Artikel als PDF herunterladen

Zeitschrift für philosophische Literatur 1. 1 (2013), 86--92

Anderson, Elisabeth: The Imperative of Integration. Princeton (N.J.)/ Oxford: Princeton University Press 2010. 267 Seiten. [978-0-691-15811-2]

Rezensiert von Justo Serrano Zamora (Institut für Sozialforschung, Frank­­furt a.M.)

In The Imperative of Integration führt Elisabeth Anderson eine ausführliche empi­rische Analyse mit einer historischen und normativen Reflexion zusammen, um daraus ihre leitende These zu entwickeln: Unter den aktuellen sozialen, ökonomischen und politischen Bedingungen ist die Integration von Weißen und Afroamerikanern in den USA sowohl aus Gründen der Gerechtigkeit als auch aus demokratietheoretischen Gründen notwendig. Im Geiste von Deweys pragmatistischer Philosophie entwirft Anderson einen „nicht-idealen“ Ansatz. Anstatt der Frage nachzugehen, ob aktuelle soziale Interaktionsmuster und die gegenwärtige Güterverteilung abstrakt formu­lierten Gerechtigkeitsprinzi­pien entsprechen, widmet sie sich einer Diagnose existierender sozialer Pro­bleme und entwirft im Anschluss daran ein praktisches Programm, das sich auf das Potential gegebener sozialer Praktiken stützt. In diesem methodologi­schen Rahmen liefert Anderson historische und empirische Evidenzen für die folgende Gesellschaftsdiagnose: Die aktuelle rassistische Segregation hängt eng mit verschiedenen Formen der Unter­drückung wie Ausbeutung, Margi­nalisierung und Gewalt, kulturellem Impe­rialismus und Ohnmacht (Young 1990) zusammen. Ebenso ist sie mit Unge­rech­tigkeit im Sinne von Gruppen­ungleichheit verbunden, die insbe­sondere die black community der USA betrifft. Im Gegensatz zu den von ihr genannten „konservativen“ und „multikultura­listischen“ Programmen be­haup­tet Ander­son, dass nur durch Integration im privaten und öffentlichen Bereich Gleich­heit und Gerechtigkeit zu erreichen sind, auch wenn dabei mit minimalen – meistens psychologischen – Kosten im Hinblick auf Konflikte, die durch direkte Interaktion zwischen Individuen verschiedener ethnischer Zugehö­rigkeiten entstehen können, zu rechnen ist. Im Folgenden wird Andersons argumentative Struktur kurz rekonstruiert, da­ran anschließend werden zwei kritische Kommentare formuliert.

Im ersten Kapitel ihres Buches skizziert Anderson die zentralen Ele­mente eines „relationalen Ansatzes“ zur Gruppenungleichheit, der sowohl eine deskriptive, als auch eine normative Dimension besitzt. In seiner de­skriptiven Dimension greift Andersons Ansatz auf Charles Tillys Theorie der durable inequality (Tilly 1999) zurück, die die Existenz von Gruppendifferenzen nicht aus den internen Merkmalen von Gruppen ableitet, sondern auf die In­teraktionen zwischen Gruppen zurückführt. Normativ fokussiert Andersons relationaler Ansatz auf den moralischen Wert von Gruppeninteraktionen bei der Evaluierung von ungerechten Ungleichheitsformen. Laut Young insbe­sondere können Gruppeninteraktionen, die moralisch problematische Un­gleichheit hervorbringen, auch ihrerseits ungerecht sein bzw. gegen demokra­tische Freiheiten verstoßen. Zudem kombiniert dieser Ansatz eine „kontrak­tualistische“ bzw. gerechtigkeitsorientierte Perspektive (die sich auf soziale Unterdrückungsphänomene zwischen Gruppen konzentriert) mit einer „de­mokratischen“ Perspektive, die über die Analyse von Unterdrückung hinaus die normative Bewertung von Interaktionsformen ermöglicht. So können letztere auch auf solche Ungleichheiten zurückzuführen sein, die dem demokratischen Ideal (siehe unten) widerspre­chen.

