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Zeitschrift für philosophische Literatur 2. 1 (2014), 62–66

Lotter, Maria-Sibylla: Scham, Schuld, Verantwortung. Über die kulturellen Grundlagen der Moral. Berlin: Suhrkamp 2012. 344 Seiten. [ISBN 978-3-518-29616-5]

Rezensiert von Marietta Mayrhofer-Deak (Universität Wien)

Die abendländische Moralphilosophie beschäftigt sich seit ihren Anfängen mit der Frage, was eine Person als moralisches Wesen ausmacht, über welche moralische Grundausstattung sie verfügen muss und mit welchen Maßstäben sie den Unterschied zwischen Richtig und Falsch, Gut und Schlecht bemisst. Der Begriff der „moralischen Person“ bezeichnet dabei nach traditionellem Verständnis ein Wesen, das aufgrund seiner naturgegebenen Rationalität und Urteilskraft dazu befähigt ist, allgemeine moralische Prinzipien zu erkennen und praktisch anzuwenden (10). Ob das Wesentliche an moralischen Personen jedoch verstanden werden kann, ohne sie in ihren sozialen Lebensbezügen zu betrachten, wurde bisher nicht umfassend untersucht. Maria-Sibylla Lotter versucht, diese Lücke zu schließen, indem sie die traditionellen Fragestellungen der europäischen Moralphilosophie mit der Alltagspraxis, der Rechtspraxis und empirischen Ergebnissen der Kultur- und Sozialwissenschaften konfrontiert (25).

Drei Fragen bilden den roten Faden des Buches: Was macht aus Menschen moralische Personen? Wie entstehen die spezifischen Verhältnisse, in denen Phänomene wie Schuld, Scham, Verantwortung und Respekt auftreten? Und warum fühlen „wir“ uns oft so fremd in „unserem“ Selbstverständnis – warum ist es so schwierig, „unsere“ eigenen Verhältnisse mit „unseren“ moralischen Begriffen und philosophischen Theorien zu verstehen? „Wir“, das sind für Lotter zunächst jene Menschen, von denen der Moralphilosoph bzw. die Moralphilosophin glaube oder meine, erwarten zu dürfen, dass sie seine bzw. ihre Intuitionen teilen (10). Lotter versucht diese Wir-Sie-Kategorisierung mithilfe eines Zitates des Ethnologen Clifford Geertz aufzubrechen (32):

Es ist nicht so, dass sich die soziale Welt an ihren Verbindungsstellen in transparente ‚Wir’ aufteilt, in die wir uns hineinfühlen können, wie sehr wir auch mit ihnen uneinig sind, und in rätselhafte ‚Sie’, mit denen dies unmöglich ist, auch wenn wir unerbittlich ihr Recht verteidigen, sich von uns zu unterscheiden.

Ihr Vorhaben bezeichnet die Autorin als ein „intellektuelles Experiment“, denn sie unternimmt den Versuch, „die soziale Praxis“ in Form von Beispielen aus der Ethnologie, den Altertumswissenschaften, dem Recht und der Rechtstheorie in die philosophischen Überlegungen einzubeziehen. Dabei dienen ihr empirische Beispiele nicht nur zur Illustration von Überlegungen, sondern auch dazu, „die Ausschnitte der Wirklichkeit abzustecken, auf welche die Beschreibung anwendbar ist“ (25, 26).

Lotters Arbeit ist in neun Kapitel untergliedert, wobei am Beginn der inhaltlichen Auseinandersetzung ein Kapitel über die „Quellen der Moral“ steht (44). Insbesondere unterscheidet die Autorin in diesem Abschnitt „externe“ (fremdbezogene) und „interne“ (selbstbezogene) Quellen der Moral. Eine selbstbezogene Quelle der moralischen Inspiration ist insbesondere die Bejahung eines wertvollen Aspektes, den man mit sich selbst verbindet. Moralisch handeln Menschen folglich nicht nur aus eigenem Interesse und um soziale Sanktionen zu vermeiden, sondern auch aus Selbstachtung, wobei sich das, was die Selbstachtung von einer Person verlangt, nicht aus universellen moralischen Prinzipien, sondern aus ihrem Selbstverständnis ergibt (54).

Dieses Selbstverständnis wählt man gewöhnlich nicht aus Gründen, vielmehr wächst man im sozialen Kontext in das individuelle Selbstverständnis hinein. Der Autorin geht es darum zu zeigen, dass nicht erst unser moralisches Selbstverständnis, sondern schon unser Status als Personen und damit verbunden unsere Konzeption von Ansprechbarkeit und Verantwortlichkeit wesentlich durch den gesellschaftlichen Kontext bestimmt werden – ein Ansatz, der Sozialwissenschaftler_innen und insbesondere Vertreter_innen sozialkonstruktivistischer Ansätze zwar nicht fremd ist, in Philosophie und Soziologie jedoch bisher kaum kulturenübergreifenden Studien zu Grunde gelegt wurde (ähnlich etwa Berger/Luckmann 2012, 54).

