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Zeitschrift für philosophische Literatur 2. 1 (2014), 12–21

Freyenhagen, Fabian: Adorno’s Practical Philosophy. Living Less Wrongly. Cambridge University Press: 2013, 285 Seiten. [978-1-107-03654-3]

Rezensiert von Philip Hogh (Carl von Ossietzky Universität Oldenburg)

Die kritische Theorie ist von ihren Anfängen in den 1930er Jahren bis in die Gegenwart hinein immer ein normatives Projekt gewesen. Die Veränderun­gen in ihren konkreten Ausrichtungen betrafen daher immer auch die jeweili­gen Konzeptionen von Normativität. Insbesondere die kommunikationstheo­retische Wendung, die Habermas in der Theorie des kommunikativen Han­delns durchgeführt hat, wurde durch eine Kritik an einem normativitätstheo­reti­schen Mangel der frühen kritischen Theorie Horkheimers und Adornos be­gründet. Zwar wurden in der Dialektik der Aufklärung und in der Negativen Dialektik dezidiert normative Formen der Sozialphilosophie vorgelegt, aller­dings ohne die darin kritisch an die Gesellschaft angelegten normativen Maß­stäbe in ausreichendem Maße zu begründen, was angesichts der totalisieren­den Form der darin vollzogenen Kritik umso wichtiger gewesen wäre. Dass an der Vernunft festgehalten werden sollte, war zwar unstrittig, nur an wel­chen Formen ihrer Realisierung warum festgehalten und wie dies begründet werden sollte, darüber gab die frühe kritische Theorie aus der Perspektive der späteren keine zufriedenstellende Auskunft. In den seitdem unternommenen diskursethischen und anerkennungstheoretischen Versuchen, der kritischen Theorie ein begründetes normatives Fundament zu verschaffen, spielten Adornos moralphilosophische Überlegungen folglich keine wesentliche Rolle mehr. Dass diese, wie auch andere bedeutsame Teile seines Werks, nicht in der Form eines Systems vorliegen, sondern eher in Modellen und Fragmenten gesucht und aus ihnen rekonstruiert werden müssen, erschwerte ihre Rezep­tion zusätzlich, so dass die Anzahl von größeren Untersuchungen zu Adornos Moralphilosophie bis heute überschaubar geblieben ist und es nur in seltenen Fällen gelang, seine Überlegungen mit gegenwärtigen moralphilosophischen Positionen ins Gespräch zu bringen. Fabian Freyenhagens Untersuchung über Adornos praktische Philosophie ist einer dieser seltenen Fälle.

Freyenhagen geht den Schwierigkeiten, die die hermetische Form von Adornos Philosophie produziert und die oftmals zu allein immanenten Dar­stellungen ihres Gehalts führt, dabei nicht aus dem Weg. Vielmehr folgt er Adornos Denken durch seine Wendungen und Windungen hindurch, um schließlich bei dem ebenso überraschenden wie einleuchtenden Argument zu landen, dass Adornos praktische Philosophie als ein negativer Aristotelismus zu begreifen sei. Ihren Ausgang nimmt Freyenhagens Arbeit von der in Adornos Werk bislang zu selten bemerkten Differenz zwischen seinem Pes­simismus bezüglich der gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen und seinem Optimismus bezüglich der unter diesen Bedingungen bislang nicht ausreichend entwickelten menschlichen Potentiale. Freyenhagen versteht Adorno hier als Vertreter eines metaethischen Negativismus, demzufolge wir weder die voll entwickelten menschlichen Fähigkeiten positiv bestimmen noch einen positiv bestimmten Begriff des Guten haben müssen, um über ein tragfähiges Konzept normativer Kritik an den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen verfügen zu können. „On my reading, Adorno is a thorough negativist – such that he denies that we can currently know what the good is, but need not do so in order to object to what we have now.” (20).