Nach der Darlegung ihres theoretischen Rahmens wendet sich Anderson einer ausführlichen Analyse aktueller soziologischer Literatur zu, um zu zei­gen, dass rassistische Segregation (sei sie räumlich, institutionell bedingt oder rollenbasiert), wenn auch nicht die einzige, so doch zumindest eine zentrale Ursache der zu beobachtenden Ungleichheiten zwischen Weißen und Schwarzen in den USA darstellt. Um diese erste, deskriptive, Dimension ihres Ansatzes mit Thesen zu untermauern, greift sie auf empirische Analysen zu­rück, die den kausalen Zusammenhang zwischen Segregation und verschiede­nen Ungleichheitsformen aufzeigen (wie z.B. im Zugang zu Arbeitsstellen und anderen Gütern sowie zu finanziellem, humanem, sozialem und kulturellem Kapital). Diese überzeugende empirische Analyse erweitert Anderson, indem sie Stereotypen und Vorurteile als symbolische Reproduktionsmechanismen sozialer Ungleichheiten untersucht. Sie weist darauf zudem hin, dass bei der empirischen Behandlung des zu untersuchenden Phänomens von einer kom­plexen Interaktion von einander ergänzenden Elementen – Segregation, Dis­kriminierung, Ungleichheit und Stigmatisierung – ausgegangen werden muss. Anders als traditionelle Erklärungsversuche weist sie darauf hin, dass Diskri­minierungsphänomene als wesentlich von Segregation bedingt zu verstehen sind. Im Rahmen ihrer Untersuchung der symbolischen Dimension formuliert Anderson ihre erste normative Annäherung an die beschriebenen Prozesse: Soziale Stigmata sind normativ problematisch, nicht nur weil sie zur Diskri­minierung beitragen und gelingender sozialer Kooperation im Weg stehen, sondern vor allem aufgrund der „expressiven Verletzung“ (expressive harm), die sie für Mitglieder der stigmatisierten Gruppe darstellen. Sie weisen Individuen systematisch einen niedrigeren sozialen Status zu, was zum einen negative Folgen für ihre Lebenschancen hat und zum anderen erhebliche psychische Kosten mit sich bringt.

Nach der Beschreibung kausaler Zusammenhänge skizziert Anderson zwei komplementäre Strategien zur normativen Evaluation von Ungleichheit zwischen Weißen und Afroamerikanern. Zuerst nimmt sie die Perspektive der Gerechtigkeit ein: In Übereinstimmung mit ihrem relationalen Ansatz sind ungleiche Güterverteilung und Zugang zu grundlegenden Gütern immer dann normativ problematisch, wenn sie entweder Ergebnis ungerechter Interakti­onsformen sind, deren Verkörperung darstellen oder von ihnen hervorgeru­fen werden. In ihrer Analyse konzentriert sich Anderson auf Ungleichheit als Ergebnis ungerechter Interaktionsformen. Es geht ihr vor allem darum, ange­sichts der Tatsache, dass in den USA extreme Formen der Unterdrückung (wie z.B. segregative Gesetze) kaum zu beobachten sind, die scheinbare mo­ralische Irrelevanz von Prozessen in Frage zu stellen, die zu Ungleichheiten führen. Auch wenn diese Prozesse unbewusst stattfinden oder von dysfunkti­onalen Normen innerhalb benachteiligter Gruppen verstärkt werden, ist die Verantwortung der dominanten Gruppen – und damit der ungerechte Cha­rakter von Interaktionen zwischen Menschen verschiedener Rassenzugehö­rigkeiten – nicht zu leugnen. An diese gerechtigkeitsbasierte Reflexion schließt Anderson die demokratietheoretische Überlegung an, dass Integra­tion eine Anforderung bzw. ein Imperativ ist, der sich aus dem Ideal der De­mokratie ergibt. Segregation und Ungleichheit sind zu beseitigen, da sie er­hebliche Hindernisse für die Realisierung und Erfüllung der leitenden Prinzi­pien demokratischer Gesellschaften darstellen und deren grundlegende Insti­tutionen beschädigen. Segregation und Demokratie stehen auf drei verschie­denen Ebenen im Widerspruch. Segregation beeinträchtigt (1) die Mitglied­schaft in der demokratischen Gemeinschaft, die durch gleichen bürgerrechtli­chen Status gekennzeichnet sein sollte, (2) Partizipation an kollektiven Pro­zessen der Selbstgesetzgebung und (3) freie und gleiche Kooperation inner­halb der Zivilgesellschaft. Ein weiterer, zentraler Gedanke Andersons ist, dass der Imperativ der Integration sich insbesondere demokratisch-epistemisch rechtfertigen lässt. So stellt Segregation ein Hindernis für demokratische Kommunikation und politische Rechenschaftslegung dar. Beide Aspekte sind jedoch notwendige Bedingungen für die Sicherung der epistemischen Qualität politischer Entscheidungen, so dass ihre ungehinderte Verwirklichung da­rüber hinaus für die kollektive Lösung sozialer Probleme unabdingbar ist.

