Zeitschrift für philosophische Literatur 2.1 (2014), 38–47
Gerber, Doris: Analytische Metaphysik der Geschichte. Handlungen, Geschichten und ihre Erklärung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2012. 308 Seiten. [ISBN: 978-3-518-39638-7]
Rezensiert von Fabian Link (Goethe-Universität Frankfurt a.M.)
Doris Gerbers Habilitationsschrift hat im Sommer 2013 Diskussionen in der historischen Zunft ausgelöst (vgl. Freytag 2013). Die zahlreichen Rezensionen von Historikerinnen und Historikern, so von Angelika Epple, Andreas Frings, Dieter Langewiesche und Thomas Welskopp, zeigen, dass Gerbers Grundannahme, es gäbe Gesetzmäßigkeiten oder zumindest Regelmäßigkeiten, nach denen sich die Geschichte abspielt, nach wie vor kontrovers diskutiert wird. Schroff lehnt Welskopp die drei Thesen Gerbers ab, „dass die historische Realität eine soziale Realität ist“ (22), dass Geschichte nur aus historischen Ereignissen besteht, „die wesentlich mit dem Phänomen der Intentionalität verbunden sind“ (25) und dass diese reale Geschichte deshalb Ursachen hat, die erklärbar sind. „Schriebe man Geschichte nach dem Rezept, das Doris Gerber empfiehlt“, so Welskopp (2013) „wären wir wieder bei einer Geschichte alter weißer Männer, […]“, womit er die historistische Politik- und Ereignisgeschichte meint, die sich im deutschsprachigen Raum im Laufe des 19. Jahrhunderts etabliert hatte. Diese Ablehnung hat mit Sicherheit damit zu tun, dass Gerber ihrer disziplinären Sozialisation nach analytische Philosophin und keine Historikerin ist und – so zumindest dem Duktus ihres Buchs nach – der Geschichtswissenschaft bedeuten will, nach welcher Erkenntnisgrundlage sich diese auszurichten habe. Sie ist nicht die erste und wird nicht die letzte sein, die ein solches Unternehmen in Angriff nimmt. Und sie ist nicht die erste, deren Ansatz von der Historikerzunft kritisiert wird. Es sei an Carl G. Hempels Aufsatz „The Function of General Laws in History“ von 1942 erinnert, in dem der logische Empirist Hempel seine Ansicht darlegte, dass Geschichte nur dann eine Wissenschaft sei, wenn kausale Erklärungen als Gesetzmäßigkeiten aufgezeigt würden, die empirisch abgestützt und mit logischer Hypothesenbildung unterlegt sind (Hempel 1942). Alles andere ist für Hempel unwissenschaftliches Vorgehen und literarische Phantasterei. Auch Gerber lehnt insbesondere narrativistische Ansätze im Allgemeinen, deren konstruktivistische Varianten im Speziellen ab: Sie hält „die These, die darauf hinausläuft, dass eine Geschichte in ihrer Erzählung besteht, für grundlegend falsch“ (25). In den Debatten um Hempels wie Gerbers analytisch-philosophische Erklärungstheorien historischen Geschehens geht es um die alte Frage, wo die Geschichte als Wissenschaft hingehört, ob sie deduktiv-nomologischen oder ideographisch-narrativistischen epistemischen Modellen folgt und welchen Anspruch an Wissenschaftlichkeit sie daher für sich veranschlagen kann. Nebst diesen epistemologischen Modellen der „zwei Kulturen“ (C. P. Snow) diskutiert Gerber als drittes Modell die Ansätze der „dritten Kultur“ (Wolf Leppenies), der sozialwissenschaftlichen Erklärung, des „strukturalistischen Erklärungsansatzes“ (17).
Die Differenzen dieser drei verschiedenen Ansätze möchte Gerber in ihrem ontologisch begründeten Vorschlag überwinden, indem sie darauf verweist, dass der „Gegenstand der Geschichtswissenschaften“ das „intentionale Handeln einer oder mehrerer Personen in einer bestimmten historischen Situation“ sei. Diese Gegenstandsbestimmung führt sie zur Grundthese ihres Buchs, dass „ein Modell einer intentionalen und kausalen Handlungserklärung als ein primäres Modell für historische Erklärungen angesehen werden kann. Historische Erklärungen […] erklären das historische Ereignis – die Handlung oder die Handlungen –, indem sie möglichst viele relevante und in relevanter Weise geordnete Informationen zu diesem kausalen Zusammenhang liefern.“ (21) Darauf baut Gerber ihre Grundthese auf, dass „[h]istorische Ereignisse […] reale, kausal strukturierte Ereignisse [sind], die wesentlich mit dem Phänomen der Intentionalität verbunden sind; und diese Eigenart trifft eindeutig nur auf Handlungsereignisse zu.“ (21) Historische Erklärungen beziehen sich in der Auffassung Gerbers daher „immer und ausschließlich [auf] Handlungen“ (21), die als intentionale Handlungen zu verstehen sind.