Weshalb ist es sinnvoll, den Blick auf unterschiedliche Kulturen zu richten, wenn man danach trachtet, die Konstruktion des menschlichen Selbstverständnisses zu verstehen? Die Autorin erklärt zunächst, dass der Konstruktion des menschlichen Selbstverständnisses die Konstruktion der Persönlichkeit zu Grunde liegt. In den verschiedenen Kulturen gibt es unterschiedliche Personenauffassungen, daher ist es schlicht unmöglich, von einem allgemeinen Begriff der Person auszugehen. Die weitverbreitete Annahme, der Gedanke der Person als einem individuellen „Selbst“, das moralischen Wert besitzt, habe sich erst in „unseren“ – den westlichen – Zivilisationen herausgebildet (Mauss 1938), wird von der Autorin unter Hinweis auf die Ergebnisse empirischer Forschungen widerlegt. Heute stehe fest, dass „auch nichtchristliche Kulturen (...) im Verlaufe der Geschichte zuweilen ein weites Spektrum von extrem sozialen bis extrem individualistischen Personenauffassungen“ entwickelt hätten. So habe es zum Beispiel in China unterschiedliche und auch individualistische Konzeptionen des Selbst gegeben (17).

Den Kern der Frage, weshalb eine kulturenübergreifende bzw. ­vergleichende Perspektive in der Moralphilosophie notwendig ist, trifft Lotter jedoch an anderer Stelle. Sie macht deutlich, dass die westliche Entwicklung (der Moral) nicht schon per definitionem als anderen kulturellen Entwicklungen überlegen erachtet werden kann. Höchstwahrscheinlich ist die Annahme, die westliche Entwicklung entspreche einer fortgeschrittenen Stufe in einem universellen Modell, ein „ethnozentristischer Fehlschluss“ (vgl. 18, 318), umfassend wissenschaftlich untersucht und erwiesen ist dieses Urteil jedenfalls nicht. Welche Bedeutung ethnozentrische Vorurteile in moralphilosophischen Konzeptionen haben und hatten, muss erst einer tiefergehenden Analyse unterzogen werden. Bedauernswert ist in diesem Zusammenhang, dass trotz der erfrischenden Weltoffenheit der Autorin im Untertitel des Werkes – „Über die kulturellen Grundlagen der Moral“ – auf eine regionale Spezifizierung verzichtet wurde, obwohl (oder weil?) die spezifisch europäisch-westliche Entwicklung im Mittelpunkt von Lotters Auseinandersetzung steht.

Positiv fällt auf, dass die von der Autorin ausgewählten Beispiele eine große Bandbreite an „philosophischen“ Traditionen abbilden. So wird etwa ein Einzelfall aus dem buddhistischen Tibet (146ff.) ebenso zitiert wie ein Exempel aus dem alten Ägypten (195ff.). Als Nachteil dieser Herangehensweise entpuppt sich allerdings der recht fragmentarische Charakter der Ausführungen zu „anderen“ Kulturen. Der Intention der Autorin zufolge sollen diese Ausführungen vorrangig dem besseren Verständnis der Besonderheiten der „christlich-gnostischen Geistesgeschichte“ (18) dienen. Aus sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive scheint es dennoch bedauernswert, dass die verschiedenen zitierten kulturellen Traditionen nicht tiefgehend für sich behandelt werden, da dies einem Verständnis der historisch-sozialen Einbettung und Herausbildung unterschiedlicher Personenauffassungen bzw. Konzeptionen von Verantwortlichkeit hätte dienlich sein können.

Ähnlich wie im parallel erschienen Buch des französischen Philosophen und Sinologen François Jullien L‘Écart et l’autre (Jullien 2012) wird in Lotters Arbeit deutlich gemacht, dass die gedankliche Loslösung des Individuums von der Sozialwelt in Europa in Zusammenhang mit dem Theismus, präziser: mit der Einführung des Gewissens im Sinne einer subjektiven Ansprechbarkeit durch Gott steht. Die Autorin erklärt gut nachvollziehbar, dass die Unabhängigkeit des Zeugnisses des Gewissens vom Urteil der Mitmenschen eine zentrale, kulturspezifische Neuerung darstellen musste (70). Daraus ergibt sich auch die besondere Bedeutung von Schuldgefühlen im westeuropäischen Kontext, wobei der Terminus „Schuldgefühl“ solche Gefühle bezeichnet, die sich im Unterschied zu Schamgefühlen auf Dinge beziehen, die man meint, frei entscheiden zu können (112).