Für Anderson ist Segregation also aus drei verschiedenen Perspektiven normativ problematisch: (1) sie führt zu expressiven Verletzungen, (2) sie wird von Ungerechtigkeiten verursacht, wird darin verkörpert und produziert solche Ungerechtigkeiten und (3) sie ist ein Hindernis für die Realisierung des demokratischen Ideals. Sich auf normative und deskriptive Überlegungen stützend, wendet sich Anderson anschließend dem Entwurf eines „integratio­nistischen Programms“ als praktisch-leitendem Lösungsvorschlag für die bis­her diagnostizierten Integrationsdefizite zu. Dafür unterscheidet sie zunächst zwischen vier Stadien der Integration, die im weiteren Sinne als Fähigkeit ver­standen wird, an allen relevanten Bereichen der sozialen Interaktion gleichbe­rechtigt teilzunehmen: Neben der Abschaffung segregativer Normen und In­stitutionen zielt Andersons Programm auf räumliche Integration (Nachbar­schaften, Schulen, usw.) und auf gleichberechtigte Kooperation in formellen (z.B. Arbeit) und in informellen Kontexten (Familie, Freundschaften, usw.) ab. Um das Profil ihres Programmentwurfes zu schärfen, vergleicht sie ihn zudem mit alternativen Modellen des Umgangs mit sozialer Ungleichheit. Dabei handelt es sich nicht um bloß theoretische Konstruktionen, sondern um Muster institutionalisierter Praktiken, deren Wert an ihren praktischen Konsequenzen festzumachen ist. Während historisch-kompensatorische, „diversity“-orientierte und „diskriminierungsblockierende“ Handlungsmodelle einen gewissen Erfolg bei der Milderung der negativen Konsequenzen von Diskriminierung aufweisen können, ist nur das integrationistische Programm dazu in der Lage, neben ihren unmittelbaren Effekten auch ihre tiefgreifenden sozialen Ursachen abzuschaffen.

In den letzten zwei Kapiteln ihres Buches setzt sich Anderson mit zwei umfangreichen, alternativen Modellen zum integrationistischen Programm auseinander. Dabei zieht sie einen wichtigen Einwand in Betracht, der aus den beiden von ihr eingenommenen Perspektiven erhoben werden kann. Die erste Alternative nennt sie „colour-blindness“ und rechnet ihn konservativen politi­schen Positionen zu. Colour-blindness-Anhänger plädieren dafür, dass alle Men­schen, unabhängig von ihrer Hautfarbe, gleich behandelt werden sollen. We­der als moralisches Prinzip noch als politisches Programm oder als soziales Ideal hält Anderson diese Position für überzeugend. Vor allem wirft sie dieser Position vor, auf einem kategorialen Missverständnis zu beruhen: „race“ wird dabei als eine substantiell bestimmte Gruppe mit wesentlichen Merkmalen (traditioneller Begriff) verstanden, nicht als eine historische, gewissermaßen willkürliche Konstruktion, die aus ungerechten Machtbeziehungen entstanden ist und zu deren Fortdauer beiträgt (kritischer Begriff). Gerade diese letzte Verwendung des race-Begriffs als racialized group führt vor Augen, dass nur durch eine aktive, race-bewusste Politik Ungerechtigkeit bekämpft werden kann.

Anderson setzt sich mit den – großenteils psychologischen – Kosten auseinander, die Integrationsprozesse häufig mit sich bringen, und welche die Wünschbarkeit ihres integrationistischen Programms in Frage stellen. Sie ge­steht zwar ein, dass im Kontext engerer Beziehungen zwischen Mitgliedern unterschiedlicher Gruppen häufige und unmittelbare Erfahrungen von Stig­matisierung und Gewalt zu erwarten sind, die sonst nicht auftreten würden. Trotzdem hält Anderson es für empirisch erwiesen, dass Integration langfris­tig positive Folgen hat, die die negativen Konsequenzen der Segregation für die Mitglieder einer racialized group überwiegen. Dieser Einwand wird meis­tens aus einer multikulturalistischen Perspektive erhoben: Multikulturalisten plädieren für die Unterstützung mancher segregativer Prozesse, da sie sich der Rolle der Gruppenaffiliation für die Identitätsformung des Individuums be­wusst sind. Anderson akzeptiert zwar diese multikulturalistische Prämisse, nicht aber ihre ethnozentrischen Konsequenzen. Gegen Iris Marion Young und andere plädiert sie für die Verstärkung einer „wir“-Identität, die über Gruppenaffiliation weit hinausgeht und die Möglichkeitsbedingung sozialer Kooperation auf der nationalen Ebene darstellt. Im Einklang mit ihren me­thodologischen Prämissen betont sie schließlich den Realismus ihres Lö­sungsvorschlags. Auch wenn die Realisierung von Integration in der heutigen US-amerikanischen Gesellschaft noch weit entfernt ist, basiert ihr Vorschlag auf empirisch untermauerten Diagnosen und Analysen aktueller Bedingungen sowie auf dem Potential vorhandener integrativer Praktiken, die Grund zur Hoffnung bieten.