In den drei Teilen ihres Buchs führt Gerber diese These aus. Im ersten Teil diskutiert sie unter Verweis auf Robin G. Collingwood, William Dray und Georg Henrik von Wright Intentionalität, Handlung, Kontextualität und Kausalität und endet mit einer Darlegung der Gesetzesartigkeit historischer Erklärung. Der zweite Teil behandelt das, was Gerber die „analytische Metaphysik der Geschichte“ (181) nennt, mit der Gerber einerseits eine „Natur von historischen Ereignissen“ (181) demonstrieren will, in der sie andererseits die Zeit als eine „reale Struktur“ im Sinne des Historischen Realismus auffasst. Der dritte Teil schließlich beinhaltet mit der Begründung der „historische[n] Realität“ als „eine soziale Realität“ (239), wiederum unter Verweis auf kollektives Handeln und intentionale Erklärungen, die Quintessenz von Gerbers Überlegungen.
Ich werde im Folgenden auf drei Punkte näher eingehen, die ich als problematisch erachte. Dabei handelt es sich erstens um Gerbers ontologisch begründete Ansicht dessen, was „historische Realität“ oder „historische Wirklichkeit“ ist. Zweitens werde ich die theoretischen Überlegungen Gerbers zur Frage nach dem Geschehen von Ereignissen im Zusammenhang mit intentionalem Handeln genauer ausführen. Schließlich möchte ich drittens auf das Verhältnis von Handlung und Struktur eingehen, das Gerber im dritten Teil ihres Buches behandelt.
Zwei Bemerkungen möchte ich meinen Ausführungen vorausschicken. Zum einen ist hervorzuheben, dass Gerber ausgesprochen klar argumentiert, was auch Angelika Epple in ihrer Rezension (Epple 2013) hervorhebt. Zum anderen ist festzuhalten, dass Doris Gerbers Argumentationsmuster aus Sicht einer empirisch arbeitenden Geschichtswissenschaft ahistorisch erscheint. Gerber führt Begebenheiten aus der Geschichte wie das Attentat in Sarajevo, das in den Ersten Weltkrieg führte, oder die Ausrufung der Weimarer Republik als Beispiele an, um ihre Argumentation „empirisch“ zu untermauern. Diese historischen Ereignisse werden bisweilen kontrafaktisch behandelt, was zwar Gerbers These plausibilisiert, einer genuin historischen Auffassung von Geschehnissen jedoch zuwiderläuft. Quellenarbeit im geschichtswissenschaftlichen Sinne macht Gerber nicht, ihre Ausführungen bleiben auf einem theoretisch-abstrakten Level angesiedelt. Dass dies den Gepflogenheiten der Geschichtswissenschaft nicht entspricht, braucht hier nicht weiter erläutert zu werden. Welskopp (2013) hat das in seiner Rezension bereits angemerkt: „Empirische Geschichtsschreibung ist nicht Doris Gerbers Referenzpunkt.“ Aber das muss vielleicht auch nicht sein. Gerber ist analytische Philosophin und ihr Buch sollte als ein Werk aus der analytischen Philosophie gelesen werden. Dies bedeutet nicht, dass Historikerinnen und Historiker nichts von ihren Ausführungen lernen könnten. Aus diesem Grund muss Kritik auf einer doppelten Argumentationsebene operieren, einer empirisch-historischen und einer analytisch-geschichtsphilosophischen. Es wird deutlich werden, dass die Problematik von Doris Gerbers „Metaphysik der Geschichte“ in der Kluft zwischen diesen beiden Ebenen liegt.
