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Zeitschrift für philosophische Literatur 1.1 (2013), 76–85

Terry Pinkard: Hegel’s Naturalism. Mind, Nature, and the Final Ends of Life. Oxford: Oxford University Press 2012. xii, 213 Seiten. [978-0-19-986079-1]

Rezensiert von Jan Müller (Technische Universität Darmstadt)

„Hegel’s Naturalism“ ist ein außergewöhnliches Buch. Auf kaum 200 Seiten präsentiert es eine in sprachlicher Transparenz und sachlicher Folgerichtigkeit mitreißende Rekonstruktion dessen, was nach Pinkard Hegels philosophi­sches Projekt ausmacht. Tatsächlich zeigt der Problemtitel vom „Hegel’schen Naturalismus“ zum einen die argumentative Einheit von Pinkards früheren Studien (u.a. Pinkard 1996, 2002) an, zum anderen soll er mit Hegel eine Antwort auf die gegenwärtig zu Recht vieldiskutierte Frage nach Status und Funktion der Rede von „menschlicher Natur“ in Philosophien des Geistes und des Handelns andeuten. Dieser zweite Strang ist noch spannender als die gewohnt feinsinnigen und textnahen Hegel-Interpretationen (die Pinkards Buch freilich auch enthält). Pinkard liest Hegel als „Post-Hegelian“ (Kap. 7). Das muss, weil Hegel kein Hegelianer war, orthodoxe Hegelianer wie Hegel-Verächter gleichermaßen provozieren – die einen durch die Behauptung, He­gel trage zur gegenwärtigen neo-aristotelischen Metaphysik der Praxis und zur Metaethik Unerwartetes bei, die anderen durch den Umstand, dass dieser Beitrag nichts mit den altbekannten Gemeinplätzen akademischer Hegelia­nismen zu tun hat.

Die Rede von Hegels „Naturalismus“ markiert zunächst eine Problem­lage: Menschliches Leben ist fraglos irgendwie „natürlich“, ein Teil indispo­nibler Natur. Zugleich würde ein naiver Rückgriff auf „Natürlichkeit“ prak­tisch-sittliche ebenso wie metaphysische Fragen nur um den Preis eines Kate­gorienfehlers beantworten: „[W]hen human mindful agency arrives on the planet […, such issues] can only be formulated in terms of the human form of life as self-consciousness“ (23). Im Licht menschlichen Lebens (des „Geis­tes“) funktioniert der Hinweis auf „Natur“ kategorial anders als in naturalisti­schen Reduktionismen. Der Bezug auf „menschliche Natur“ erfüllt eine drei­fache kritische Funktion: Er soll erstens Reduktionismen verhindern, indem „Natur“ vom Menschen her konzipiert wird. Zweitens wird die rationalisti­sche Selbstbescheidung, Erbe des Kantischen Projekts (Pinkard 2002: Kap. 11), dadurch neu justiert, dass die Formen des Denkens und Urteilens über­haupt als Moment menschlicher Tätigkeit verstanden werden. Sie sind darin „natürlich“, dass sie individuell indisponibel und wesentlich sind; ihre Entwicklung ist zugleich Ausdruck der Entelechie der menschlichen Lebens­weise: „We try to make a home in the world, we fail at it, and the story to be told about this is not a purely psychological or austerely historical story but something else. […] Ultimately, the final end of our lives is self-comprehen­sion, that is, knowing what it is to be a self-interpreting animal and knowing what follows from that“ (9).