Freyenhagens Lektüre nimmt ihren Ausgang von Adornos durch und durch negativem Begriff der modernen Gesellschaft. Auschwitz als Ausdruck des radikal Bösen wird nicht als im Widerspruch zur modernen Gesellschaft stehend begriffen, sondern als Konsequenz der der kapitalistischen Produkti­onsweise eigenen Tendenz. „Structurally similar to what the Nazi machinery was designed to do with its victims, the individual is reduced by the capitalist system to a mere instantiation of a general property (in the latter case, bearer of human labour-power).“ (33) Obgleich die moderne Gesellschaft individu­elle Freiheit in vorher nie gekanntem Ausmaß verspricht, bleibt die Realisie­rung dieser Freiheit an ökonomische und politische Formen gebunden, die außerhalb der Kontrolle der Individuen stehen, die in ihnen zu leben haben. Die sich gegen diese häufig als „ökonomistisch“ bezeichneten Annahmen Adornos richtenden Kritiken werden von Freyenhagen nicht ausgeblendet. Er schlägt aber vor, diese Annahmen Adornos erst im Gesamtkontext seiner praktischen Philosophie zu diskutieren, weil sie auch erst dann ihre argumen­tative Kraft entfalten können. Freyenhagen fasst sie schließlich unter Bezug­nahme auf den Aphorismus Asyl für Obdachlose aus den Minima Moralia als „No Right Living Thesis“ Adornos zusammen: Dass im falschen Ganzen der mo­dernen Gesellschaft kein richtiges Leben möglich ist, heißt, dass wir unser Leben nicht selbst bestimmen, sondern von den falschen gesellschaftlichen Verhältnissen bestimmt werden, wodurch wir permanent gegen moralische Normen verstoßen müssen, auch dann, wenn wir versuchen, sie zum Grund unseres Handelns zu machen.

Freyenhagen entfaltet diese These detailliert, um zu zeigen, dass Adornos praktische Philosophie am besten als eine explanatorische Theorie verstanden werden soll, da sich mit ihr die Lebensverhältnisse in modernen Gesellschaf­ten besser verstehen lassen als mit anderen theoretischen Entwürfen; ein In­terpretationsansatz, der beispielsweise demjenigen von Axel Honneth entge­gensteht, der aufgrund der mangelnden explanatorischen Reichweite von Adornos Verdinglichungskritik vorschlägt, seine Theorie eher in einem gene­alogischen Sinne zu verstehen, also so, dass sie sichtbar macht, wie die mo­derne Gesellschaft zu einer zweiten Natur erstarren konnte (vgl. Honneth 2005: 165–166). Im Unterschied dazu versucht Freyenhagen mit Adorno zu zeigen, welche Bestimmungen der modernen Gesellschaft es sind, die es ver­hindern, dass menschliche Subjekte in ihr nicht nur ihre eigenen Potentiale entfalten, sondern in einem moralischen Sinne richtig handeln können. Auf­grund der hohen Komplexität moderner Gesellschaften und der vielfachen sozialen Vermittlung einzelner Handlungssequenzen kann nicht garantiert werden, dass der richtigen subjektiven moralischen Einstellung ein objektives Gelingen der jeweiligen Handlung korrespondiert (vgl. Menke 2008: 193). Diese von Freyenhagen sogenannte antinomische Struktur des Alltagslebens zeigt sich beispielhaft daran, dass jeder Versuch, einem in Not geratenen Menschen zu helfen, zwar dieses Leiden punktuell zu lindern vermag, dass die gesellschaftlichen Bedingungen, die diese Not produziert haben, dabei jedoch unangetastet bleiben, was für Adorno den Grund dafür abgibt, warum eine Mitleidsethik keine zufriedenstellende Lösung für die moralische Situation der Gegenwart liefern kann (vgl. 130–32). Denn auch das integerste und altruis­tischste menschliche Subjekt ist in einen Schuldzusammenhang verstrickt, der darin besteht, dass es das Fortbestehen der gegenwärtigen Gesellschaft schon aus Gründen der Selbsterhaltung selbst dann unterstützen muss, wenn es diese Gesellschaft radikal in Frage stellen möchte.

