und Schuld weiter zu.


Literatur

Kafka, Franz. Der Proceß. Roman in der Fassung der Handschrift. Hg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2006.

© 2014 Zeitschrift für philosophische Literatur, ISSN 2198-0209, lizenziert unter CC-BY-ND-3.0-DE