Das liefert die Topographie von Pinkards Hegel-Rekonstruktion und er­klärt die Zweiteilung des Buchs: Zunächst wird als Naturbestimmung menschlicher „self-interpreting animals“ (Charles Taylor) erläutert, sich zu dem allererst zu machen, was sie ihrem Wesen nach sind und angemessener Weise sein sollten. Dabei ist die „Finalität“ menschlicher Lebensform immer schon vermittelt über die Geschichte, in der Menschen ihre Finalität reflexiv thematisiert und modelliert haben (6). Der zweite Teil des Buchs argumentiert folgerichtig, dass zu solcher Finalität die Einbettung menschlicher Selbstver­hältnisse in ein modernes Gemeinwesen gehört: Wenn seine reflexive Thematisierung wesentlich zu ihm gehöre, dann sei das „beste Gut“ nicht mehr einfach als eudaimonia begreifbar, sondern allenfalls so, dass die Institutionen mensch­lichen Zusammenlebens ihre (und deren) Selbstreflexion widerspiegeln. Dass damit ein naives, ungebrochenes individuelles Selbstverhältnis unvorstellbar wird, ist für Pinkards Hegel bestimmend für moderne Subjektivität (180): Die Wirklichkeit des gelingenden, freien Lebens ist in pluralistischen, arbeitsteiligen modernen Gesellschaften eine praktische Aufgabe, deren punktuelles Gelin­gen die Einsicht in die soziale und praktische Form des „Raums der Gründe“ voraussetzt, aber nicht durch sie gesichert ist: „If for a modern agent to under­stand himself, he must take on the commitment that his final end (his basic, ground-level understanding of what it means to be human) is that of being at one with himself in terms of freedom […], then the fragmentation and pluralization of goods in modern life can be rethought, and there emerges a kind of reconciliation to our own fragmentation that would otherwise not be possible“ (173).

Der erste Teil des Buchs entwickelt also, vorrangig am Übergang der Naturphilosophie zur Philosophie des Geistes in der Berliner „Enzyklopä­die“, wie die aristotelische Konzeption der eudaimonia für Hegel in „metaethi­scher“ wie geistphilosophischer Hinsicht das Modell abgibt. Als Vorstellung eines gelingenden Gesamtlebensvollzugs, der sein Maß in dem hat, was der Lebensform des Menschen angemessen ist, führt sie exemplarisch den natür­lichen, d.h. indisponiblen und wesentlichen Zusammenhang zwischen dem Maßstab eines guten Tätigseins und seinem Vollzug vor: Gut handeln heißt handeln, wie es dem eigenen Wesen entspricht; Hegel spricht von der Idee des „Beisichseins“. Allerdings trifft diese Erläuterung vernünftig Tätige nicht – denn bei ihnen stellt sich unmittelbar die Frage, ob und wie ein Tätigsein seine Norm erfüllt; die Frage charakterisiert die „Natur“ (18–20). Vernünftig Tätige sind allenfalls im Anderen bei sich. Pinkard entwickelt zwei Perspektiven dieses Arguments: Einerseits ist „Subjektivität“ eine natürliche Kategorie, gleichsam die Verlängerung der tierischen „Begierde“ – versteht man das nicht, dann fielen Absicht und Norm des Handelns prinzipiell auseinander (25–27). Andererseits ist menschliche Subjektivität gegenüber der („idealisti­schen“, weil von ihrem Gegenstand kategorial ununterschiedenen) tierischen eine als Subjektivität andere Subjektivität. Erst in ihrem Licht, so Pinkard, lasse sich von der „entzauberten Natur“ überhaupt sinnvoll sagen, dass sie „strebe“ (23). Das menschliche „self-interpreting animal“ „distinguishes itself (as leading a life) from its perspectives on the world it inhabits, and in doing so, it subjects itself to norms that constitute what it is for such an act of making distinctions to take place at all“ (30). Insofern sei das Selbstbewusstsein „die Wahrheit“ des Bewusstseins: Man versteht nur, dass bereits unmittelbar in Anschauung begriffenes Bewusstsein unter einem normativen Anspruch steht, wenn man vom selbstbewussten Bezug auf Wahrnehmungsgehalte als Gründe her denkt (phänomenal ist „sinnliche Gewißheit“ von animalischer „awareness“ ununterscheidbar). Weil Wahrnehmungsgehalte Gründe für Überzeugungen sein können, ist menschliche Wahrnehmung im „Raum der Gründe“ beheimatet (52–53). Analog gilt für das Wollen und das Begehren: Erst die reflexive Differenzierung von Vorsatz, Handeln und realisiertem Zweck macht verständlich, wie der Bezug auf eine unmittelbare „Begierde“ funktioniert. Die Nennung der Begierde beinhaltet dabei bereits eine reflexive Distanzierung, die erst ein anderes, nicht begehrendes, sondern auf wahrheits­fähige Repräsentation zielendes Verhalten zum Begehrten (49–53) ermöglicht. Diese Distanzierung erlaubt es zugleich, die Begierde als eine mögliche – damit aber nicht mehr als unmittelbares movens animalischer Bewegung, sondern als Handlungsgrund – anzusprechen (weshalb Handeln lediglich die „Übersetzung“ des Denkens ins Medium leiblicher Bewegung sei; 31).