Daran zeigt sich nach Freyenhagen der Doppelcharakter von Adornos „No Right Living Thesis“: Sie ist deskriptiv in dem Sinne, dass sie zeigt, wa­rum gegenwärtig kein richtiges Leben geführt werden kann. Sie ist normativ in dem Sinne, dass sie zeigt, warum es falsch ist, dass gegenwärtig die Mög­lichkeiten zur Verwirklichung eines richtigen Lebens verbaut sind. Was statt einem richtigen Leben aber möglich sein soll, ist ein weniger falsches Leben. Für Freyenhagen erhält der Negativismus Adornos durch die Hinweise auf Aspekte eines weniger falschen Lebens, die sich in seinem Werk finden las­sen, ein höheres Maß an Bestimmtheit, da sich nämlich unter Rückgriff auf diese Hinweise zeigen lässt, inwiefern die gegenwärtige Verwirklichung sozia­ler Freiheit unter ihren eigenen Möglichkeiten bleibt und dabei die Frei­heit jedes einzelnen Subjekts einschränkt.

Diese Gefährdung der Freiheit durch die sozialen Formen ihrer Ver­wirklichung ist es schließlich auch, die Adornos Kritik an Kants Moralphilo­sophie motiviert. Bedroht ist die Freiheit nicht – wie aus Kants Perspektive – von der Möglichkeit des Determinismus, sondern von sozialer Herrschaft. Die negative Freiheit, von der Adorno spricht, muss daher als Widerstand ge­gen diese soziale Herrschaft verstanden werden, nicht als Widerstand gegen die Natur. „In effect, what Adorno says is that in the form of negative free­dom, as resistance against unfreedom, freedom can already begin appearing in the current social world, just by virtue of our reflecting on our predicament and mobilising our powers against it.“ (87) Positive Freiheit, die Kant als das Vermögen begriff, sich selbst das allgemeine Gesetz zu geben, dem alles Handeln folgen soll, ist für Adorno gegenwärtig nicht gegeben. Aus dem Mangel an positiver Freiheit wird also kein resignativer Schluss gezogen, son­dern – wie Freyenhagen ausführt – eine Ethik des Widerstands entwickelt, die ihren Ausgangspunkt beim individuellen Leiden nehmen muss, das als Signum dafür verstanden wird, dass die vollkommene gesellschaftliche In­tegration der Subjekte, auf die der Kapitalismus zusteuert, noch nicht abge­schlossen ist.

Diese Ethik des Widerstands muss jedoch als Kritik an den verfügbaren moralphilosophischen Projekten entwickelt werden. Da für Adorno, Freyen­hagen zufolge, von der Moralphilosophie keine positiven Bestimmungen des richtigen Lebens mehr geliefert werden können, muss eine Moralphilosophie in Adornos Sinne als Kritik bestehender moralphilosophischer Entwürfe voll­zogen werden. Der Ausgangspunkt für eine Ethik des Widerstands wird also von der Krise der Moralphilosophie und der moralischen Praxis markiert. Obgleich die Gesellschaft kein richtiges Leben, also auch keine moralische Praxis zulässt, gibt es immer noch moralische Anforderungen, die auf den Subjekten lasten, die aber gegenwärtig unangemessen sind, weil kein Subjekt sie erfüllen kann. „Adorno laments the fact that moral practice is in crisis – in fact, he thinks it is an objective contradiction of our time that morality is both almost impossible because of radically diminished social freedom and at the same time required.” (91)