Aus geschichtsphilosophischer Perspektive scheint mir der erste Punkt, die Frage nach der historischen Wirklichkeit oder der realen Struktur historischer Ereignisse und Begebenheiten, der wichtigste zu sein, denn damit steht und fällt letztlich Gerbers Metatheorie der Geschichte. Zwei Grundannahmen sind hierfür ausschlaggebend, nämlich einerseits, dass historische Ereignisse als intentionale kollektive Handlungen „reale Ereignisse“ sind, andererseits, dass Zeit ebenfalls eine „reale Struktur“ ist. Für Gerber sind historische Abläufe Ereignisse in der Zeit, die unabhängig von den Konstruktionen und Erzählungen der Historikerinnen und Historiker existieren: „Dass wir uns ein Bild von der Geschichte machen und sie nur so verstehen können, bedeutet nicht, dass die Geschichte dieses Bild ist.“ (229) Eine ähnliche Annahme findet sich auch in der älteren Wissenschaftshistoriographie. Dort wurde lange Zeit behauptet, Naturwissenschaftler würden die Naturphänomene entdecken, gewissermaßen die Natur entschlüsseln. Gaston Bachelard hat mit seinem Konzept der Phänomenotechnik (vgl. Rheinberger 2006) dargelegt, dass naturwissenschaftlich Faktisches niemals abgelöst von den konkreten Praktiken der Erforscher der Naturphänomene bestehen kann. „Natur“ ist Bestehendes und Konstruiertes zugleich. Wie bestimmte Wissenschaftshistoriker von einer jenseits der menschlichen Beobachtung existierenden Natur ausgehen, glaubt Gerber an die Existenz einer von der Historiographie abgekoppelten Wirklichkeit. Die reale Struktur, der historische „Zusammenhang von Ereignissen“, wird nicht „ex post aus der Perspektive der Nachgeborenen“ rekonstruiert und konstruiert, so Gerber, sondern diese „entdecken ihn“ (229). Eine historische Erzählung stiftet laut Gerber keinen historischen Zusammenhang, sondern erkennt ihn „in den realen zeitlichen und kausalen Relationen der realen Ereignisse“ (235). Ob es eine „reale Geschichtsstruktur“ gibt, die das historische Erzählen strukturiert, oder ob das historische Erzählen die Struktur der Geschichte hervorbringt, ist eine viel debattierte Frage, die hier kaum aufzulösen ist. Das Problem von Gerbers Geschichtstheorie ist deshalb aber nicht hinfällig. Aus historisch-empirischer Sicht liegt es darin begründet, dass keineswegs klar ist, wie eine solche historische Struktur eigentlich zustande kommt. Denn der Umstand, dass, wie Gerber selbst schreibt, „die Vergangenheit […] in der Regel nur über historische Quellen unterschiedlicher Art zugänglich ist“ (229), birgt ausreichende Evidenz dafür, dass das Entstehen einer solchen historischen Struktur – wenn man einmal davon ausgeht, dass sie wirklich existiert – hochgradig kontingent, selektiv, bisweilen gar zufällig und daher regellos und regelhaft zugleich ist. Die mittlerweile zahlreichen Studien zur Wissensgeschichte von Archiven und zum Entstehen bestimmter Quellenbestände, die letztlich die materiell fassbaren Gehäuse dessen sind, was historische Handlungen und Geschehnisse sind, haben dies schlüssig dargelegt.
Natürlich ist Doris Gerber nicht naiv, denn sie sieht sehr klar, dass eine „historische Struktur“ nicht unabhängig von den Menschen existiert, sondern dass eine solche Struktur von Menschen geschaffen wird. Diesen Punkt löst Gerber auf, indem sie auf einen geschichtsphilosophischen Begriff von Zeit rekurriert, der aufgespalten ist in eine kontinuierliche, quasi natürliche Zeitstruktur, die Gerber „B-Zeit“ nennt (209-210), und eine Zeit, die repräsentiert wird von den Menschen. Gerber nennt dies die „Unterscheidung zwischen zeitlichem Erleben und seiner begrifflichen Repräsentation“ (203). „Denn wir könnten uns niemals auf etwas als vergangen, gegenwärtig oder zukünftig beziehen, wenn wir die Begriffe ‚früher‘ oder ‚später‘ nicht verwenden und verstehen könnten, und dieses Verstehen setzt die Erfahrung einer realen B-Zeit-Struktur voraus.