Beide, die „theoretisch“-betrachtende und die „praktisch“-handelnde Perspektive, verweisen von sich aus auf eine wirkliche, verkörperte Praxis des Gründe-Gebens (59). Man kann das zuspitzen: Vernunft ist nur als soziale wirklich. Daraus folgt aber, dass nicht nur vielfältige Begierden, sondern auch begründete Handlungsgüter stets konfligieren können. Für die wirklichen Indi­viduen und ihre singulären Vollzüge scheint die Vorstellung gelingenden Le­bens als „Beisichsein im Anderen“, also in dieser gemeinsamen Praxis, kaum angemessen – denn ein solches Individuum wird im Konflikt mit den Gel­tungs- und Handlungsansprüchen Anderer kaum durch die Auskunft beru­higt, dass auch diese fremden Ansprüche Ausdruck der angemessenen Le­benstätigkeit menschlicher Wesen seien. Im praktischen Konflikt ist gerade das fraglich: Ob widersprechende Verwendungen des Ausdrucks „gut“ in der Beurteilung von Tätigkeiten (gut zu handeln, Wahres zu behaupten, etc.) demselben Prinzip folgen. Damit stehe „the realization of […] ‚abstract consciousness’“ auf dem Spiel (62): Die Fragmentierung und Vervielfältigung möglicher Güter gefährde den Fortbestand der sozialen Vernunftpraxis als durch geteilte Prinzipien, Vorverständnisse und Weltanschauungen zusam­mengehaltenes Kollektiv.

Die „Herrschaft-Knechtschaft“-Figur soll diese Gefahr und ihre Über­windung verständlich machen und zum zweiten Teil überleiten. Pinkards Umgang mit dieser Figur offenbart allerdings eine bemerkenswerte, für das ganze Buch charakteristische Spannung. Sie zeigt, worin sich Pinkards Rekon­struktion methodisch auch von ausdrücklich verwandten „posthegeliani­schen“ Interpretationen – etwa Robert Pippins (2010: Kap. 2), der entschlos­sener historistisch argumentiert, und Pirmin Stekeler-Weithofer (2005: Kap. 9–11), der konstruktivistische Motive stärker betont – unterscheidet: Pinkards Rekonstruktion expliziert bewundernswert genau die Ansprüche und Folge­rungen, die sich aus Hegels Denk-Figuren und Narrativen ergeben – auch dann, wenn sie zu echten denkerischen Zumutungen geraten. Allerdings schlüpft Pinkard mitunter gerade in systematischen Rekonstrukionen in die Rolle eines (bei aller Sympathie) unbeteiligten Interpreten, der Hegels Pro­vokationen unbeeindruckt notiert. So könnte man sagen, dass Pinkards skru­pulös genaue Darstellung präzise die Stellen sichtbar macht, an denen ein scheinbar unschuldiges Modell typische Fallstricke der „post-hegelianischen“ Hegeldeutung provoziert: Spricht Hegel in „Herrschaft und Knechtschaft“ faktiv von (realen, historischen) Herrschaftsverhältnissen? Oder nutzt er die Bekanntschaft des Publikums mit Herrschaftsverhältnissen, um einen begriff­lichen Punkt zu exemplifizieren? Pinkard nennt beide Perspektiven. Er liest die „Herr-Knecht“-Figur einerseits als Modell für die Spannung zwischen der Allgemeinheit eines normativen Anspruchs (des guten Handelns, des richti­gen Erkennens) und seiner singulären Übernahme. So verstanden erläutert die Figur den Begriff des vernünftigen Selbstverhältnisses durch die Spannung, sich als freies Subjekt wesentlich unter eine allgemeine Form zu bringen und trotzdem mit der Singularität des wirklichen, eigenen Tuns konfrontiert zu sein; oder die Spannung, einen Grund als an sich überzeugend hinnehmen zu müs­sen, auch wenn seine Konsequenzen den eigenen, singulären Begierden zuwi­derlaufen (69–71). „Herrschaft“ markiert die Perspektive solcher überpersön­licher Geltung; „Knechtschaft“ die Perspektive darauf, wie solche Geltung realisiert wird, indem man sich öffentlich und für alle sichtbar ihrem Anspruch unter­wirft (69). So erläutert Pinkard, anspruchsvoll genug, die kategoriale Form menschlichen Denkens: soziales Selbstbewusstsein.