An Adornos Fassung des kategorischen Imperativs macht Freyenhagen nun die Kritik Adornos an der Kantischen Moralphilosophie als der Moral­philosophie par excellence deutlich. Er lautet: „Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wieder­hole, nichts Ähnliches geschehe. Dieser Imperativ ist so widerspenstig gegen seine Begründung wie einst die Gegebenheit des Kantischen. Ihn diskursiv zu behandeln wäre Frevel: an ihm läßt leibhaft das Moment des Hinzutretenden am Sittlichen sich fühlen. Leibhaft, weil es der praktisch gewordene Abscheu vor dem unerträglichen physischen Schmerz ist, dem die Individuen ausge­setzt sind“ (Adorno 1997: 358). Zwar zeigt Freyenhagen anhand von Adornos Auseinandersetzungen mit Hegel und Nietzsche sowie tugend- und mitleids­ethischen Ansätzen, dass Adorno nicht alleine die Kantische Moral­philoso­phie zur Kenntnis genommen hat; nichtsdestotrotz wird diese Philo­sophie bei Adorno (und deswegen auch in Freyenhagens Rekonstruktion) mit Vorrang behandelt, da in ihr das für jede Form von Moral zentrale Verhältnis von Freiheit und Gesetz am konsequentesten durchdacht worden sei. Adornos kategorischer Imperativ beansprucht aber zugleich auch, eine Ant­wort auf die Krise der moralischen Praxis der Gegenwart zu geben. Dieser kategorische Imperativ ist, wie Freyenhagen hervorhebt, keine bloße Neu­formulierung des kantischen, denn dafür ist er aus einer kantianischen Per­spektive zu partikular, d.h. an eine bestimmte historische Erfahrung, nämlich die von Auschwitz, gebunden. Zugleich ist er eine Kritik an Kant, denn des­sen formalistische Ethik hat es aufgrund ihres Formalismus nicht geschafft, in den Subjekten wirksam zu werden. Auch wenn eine kantische Moral natürlich Auschwitz nicht gut heißt, hat sie darum doch einen Beitrag zum Scheitern der Kultur geleistet. Adorno verankert seinen kategorischen Imperativ also historisch und versucht dennoch, am universalistischen Charakter von Moral festzuhal­ten. „The main point, in any case, is that the experiences connected to the new categorical imperative have ‚compelling universality‘, and, hence, al­though the character of the imperative has changed from formal to sub­stan­tive, its status as categorical remains.” (138)

Freyenhagen hebt an dieser Stelle hervor, dass eine universalistische Mo­ral nach Adorno allein durch das materialistische Motiv der Abscheu vor dem Leiden überleben könne, denn nur so realisiere sich Moral in den Subjekten. Leiden ist für Adorno an sich schlecht, nicht wie für Kant deswegen, weil es ein moralisches Leben erschwert. Die Kälte gegenüber dem Leiden anderer, die Auschwitz erst möglich gemacht hat, findet sich aus dieser Perspektive sublimiert auch in Kants Ethik, die eine Achtung nur gegenüber dem morali­schen Gesetz verlangt und Handeln aus Neigung nicht moralisch anerkennen kann. Adornos kategorischer Imperativ ist demgegenüber als Minimalforde­rung zu verstehen, die an jedes Subjekt nach Auschwitz ergeht. Er dient, an­ders als der kantische, nicht als Prinzip eines Systems, sondern bleibt darauf verwiesen, in gesellschaftlichen Erfahrungen Momente zu identifizieren, in denen Auschwitz – und das, wofür es steht – fortdauert. So ist Adornos kate­gorischer Imperativ an die Menschheit als Ganze gerichtet, da es auch nur ihr möglich wäre, das, was er verlangt, zu erfüllen. „Thus, the new categorical imperative is mainly aimed at humanity as a whole, since only as a collective could we change the objective conditions […]. The content of these demands – not to let Auschwitz repeat itself and to end the bad infinity that is the cur­rent social world – is such that only humanity as a whole could fulfil them.” (153) Damit sollen jedoch die einzelnen Subjekte nicht moralisch vollkom­men entlastet werden. Zwar kann von ihnen nicht unmittelbar verlangt wer­den, denjenigen Zustand herbeizuführen, den Adornos kategorischer Impera­tiv einfordert, aber was verlangt werden kann, ist in jeder moralisch relevan­ten Situation der gesellschaftlichen Tendenz zu widerstehen, die Menschen in bloße Dinge verwandelt. Denn nur wenn die Subjekte auf dieser individuellen Ebene moralische Aufmerksamkeit zeigen, kann die Möglichkeit der kol­lektiven Realisierung des in Adornos kategorischem Imperativ formulierten Sollens festgehalten und gesellschaftlich vorbereitet werden.