Auch wenn Andersons Buch einen überzeugenden Beitrag zur Debatte über die Fragen der Gruppensegregation und Ungleichheit darstellt, bleiben zwei wichtige Aspekte unberücksichtigt. Erstens mangelt es Andersons An­satz an einer systematischen Darstellung der normativen Quellen ihrer Ana­lyse. In welcher Beziehung steht „expressive Verletzung“ zu Demokratie und Gerechtigkeit? Auf welcher Basis kann soziale Unterdrückung von anderen schwächeren, ungerechten Interaktionsweisen unterschieden werden? Inwie­fern überlappen sich Legalität und Moralität in ihrer Reflexion? Diese und andere Fragen scheinen im Laufe ihrer Argumentation oft nur implizit, gele­gentlich aber auch gar nicht behandelt zu werden. Zweitens ist sich Anderson bei ihrer Kritik des Multikulturalismus dessen bewusst, dass das integrationis­tische Programm nicht auf alle Formen der Gruppenzugehörigkeit verzichten kann. Wahrscheinlich könnte man Andersons These anhand des folgenden Prioritätsprinzips verstehen: Im Falle von Unverträglichkeiten zwischen eth­nozentrischer, interner Gruppensolidarität und bekräftigender, integrativer Politik sollte letztere immer bevorzugt werden. Aber in diesem Kontext und im Anschluss an Deweys Pragmatismus – der für Anderson eine wesentliche Referenz darstellt - könnten wir uns auch noch fragen, ob die Wünschbarkeit der Anwendung einer bestimmten Politik nicht wiederum kontextabhängig ist. Auch wenn wir mit Anderson annehmen, dass Integration unter den heu­tigen Bedingungen eine dringende Notwendigkeit für die US-Gesellschaft darstellt, brauchen wir trotzdem zusätzliche Kriterien, um konkrete Situatio­nen zu identifizieren, in denen interne Gruppensolidarität wünschenswerter als eine „Wir-Identität“ sein kann. Bei Anderson bleibt offen, ob man im Rahmen dieser Aufgabe der Artikulation so­zialer Erfahrungen benachteiligter Individuen und ihrer eigenen Evaluation der Kosten von Segregation bzw. Integration eine stärkere Bedeutung zusprechen sollte.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Anderson ausgehend von einem relationalen Erklärungsansatz von Gruppendifferenzen die komplexe Interaktion von Segregation, Diskriminierung, Ungleichheit und Stigmatisie­rung vor Augen führt, die den aktuellen sozialökonomischen Ungleichheiten zwischen Individuen verschiedener Rassenzugehörigkeiten zugrunde liegt. Andersons ausführliche Analyse von empirischem Material zeigt, dass im Rahmen dieser komplexen Interaktion dem Phänomen der Segregation eine vorrangige kausale Rolle zuzusprechen ist. Dementsprechend muss die Ab­schaffung von geographischen und institutionellen Spaltungen zwischen Menschen verschiedener Hautfarben das prioritäre Ziel eines politischen Pro­gramms sein, das die Überwindung sozialer Ungerechtigkeiten anstrebt. Da Segregation zudem unmittelbar oder durch die Hervorbringung von Un­gleichheiten grundlegende demokratische Prozesse unterminiert, stellt das in­tegrationistische Programm sowohl aus der Perspektive der Gerechtigkeit als auch der Demokratie einen moralischen Imperativ für die heutige ameri­kanische Gesellschaft dar. Dieses Programm ist aus praktischen sowie aus normativen Gründen wünschenswerter als politische Initiativen, die entweder Hautfarbe als handlungsrelevante soziale Kategorie leugnen (kon­ser­vatives Programm) oder Gruppenidentitäten verstärken wollen (multi­kultu­ralis­tisches Pro­gramm). Anderson erwähnt schließlich Schwierig­keiten unter­schiedlicher Art, die mit der Implementierung des von ihr entwickelten integrationisti­schen Programms verbunden sind. Ihr bleibt die Hoffnung, dass sich nicht nur staatliche, sondern auch zivil­gesell­schaftliche Akteure über die Vorteile integrativer Praktiken bewusst werden – derart, dass sie Inte­gra­tion zum Teil ihres sozialpolitischen Projekts machen wollen.

Literatur

Tilly, Charles. 1999. Durable Inequality. Berkeley/Los Angeles (CA): University of California Press.

Young, Iris Marion. 1990. Justice and the Politics of Difference. Princeton (N.J.): Princeton University Press.

© 2013 Zeitschrift für philosophische Literatur, ISSN 2198-0209, lizenziert unter CC-BY-ND-3.0-DE