Andererseits lässt Pinkard die „Herr-Knecht“-Figur in einer onto- und phylogenetischen Konstitutionsgeschichte von Selbstbewusstseinen bzw. der sozialen Vernunftpraxis im Ganzen auftauchen. Die Geschichte vom „Kampf auf Leben und Tod“ konfrontiert dann nicht ironisch zwei fichteanisch kon­zipierte Subjekte, sondern erzählt eine Stufe im Prozess der individuellen Ein­führung in, und der kollektiven Zivilisierung von, faktiv vorgestellten Ver­nunftpraxen (64f., 68ff.).

Beide Deutungsstränge lassen sich freilich begründen: Der historisch-ge­netische Strang hält fest, dass die normative Gestalt vernünftiger Praxis veri­tables Produkt menschlichen Handelns ist. So kann man verstehen, weshalb die Kategorie des Selbstbewusstseins erst in der modernen bürgerlichen Ge­sellschaft wirklich wurde. Der kategoriale Strang unterstreicht umgekehrt den allgemeinen, nicht historistisch auflösbaren Geltungsstatus kategorialer Re­konstruktionen (andernfalls führe die Einsicht in die historische Rückgebun­denheit des Denkens nur zu einem „blandly self-contradictory muddle“, 188). Irritie­ren muss nur, dass diese Spannung ungelöst mitgeführt wird – denn der Sache nach handelt es sich um dieselbe Spannung, die bereits die Kernthese von Pinkards „disenchanted naturalism“ kennzeichnete: Dass nämlich die Ent­wicklung des animal rationale dazu zwinge, den animalischen Aspekt radikal von seiner rationalen Transformation her zu denken. „The human agent […] actualizes something that is already in play in animal life, but, as put to work in that way, becomes fundamentally different from it“ (48). Dieser Satz nennt keine Lösung, sondern formuliert ein Rätsel: Entweder ist das menschliche Handlungsvermögen aufgrund seiner naturgeschichtlichen Genese wesentlich eine Variante des animalischen – dann macht der Zusatz von Vernunft aus ihm etwas anderes, aber nichts fundamental anderes. Oder die Rede von der wesentlichen, fundamentalen Transformation ist ernst gemeint – dann funktio­niert der Verweis auf „Natur“ wenigstens nicht mehr im unterstellten Sinne fundierend.