Auf dem Boden seiner genauen Analyse von Adornos kategorischem Imperativ versucht Freyenhagen dann eine Ethik des Widerstands zu rekon­struieren, durch die er einen Mangel in der bisherigen Rezeption von Adornos praktischer Philosophie beseitigt, der darin bestand, dass Adornos morali­scher Negativismus bislang nicht mit seinen praktischen Vorschlägen für ein kritisches soziales Handeln in Verbindung gesetzt wurde. Freyenhagen identi­fiziert drei zentrale Elemente von Adornos Ethik des Widerstands, nämlich kritische Reflexion, Bescheidenheit und Identifikation wie Solidarität mit an­deren. Diese Elemente dürfen nicht als Prinzipien verstanden werden, durch deren Befolgung innerhalb des falschen gesellschaftlichen Ganzen nun doch ein richtiges Leben möglich wäre. Stattdessen soll durch sie nur ein weniger falsches Leben in den Blick kommen. Da eine letzte Sicherheit in der morali­schen Beurteilung des gesellschaftlichen Lebens für Adorno gegenwärtig nicht gegeben ist, bedarf es zunächst der kritischen Reflexion auf das eigene Handeln wie auf die moralische Beurteilung des Handelns anderer. Diese muss mit einiger Bescheidenheit ausgeführt werden, da nur so verhindert werden kann, dass sich das urteilende Subjekt selbst ins Recht setzt und somit den beurteilten Subjekten von vornherein Unrecht tut. Dies ist dann wiede­rum nicht als Ausdruck von Autonomie zu verstehen, die ja gerade durch die Organisation des sozialen Zusammenlebens nicht verfügbar ist, sondern als kritische Reaktion auf Bedingungen, die man selbst nicht gesetzt hat, das heißt, als Versuch, die Bedingungen der eigenen Heteronomie zu bestimmen. Auch dann also, wenn kein richtiges Leben gelebt werden kann, können die Subjekte doch an ihnen selbst und aneinander diejenigen Handlungsweisen identifizieren, durch die sie zum Fortbestand der Gesellschaft beitragen. Da ihnen ein Ausstieg aus dieser Gesellschaft jedoch nicht möglich ist, bleibt ihnen nur die Möglichkeit übrig, solidarische Umgangsformen einzuüben, die sich gegenüber der sozialen Herrschaft als widerständig erweisen, ohne dass sie solche Umgangsformen darum direkt als richtiges Leben identifizieren dürften.

Entsprechend zielen Adornos Vorschläge für eine kritische soziale Praxis vor allem darauf ab, auf der subjektiven Ebene eine Sensibilität für das sozial verursachte Leiden anderer wiederherzustellen. Speziell Adornos Arbeiten über Erziehung nach Auschwitz kreisen um diesen Punkt, an dem sich die Schwierigkeit zeigt, dass auf der objektiven Ebene der gesellschaftlichen Re­produktion und der politischen Herrschaft keine positiven Veränderungen zu erwarten sind, weswegen im Erziehungs- und Bildungssektor auf die Subjekte so eingewirkt werden soll, dass sie zur kritischen Reflexion ihrer Lebensver­hältnisse in die Lage versetzt werden.