“ (210) Die zeitliche Erfahrung der Menschen stützt sich auf die Erfahrung von Ereignissen, die in der Zeit real und wirklich sind. „Die reale Grundlage dieser eigentümlichen Erfahrungsqualitäten ist die Existenz einer relationalen zeitlichen Struktur, die unabhängig von unseren Erfahrungen determiniert ist und die ein wesentlicher struktureller Bestandteil des realen historischen Geschehens ist.“ (212) Die Konstruktion eines realen historischen Geschehens qua Auftrennung von menschlicher Zeiterfahrung und einer „wirklich“ existierenden Zeit führt zur Konstruktion eines geschichtlichen Ablaufs schlechthin, der letztlich den Glauben an die Existenz einer naturwissenschaftlich-evolutionstheoretischen oder biologisch-physikalischen Zeit voraussetzt. Doch gilt ein solcher Geschichtsverlauf wirklich für alle Menschengruppen dieser Welt? Die postkoloniale Theorie hat schlüssig dargelegt, dass die „Geschichte“, wie sie in Europa oder den Vereinigten Staaten verstanden wird, keinesfalls für alle Kulturen dieser Welt Geltung hat (vgl. Bhabha 1994; Chakrabarty 2000). Damit leben unterschiedliche Kulturen in unterschiedlichen Zeiten. Doch auch „Zeit“ ist ein Konzept, das viele Bedeutungen haben kann, die nicht mit der von Gerber veranschlagten kongruent gehen, sondern vielschichtig und unbestimmt sind. Gerbers a priori-Konzept von Geschichte qua einer unabhängig von der menschlichen Erfahrung existierenden Zeit- und Ereignisstruktur schafft eine Hegemonie einer westlich-modernen Vorstellung historischer Abläufe, die andere Denkarten von „Geschichtlichkeit“, „Erinnerung“ und „Erzählung“ epistemologisch abwertet.
Abgeleitet von der Annahme, dass historisches Geschehen wirkliches, reales Geschehen ist, sind für Gerber historische Ereignisse Resultate intendiert geschehener Handlungen, die meist kollektive Handlungen sind und „im ontologischen Sinne von ihren individuellen Teilhandlungen konstituiert“ werden (266). Damit bin ich beim zweiten Punkt. Es erscheint als ausgesprochen problematisch, dass alle historischen Ereignisse nur intentionale Handlungen sein sollen. Vielmehr stellt diese Engführung eine krasse Vereinfachung historischen Geschehens dar. Auch thematisiert Gerber nicht, wie denn Ereignisse zu behandeln wären in der Geschichte, die unabhängig von menschlichem Handeln stattfanden. Denn historisch-empirisch ist kaum zu bestreiten, dass es solche Ereignisse gibt. Zu denken wäre beispielsweise an Umweltereignisse wie beispielsweise Katastrophen. Werden diese Geschehnisse als reale historische Ereignisse ausgeblendet, wird nicht bloß die historische Perspektive verengt, sondern man fällt auch hinter Ansätze zurück, die in der Geschichtswissenschaft längst als etabliert gelten, wie z.B. die diejenigen der „Annales“-Schule. Ich möchte hier lediglich auf Fernand Braudels großes Werk über den mediterranen Raum im späten Mittelalter verweisen, in dem Braudel einen Raum und dessen Genese historisch beschreibt und genau solche von den menschlichen Handlungen unabhängig sich ereignenden Vorkommnisse thematisiert und sie mit der menschlichen Erfahrung verschränkt (vgl. Braudel 1990). Auch jüngere Studien, die an die wissenschaftssoziologische Akteur-Netzwerk-Theorie anschließen oder diese verwenden, betonen, dass auch nichtmenschliche Aktanten unabhängig von menschlichen Intuitionen Geschehnisse und Prozesse bewirken können. Erwähnt sei auch die Rolle von Tieren und von Gefühlen in der Geschichte, die seit einiger Zeit von der Geschichtswissenschaft ins Blickfeld genommen wird (vgl. Breittruck 2010). Schon hier wird deutlich, wie stark Gerbers geschichtsphilosophische Theorie und die historisch-empirische Ebene auseinanderdriften.