In Pinkards Deutung umfasst Hegels Naturalismus beide Perspektiven: „The nature of an agent is second nature, and thus the agent’s nature is never simply given to the agent but is continually being refashioned as it is appro­priated as the agent’s own nature. […] Its life as second nature is an achieve­ment, not something it merely expresses. Its nature is to remake its nature.“ (99) So bringt Pinkard beständig (und immer einschlägig!) zwei auf unter­schiedlichen Sprach- und Reflexionsebenen angesiedelte Perspektiven zu­sammen, ohne ihr Spannungsverhältnis explizit zu entwickeln: Die phäno­menologischen Differenzierungen des menschlichen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsvermögens liest er einerseits als Reflexionen darauf, wie ver­nünftige Fähigkeiten auch in Erscheinung treten können, ohne dabei schon viel von ihrem Wesen zu verraten, und andererseits als Nennung genetischer Vorstufen echter Vernunftfähigkeiten (45–57); die historische Entwicklung der bürgerlichen Lebensweise fungiert einerseits als Moment der konkreten Gestalt der aktuell wirklichen Denkform, andererseits als Mittel der (überindi­viduellen) Hervorbringung dieser Denkform (71–74); die Rolle (na­tur)wissenschaftlichen Wissens für „Hegels Naturalismus“ schließlich besteht einerseits darin, unbeschadet seines materialen Gehalts die wissenschaftliche Denkform zu exemplifizieren und sichtbar zu machen, andererseits scheint auch den Gehalten dieses Wissens eine argumentative Funktion zuzukom­men, wenn Pinkard (nicht nur diskurstaktisch auf Befriedung einer latent em­piristischen Leser_innenschaft zielend) die Anschlussfähigkeit von Hegels Überlegungen auch an moderne biologische Evolutionstheorien begründen möchte (38, 57).

Ich nehme an, dass diese Unentschiedenheit verschwände, wenn Pinkard seinen Rekonstruktionsvorschlag in seiner ganzen Radikalität ernst nähme. Er müsste dann sagen: So, wie die Unterscheidung von tierischer und menschli­cher Natur erst im Licht des selbstbewusst Menschlichen verständlich wird, funktioniert die Unterscheidung von Selbstbestimmung und Unfreiheit erst im Licht der (wenigstens formalen) modernen politischen Befreiung. In die­sem rekonstruktiven Sinn versteht Pinkard Hegels berüchtigten Doppelsatz, dass das „Wirkliche vernünftig, und das Vernünftige wirklich“ sei. Er besagt, dass man im Begreifen der normativen Struktur menschlicher Praxis metho­disch weder an ihrer Genese noch an ihrer Begründung ansetzen könne, son­dern nur an ihrer praktischen Wirklichkeit, ihrer energeia. Pinkard sagt das aus­drücklich (173); er scheint aber die Konstitutionsgeschichte menschlicher Praxis nicht aufgeben zu wollen, so dass auch der zweite Teil des Buchs unter­gründig von der Spannung zwischen konstitutionstheoretischer und rekon­struktiver Perspektive strukturiert wird.