With changes to the objective conditions highly unlikely, Adorno here concludes that we should concentrate on understanding the (psychological) mechanisms which make people commit atrocities. In this sense he wants education as ‘an education to­ward critical self-reflection’. This should proceed both via encouraging reflection and criticism from early childhood onwards, and by fostering it via public awareness campaigns about the (psychological) mechanisms in question. (180)

Da eine solche kritische Praxis jedoch beständig von den objektiven gesell­schaftlichen Bedingungen gefährdet wird, muss sie stets verteidigt werden; nur dann kann kritische Reflexion als subjektive Bedingung einer Ethik des Widerstands erreicht werden und nur dann kann gesellschaftlich auf die Mög­lichkeit der kollektiven Einlösung von Adornos kategorischem Imperativ hin­gearbeitet werden.

Der wirkmächtigste Einwand, der innerhalb der kritischen Theorie gegen diese von Freyenhagen herausgearbeitete Moralkonzeption Adornos erhoben wurde, stammt sicherlich von Jürgen Habermas, der ihm auf der Grundlage eines Rechtfertigungskonzepts von Normativität vorhielt, dass die normativen Maßstäbe seiner Gesellschaftskritik nicht ausreichend begründet seien. Freyenhagen wendet dagegen nun aus Adornos Perspektive ein, dass morali­sche Normativität gar nicht abschließend begründet werden kann, wenn der somatische Impuls, der sich in moralischen Urteilen geltend machen muss, nicht wegrationalisiert werden soll. Wie anhand von Adornos Fassung des kategorischen Imperativs deutlich wird, wäre die Forderung, diese letztlich auf dem Nichtseinsollen menschlichen Leidens fußende moralische Norm ab­schließend zu begründen, selbst ein „Frevel“ (Adorno 1997: 358) gegen sie, da dies implizierte, dass das unerträgliche Leiden von Menschen selbst nicht genügend Gründe für die Kritik der Umstände, die es hervorrufen, lieferte.

Trying to ground normative claims discursively or at the level of abstract principles is both unsuccessful and an outrage. It is unsuccessful, since morality, according to Adorno, can have content and practical effects only in virtue of relying on non-dis­cursive and non-deducible elements, namely, our impulse-based reactions to suf­fer­ing and injustice. To suggest that it is necessary to ground normative claims dis­cur­sively is to implicitly deny that the particular situation by itself contains norma­tivity and to claim that instead the normativity given in it derives from some deeper level of theorizing or some higher principle. (203)

Auf der Grundlage dieser Kritik an einem Rechtfertigungskonzept von Nor­mativität verteidigt Freyenhagen schließlich Adornos metaethischen Negati­vismus und interpretiert ihn als einen negativen Aristotelismus. Demzufolge bedarf es keines Wissens vom Guten um das Schlechte in einer Gesellschaft kritisieren zu können. Das Schlechte verlangt an sich selbst seine Vermei­dung, ohne dass dazu ein Bezug auf das Gute notwendig wäre. Auch liefert das Wissen darum, dass das Schlechte nicht sein soll, lediglich eine minimale negative Bestimmung des Guten, jedoch keine positive, die dann als Maßstab der Kritik unverlierbar verfügbar wäre. Aus diesem Grund kann Adornos Theorie auch keine positiven Anweisungen für eine kritische Praxis liefern, denn dazu wäre ja ein Wissen vom Guten notwendig. Stattdessen stellt sie lediglich einige wenige Überlegungen darüber zur Verfügung, was nicht zu tun sei. Es bleibt letztlich den Subjekten überlassen, wie sie sich von den mo­ralisch relevanten Situationen, die sie vorfinden, bestimmen lassen. Die Theo­rie kann ihnen dafür keine positiven Formulierungen von Handlungsnormen liefern.