Die von Ruth Benedict und Margaret Mead eingeführte Unterscheidung zwischen sogenannten Scham- und Schuldgesellschaften übernimmt die Autorin jedoch nur mit Einschränkungen. Interpretiert man Scham als ein Gefühl, das nur in Gegenwart von Zuschauern auftritt, Schuld hingegen als das unbehagliche Gewissen, das sich „aufgrund eines internalisierten und selbsttätigen Über-Ich auch dann bemerkbar macht, wenn es gar keine Zuschauer gibt“ (94), so lässt sich für Lotter allenfalls vertreten, dass in Europa und Nordamerika seit dem Zweiten Weltkrieg eine gewisse Umgewichtung des Verhältnisses von Scham- und Schuldgefühlen stattgefunden haben könnte (100, Anm. 26). Eine reine „Schuldkultur“ ist für sie jedoch weder in den biblischen Grundlagen des Christentums noch in der Gegenwartsgesellschaft, soweit sie in empirischen Studien zutreffend beschrieben wird, zu erkennen (101). Lotter argumentiert, dass eine Unterscheidung zwischen Scham- und Schuldkulturen nur im Hinblick auf die dominante Interpretation des Moralischen sinnvoll ist (106). Dieser Ansicht nach werden Fehlhandlungen in Schuldkulturen eher als Verletzungen anderer Personen bzw. als Verletzungen der sozialen oder göttlichen Normen interpretiert, während in Schamkulturen Normverletzungen primär in Schamkategorien gedeutet werden. Berichte über einen Mordfall zum Beispiel konzentrieren sich in westlichen Gesellschaften gewöhnlich mehr auf die Persönlichkeitsmerkmale des Täters, während in ostasiatischen Gesellschaften eher auf seine Lebenssituation, Probleme mit seiner sozialen Rolle und Familie etc. abgestellt wird (151). Dies hat für Lotter damit zu tun, dass man in Schuldkulturen ein bestimmtes Verhalten primär aus der moralischen Qualität des individuellen Charakters zu erklären sucht (153), sodass die soziale Bedingtheit und Komplexität der konkreten Lebenslage in den Hintergrund rückt bzw. nicht auf gleicher Ebene zur Sprache gebracht wird (154).

In den letzten drei Kapiteln befasst sich Lotter mit der Aufspaltung von Recht und Moral in modernen Staaten und dem spezifischen Verständnis von „Verantwortung“, das sich daraus ergibt (224). Sie führt in diese Darstellung vergleichend jedoch auch die in staatenlosen Gesellschaften vorherrschenden Haftungspraktiken ein. Die gewählten Beispiele sollen darlegen, dass Verantwortung nicht nur aus freien Entscheidungen von Individuen herzuleiten ist, sondern auch als soziales Phänomen verstanden werden kann (246). Erhellend sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen zu den Verfahren zur (Wieder-) Herstellung einer vernünftigen Form des Zusammenlebens bei den Baotse, einer Ethnie im heutigen Sambia (270–273):

Das Gericht der Baotse verhandelt (…) nicht einzelne Rechtsansprüche, sondern die Ungerechtigkeiten, aus denen sich Konflikte ergeben haben. Nicht selten wird das Verhalten aller Parteien über längere Zeiträume ermittelt, um die Ursache des Konfliktes zu klären (271).

Die Autorin beschreibt, wie in der traditionellen Gesellschaft der Baotse das Rechtsziel der Konfliktlösung (Aussöhnung) erreicht werden konnte und diskutiert unter Anwendung verschiedener Gerechtigkeitsmaßstäbe, inwiefern die unterschiedlichen Rechtssysteme in der Lage sind, (soziale) Gerechtigkeit herzustellen. Dabei versteht sie es vorzüglich, die Perspektiven zu wechseln und die unterschiedlichen kulturellen und philosophischen Konzeptionen für Moral einander gegenüberzustellen, ohne eine wertende Haltung einzunehmen. Am Beispiel der Arusha (Ackerbauern im nördlichen Tansania) wird die Fruchtbarkeit dieser Technik besonders deutlich, da der Wechsel zum modernen Rechtssystemauch mehrdimensional betrachtet wird (277).

Positiv hervorzuheben ist auch die Tatsache, dass die Autorin, stets am konkreten Beispiel bleibend, zwar primär kulturelle Unterschiede zur Sprache bringt, aber auch ausführt, welche Gemeinsamkeiten man auf dem Gebiet der Moral in den verschiedenen Kulturen findet. Die von ihr gewählte Methode wendet sie konsequent an. Die einzelnen Abschnitte können auch einzeln studiert werden und eignen sich auch als Ausgangspunkt für weitergehende Studien bzw. Recherchen, die im Hinblick auf die von der Autorin aufgeworfenen Fragen wünschenswert wären. Zu denken wäre hier etwa an eine umfassendere Aufarbeitung ethnozentrischer Vorurteile in der Philosophie ebenso wie an eine interdisziplinär ausgerichtete Untersuchung der praktischen Konsequenzen, die sich aus den von der Autorin dargestellten Konzeptionen von Verantwortung ergeben.

Literatur

Berger, Peter L., Luckmann, Thomas. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. 24. Auflage. Frankfurt a. M.: Fischer, 2012.

Jullien, François. L’Écart et l‘entre. Leçon inaugurale de la Chaire sur l’altérité. Paris: Galilée, 2012.

Mauss, Marcel. Sociologie et Anthropologie. Paris: Les Presses Universitaires de France, 1938.

© 2014 Zeitschrift für philosophische Literatur, ISSN 2198-0209, lizenziert unter CC-BY-ND-3.0-DE