Das dritte Kapitel zeigt daher überzeugend, wie Hegels „Aufhebung“ der aristotelischen eudaimonia-Konzeption mit ihrer Abstraktheit auch die gefährli­che Suggestion individueller Realisierbarkeit ausräume (99–102). Das Selbst­bewusstsein als „Bei-sich-im-Anderen-Sein“ könne gerade nicht verstanden werden als etwas, das ein Einzelner irgendwie „haben“ könnte. „As self-inter­preting animals, our final end is that of self-knowledge“ (104), und die plurale Formulierung ist entscheidend. Das „final end“ menschlichen Lebens ist for­mal ein menschenangemessenes, reflexives Zusammenleben, das dann zu­gleich als überpersönliches „absolutes Wissen“ (oder allgemeines Wissen in actu) eben dieser Lebensform angesprochen werden kann. Freilich ist diese Lebensform alles andere als unproblematisch, denn sie besteht ja ganz we­sentlich darin, dass eine ausdrückliche Diskrepanz zwischen den allgemeinen Normen, die diese Lebensform strukturieren, und ihrer Übernahme und Er­füllung durch individuelle Handlungssubjekte besteht (121). Die Geschichte der vernünftigen menschlichen Lebensform sei dabei nichts anderes als die Geschichte der Arten und Weisen, in denen mit dieser Diskrepanz praktisch umgegangen wurde (191). Das wollen die Kapitel 4 und 5 am Beispiel der „anti­ken Sittlichkeit“ und der (früh)modernen Rechtsform vertiefen. Die „antike Sittlichkeit“ fungiert hier als Modell für ein scheinbar unmittelbares Aufgehen des Individuums in einer sittlichen Gemeinschaft, eine Vorstellung, die Pinkards Hegel ambivalent beurteilt: Obwohl die Einheits- und Fraglosig­keitsfiktion problematisiert wird (120–123), fungiert die griechische polis doch als positives Beispiel einer Lebensform, die sich ihrer eigenen organischen Verfasstheit reflexiv versichert habe (124). Auch diese Ambivalenz verdankt sich mindestens so sehr dem Hegel’schen Text wie dem methodischen Schwanken Pinkards: Einerseits lässt sich der Bezug auf die griechische polis als früherer Gestalt einer gelingenden Lebensform realhistorisch verstehen; andererseits lässt sich der Modellcharakter akzentuieren. Dann taugt die an­tike Sittlichkeit am Beispiel der polis als Exempel einer idealen, unmittelbaren sittlichen Einheit, die sich im Moment ihrer Thematisierung im Licht moder­ner Sozialität bereits als verfehlt erweist (129). Die Figur der Sittlichkeit will verständlich machen, wie man überhaupt denken kann, dass subjektives Wollen und Handeln unmittelbar die Erfüllung allgemeiner, in Praxis verkör­perter Normen sein könne. Bereits daran, dass diese Erläuterung nötig ist, zeigt sich aber, dass statt „Sittlichkeit“ ein Konflikt bestehe zwischen dem „Recht“, der ausdrücklichen Explikation einer normativen Ordnung, und der „Moralität“, der subjektiv anerkennenden Übernahme von und Verpflichtung durch Normen (142–145). Deshalb ist für moderne Subjekte die unmittelbare Einheit mit einer „sittlichen Gemeinschaft“ ebenso wenig zu haben wie un­mittelbar gelingendes, selbstvergessenes „Beisichsein“ in der eigenen Aktivi­tät.

Pinkards Deutung verdoppelt diese Unmöglichkeit: Einerseits versteht er sie als Effekt moderner „Entfremdung“ und, mit hörbar tragischem Unter­ton, als Anzeichen der „Fehler“ moderner Lebensweisen (116–199). Anderer­seits zeigt er an Hegels Diderot-Lektüre, dass die „Fragmentierung“ und „fehlende Schließung“ der modernen Lebensform nur denen als tragische Zumutung erscheinen könne, die eine solche Schließung ernsthaft für möglich hielten– als Aufgehen in einer Gemeinschaft oder in der Fiktion totaler Au­thentizität. Beides sind aber, wie Pinkard erläutert, begrifflich unsinnige Vor­stellungen und politisch unselige Ideologien. Jede unmittelbare Gemeinschaft unterböte den (freilich praktisch problematischen) Anspruch an ihr Selbstbe­wusstsein (165); die Fiktion der Authentizität wiederum bietet gerade, wie Pinkard an Hegel an „Rameaus Neffe“ eindrücklich zeigt, keine Gewähr, dass, wer ganz authentisch lebt, darum auch ein gutes Leben führt. Pinkard nutzt beide Argumente, um eine Lanze für Hegels Theorie der bürgerlichen Gesell­schaft (und ihrer marktförmigen Binnenstruktur, 155ff.) und für seine mitunter schmerzhaft „realistische“ Charakterisierung der bürgerlichen Staatsapparate (161) zu brechen. Diese Argumentationen sind ein Glanzstück des Buchs: Ein entscheidendes Missverständnis der moralischen Markt- und Staatskritik, so Pinkard, bestehe darin, die Realisierung gelingender Selbst- und Weltverhält­nisse als theoretisches Problem aufzufassen: An diesem Anspruch müssen Mo­delle vernünftiger Gemeinwesen scheitern. Das „Beisichsein im Anderen“ ist aber ein praktisches Problem; es ist je schon, und das heißt: für unsere moderne Denkform unhintergehbar, verstrickt in die sozialtechnischen Mechanismen des Interessenmanagements und die Artikulation von Machtverhältnissen, vulgo: in politische Ökonomie und Politik. Das kategoriale und notwendig „abstrakte“ Medium dieser praktischen Verstrickungen nennt Hegel das „Recht“. Uneinigkeit, „fragmentation“, gehört, so kann man resümieren, zum Begriff moderner Subjektivität (180–181); es charakterisiert die Art, in der wir überhaupt verstehen können, was es heißt, uns frei unter ein Gesetz zu stel­len, das uns wesentlich angemessen ist (184). Pinkard tauft diese Form (mit einer Formulierung aus der „Ästhetik“) treffend das „amphibische Subjekt“. Seine amphibische Lebensweise zeigt sich in der Fähigkeit, urteilskräftig und klug damit umzugehen, dass die „abstrakten“ Formen der bürgerlichen Ge­sellschaft unhintergehbar bestimmen, was es als Individuum überhaupt ist. Obwohl der singuläre Mensch in der allgemeinen Form, dem Recht, nicht aufgeht, bleibt doch kein irgend thematisierbarer „Rest“. Das „amphibische Subjekt“ erwirbt einen Habitus, der ihm einen zugleich ernsthaften und angemessen ironisch-unernsten Umgang mit dieser denkerischen Erfahrung erlaubt: „Amphibians breathe the thin air lying within the twin commitments to truth (‚infinity’) and to their own fallibility (‚finitude’), to the ideals of rea­son and the often prosaic and banal world in which it finds its actualization.“ (186)