It is true that such a minimalist ethics will leave many matters undecided; its guidance will be incomplete when compared to a full-blown morality. This might be unde­sir­able insofar as it places heavy burden on each of us, namely, the burden of exer­cising our judgment on the basis of only a minimalist set of practical guidance within a world that places us constantly in ethically precarious situations. (221)

Der Grund, warum Freyenhagen vorschlägt, diese Konzeption Adornos als negativ-aristotelisch zu begreifen, liegt darin, dass Adorno betont hat, die ge­genwärtige Gesellschaft schränke die Möglichkeiten der Menschen ein, ihre Fähigkeiten in einem theoretisch nicht vorwegzunehmenden Maße zu entfal­ten. Aus einer aristotelischen Perspektive liefert jede Praxis die Kriterien ihres Ge- oder Misslingens selbst. Die gegenwärtig dominanten menschlichen Praktiken sind nun deswegen zu kritisieren, weil sie statt zur Entfaltung menschlicher Möglichkeiten und Fähigkeiten beizutragen, diese beschränken und dadurch ein ebenso vermeidbares wie nicht zu akzeptierendes Leiden produzieren. Negativ ist dieser Aristotelismus Adornos deswegen, weil er keine positive Bestimmung des Gelingens menschlicher Praktiken liefert, sondern in Unkenntnis des Guten lediglich die Beschränkungen menschlicher Möglichkeiten und Fähigkeiten durch die gegenwärtige Verfassung des sozia­len Lebens hervorhebt, was eben deswegen möglich ist, weil das Schlechte als Beschränkung menschlicher Freiheit die Notwendigkeit seiner Vermeidung schon selbst begründet.

Es ist dieser originelle Zug von Freyenhagens Untersuchung, in dem seine detaillierte Rekonstruktion von Adornos praktischer Philosophie kulmi­niert. Bemerkenswert ist daran, dass Adornos Theorie dadurch zukünftig un­verkürzt mit gegenwärtigen neoaristotelischen Moralphilosophien – etwas derjenigen Philippa Foots oder John McDowells – ins Gespräch gebracht werden kann, und dies nicht obwohl, sondern weil Freyenhagen den Eigen­tümlichkeiten des Gehalts und der Gestalt von Adornos Theorie folgt, um sie nur umso klarer zur Sprache zu bringen. Allerdings hätte dieses Verständnis der Adornoschen Theorie noch deutlicher werden können, wenn das von Freyenhagen vorbereitete Gespräch mit den konkurrierenden neoaristoteli­schen Ansätzen in seiner Untersuchung auch direkt geführt worden wäre. Dies hätte dann möglicherweise auch die problematischen Aspekte einer ne­gativ-aristotelischen Deutung Adornos hervortreten lassen, etwa die, dass Adornos radikal anthropologiekritische Analyse menschlicher Praxis sich bei­spielsweise kaum mit McDowells optimistischer und ahistorischer Annahme zusammenbringen lässt, dass die Bildung eines sittlichen Charakters in Gesell­schaften als ein natürlicher Prozess zu verstehen ist, unabhängig davon, wel­che konkrete historische Form die jeweilige Gesellschaft angenommen hat. Allerdings schmälert dies die Qualität von Freyenhagens Untersuchung nicht im Geringsten. Für die zukünftige Auseinandersetzung mit Konzeptionen der Normativität in der kritischen Theorie dürfte sie unverzichtbar sein.

Literatur

Theodor W. Adorno. „Negative Dialektik“, In: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 6. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schulz. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1997.

Axel Honneth. „Eine Physiognomie der kapitalistischen Lebensform. Skizze der Gesellschaftstheorie Adornos“. In: Dialektik der Freiheit. Frankfurter Adorno-Konferenz 2003. Hg. von Axel Honneth, 165–187. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2005.

Christoph Menke, „Subjektivität und Gelingen: Adorno – Derrida“. In Derrida und Adorno. Zur Aktualität von Dekonstruktion und Frankfurter Schule. Hg. von Eva L.-Waniek und Erik M. Vogt, 189–205. Wien: Turia + Kant, 2008.

© 2014 Zeitschrift für philosophische Literatur, ISSN 2198-0209, lizenziert unter CC-BY-ND-3.0-DE