Ich möchte nun auf den Begriff des intentionalen Handelns, den Gerber ins Zentrum ihres Ansatzes stellt, näher eingehen. „Handlungen geschehen nicht einfach so, sondern aus Gründen, welche Gründe eines Handlungssubjekts sind.“ (67) Diese Gründe haben einen „wesentlichen Bezug zu mentalen Zuständen“ (67). Entscheidend ist, dass die Gegenstände, auf die sich intentionale Handlungen beziehen, als „existierende Gegenstände“ gefasst sind, die konkret, abstrakt oder fiktiv sein können, denen Eigenschaften zugeschrieben werden von den Handlungssubjekten, die wahr oder falsch sein können, und die als Objekte erscheinen, auf welche „ein mentaler Zustand gerichtet ist“ (76). Intentionale Handlungen beziehen sich auf eine gegenständliche, materielle oder erdachte Welt, die präexistent ist, eben auf eine „reale Wirklichkeit“. Nach Gerbers Auffassung gibt es demnach „nicht existierende intentionale Gegenstände“ nicht (78). Intentionale Handlungen bringen in diesem Sinne keine historische Wirklichkeit hervor, sondern beziehen sich immer auf diese Wirklichkeit. Intention und Handlung sind in der Theorie Gerbers inhärent verbunden: „Intentionen und nur Intentionen sind die intentionalen Zustände, die uns zum Handeln bringen.“ (89) Dieser Grundsatz liegt wiederum darin begründet, dass in Gerbers Auffassung historische Wirklichkeiten und Geschehnisse erklärbar sein müssen. Wenn Zustände wie emotionale Lagen oder Überzeugungen „eine Handlung nicht hinreichend motivieren können, dann können sie uns eine Handlung auch nicht erklären.“ (93) Genau hier steckt die Krux in Gerbers Theorie, nämlich dass sie davon ausgeht, Geschichte könne nur als eine erklärende Wissenschaft verstanden werden. Wie die bisher erschienenen Rezensionen von Gerbers Buch zeigen, stoßen sich empirisch arbeitende Historikerinnen und Historiker vor allem an dieser Annahme, da sie sich in praktischer Hinsicht kaum bewahrheitet. Schon Hempel (1942: 37) hat dargelegt, dass in der Geschichte eine Vielzahl von Geschehnissen und Ereignissen nur ungenügend erklärt werden kann, weil die nötige empirische Grundlage fehlt. Auch wenn bestimmte Ereignisse durch die Applikation von generellen Hypothesen und theoretischen Ansätzen aus anderen Wissenschaften wie der Wirtschaftswissenschaft, der Soziologie oder den Naturwissenschaften Hempels Meinung nach zu einer Konkretisierung und Schärfung der historischen Erklärung führen, ist es sehr unwahrscheinlich, dass genuin historische Gesetze wirklich ausgemacht werden können (Hempel 1942: 47–48). Deshalb vertritt die Mehrzahl der Historikerinnen und Historiker heute die Ansicht, dass statt von „historischer Erklärung“ von „Erklärungsansätzen“ oder „Perspektiven“ gesprochen werden müsse. Gerbers Festlegung, dass Handlungen immer intentionale Handlungen sind, ist insbesondere im Hinblick auf die Auseinandersetzungen zwischen den sogenannten „Intentionalisten“ und den „Funktionalisten“ in der Historiographie des NS-Regimes problematisch. Während intentionalistische Erklärungen des Holocausts davon ausgehen, dass die genozidalen Handlungen der Nationalsozialisten auf die Intention Hitlers zurückgingen, erklären funktionalistische Ansätze den Holocaust als eine „kumulative Radikalisierung“ (vgl. Diner 1987). Für Gerber hätte demnach nur die intentionalistische Erklärung des Holocaust Bestand, und zwar in dem Sinne, dass sich an Hitlers Intention eine Serie von Handlungen anderer Personen mit ähnlichen Intentionen angeschlossen haben müsste. Ich will die Berechtigung intentionalistischer Erklärungsansätze gar nicht bestreiten, bezweifle aber, dass monokausale Beschränkungen die geschichtswissenschaftliche Erkenntnis weiterführen. In diesem Sinne zielt Gerbers Geschichtstheorie an den substantiellen Fragen in der Geschichtswissenschaft vorbei, die dahingehend lauten, wie ein sinnvoller Ausgleich zwischen metatheoretischen Vorannahmen, explizit theoretischen Modellen und empirischer Basis hergestellt werden kann, um eine möglichst multiperspektivische und umfassende Geschichte zu schreiben.
Wenn sich intentionale Handlungen auf eine „reale Wirklichkeit“ beziehen, dann muss erklärt werden, wie diese Wirklichkeit beschaffen ist. Intentionales kollektives Handeln findet in „Strukturen“ statt. Gerber definiert Strukturen als „die Gesamtheit von sozialen, kulturellen, politischen, rechtlichen, ökonomischen Bedingungen, die entweder eine regelgeleitete institutionelle oder eine organisatorisch verfasste Grundlage von individuellen, sozialen oder kollektiven Handlungen sind.“ (270) Damit ist das Problem auf den Tisch gebracht, das Gerber mit ihrem Strukturbegriff anspricht, nämlich die Frage nach der Entstehung von Strukturen. Während Anthony Giddens, dessen Struktur- oder besser Strukturierungskonzept von Gerber explizit kritisiert wird, von einem wechselseitigen Verhältnis von handelndem Akteur und Struktur ausgeht und die Frage offen lässt, was nun zuerst da war, vertritt Gerber die Ansicht, dass Strukturen nur durch intentionales Handeln entstehen. Strukturen sind keine Entitäten, die auf kontingente oder nicht intendierte Begebenheiten zurückgehen, sie sind vielmehr von Menschen geschaffene soziale, ökonomische, politische etc. Rahmungen, in welchen wiederum Anschlusshandlungen stattfinden. Die „rudimentäre Form einer sozialen Struktur“ (283) ist die „rudimentäre Form eines praxiskonstituierenden überindividuellen Zusammenhangs, der zukünftigen individuellen und sozialen Handlungen als Bedingung zugrunde liegt“ (283). „Die Tatsache, dass der intentionale Zustand auf eine repräsentierte und intendierte Handlung eines kollektiven Wir gerichtet ist, ist also von zentraler Bedeutung dafür, dass der von den Intentionen gebildete Sachverhalt eine soziale Struktur darstellt.“ (283) Gerbers Anspruch, den Entstehungsmoment von Strukturen fassen zu können, hat zur Folge, dass sie den Eindruck erweckt, es gäbe eine erste Handlung, die als Ursprung einer Struktur anzusehen sei. Die Suche nach Ursachen begründet sie damit, dass „eine Erklärung“, die sie der Geschichtswissenschaft als Grundmodus unterstellt, „auch immer einen Anfang“ hat, „und das ist die Ursache, die das zu erklärende Ereignis unmittelbar bewirkt hat.“ (286) Es stellt sich hier aus geschichtsphilosophischer Sicht die Frage, ob die Suche nach einer Ursache letztlich nicht einer Ursprungssuche, quasi einer Suche nach einem ersten Beweger gleicht, die Bachelard mit Verweis auf die Alchemie als vorwissenschaftliches Denken abgeurteilt hat (Bachelard 1987: 159–163, 172). Für Bachelard ist dieses Denken deshalb vorwissenschaftlich, weil alle Ursprungs- und Ursachenfragen immer nur unterkomplexe Konstellationen untersuchen und von einem zu entdeckenden Kern einer Entität ausgehen, dabei jedoch die viel komplexeren empirischen Grundlagen dieser Entität vernachlässigen oder übersehen.
Es bleibt die Frage, was eigentlich die „Metaphysik der Geschichte“ für Gerber ist. Offenbar versucht sie ein Konzept zu entwickeln, das auf der einen Seite den hermeneutischen Zirkel umgeht, also die Vorstellung aushebelt, dass das Forschungssubjekt im Prozess der Erforschung eines Objekts zugleich auch immer sich selbst und seine eigene Position zum Objekt erforscht und sich aus diesem Zirkel nicht befreien kann. Andererseits möchte sie das vom Wiener Kreis und vor allem von Otto Neurath vorgeschlagene Prinzip der Einheitswissenschaft widerlegen, wonach die Geschichtswissenschaft methodisch genauso verfahren müsste wie eine Naturwissenschaft, indem sie der Geschichtswissenschaft spezifische Forschungsobjekte und eine vermeintlich genuin historische erkenntnistheoretische Grundlage attestiert. Dieses konzeptionelle Ziel ist aus Sicht der Geschichtswissenschaft lobenswert. Mit der von Gerber vorgeschlagenen „Metaphysik“ wird es aber kaum erreicht werden, weil es für eine empirisch arbeitende Geschichtswissenschaft nicht operationalisierbar und daher kaum von Interesse ist.
Literaturverzeichnis
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Freytag, Nils. „Mehrfachbesprechung: Doris Gerber: Analytische Metaphysik der Geschichte. Handlungen, Geschichten und ihre Erklärung.“ sehepunkte 13. 6 (2013), http://www.sehepunkte.de/2013/06/forum/mehrfachbesprechung-doris-gerber-analytische-metaphysik-der-geschichte-handlungen-geschichten-und-ihre-erklaerung-frankfurtm-2012-173/ (8. Dezember 2013).
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