Das ist zwar sympathisch, unterbietet aber in doppelter Hinsicht die Reichweite von Pinkards Rekonstruktion: (1) Die Erläuterung der Reproduk­tion vernünftiger Praxis als „amphibisch“-gelassenes, unendliches Projekt, als „[being] in the process of being accomplished“ (188), führt gerade auf der Ebene der Praxisform die „schlechte Unendlichkeit“, das „perennierende Sollen“ wieder ein. Es ist zwar verständlich, dass Pinkard ihr den Vorrang vor der theologisch klingenden Alternative geben möchte (192–195). Dem „Natu­ralismus“ droht indes eine Wiederverzauberung, wenn als Subjekt dieses „ac­complishment“ nur die menschliche Gattung und nicht wesentlich auch der „Geist“ angesprochen wird. (2) Im selben Zug sollte als Wesenszug des „am­phibischen Subjekts“ nicht seine Befähigung zur edel-einfältige Verrichtung „banaler“ Lebensvollzüge hervorgehoben werden (174). „Banal“ erscheinen solche Vollzüge nur dem, der auf ihre Überwindung in einer „geschlossenen“ Lebensform hofft. Pinkard hat Recht, diese Hoffnung irrig und gefährlich zu finden; man sollte am „amphibische Subjekt“ dann nicht so sehr durch seine Gelassenheit, sondern sein notwendiges, teilnehmend-ironisches Engagement im „Handgemenge“ des politischen Lebens akzentuieren.

Dass Terry Pinkard seine Hegel-Deutung noch nicht in diese Richtung weitergetrieben hat, mag man ihm indes nicht vorwerfen. Er hat Hegel in be­eindruckender Weise für eine neue aristotelische Metaphysik gerettet. Zu dis­kutieren wäre, ob man dafür unbedingt Hegels „disenchanted naturalism“ konstitutionstheoretisch wiederverzaubern muss.

Literatur

Pinkard , Terry. Hegel’s Phenomenology. The Sociology of Reason.Cambridge: Cambridge UP, 1996.

Pinkard, Terry. German Philosophy 1760–1860. The Legacy of Idealism. Cambridge: Cambridge UP, 2002.

Pippin, Robert B. Hegel on Self-Consciousness. Desire and Death in the Phenomenology of Spirit. Princeton, NJ: Princeton UP, 2010.

Stekeler-Weithofer, Pirmin. Philosophie des Selbstbewußtseins. Hegels System als Formanalyse von Wissen und Autonomie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2005.

© 2013 Zeitschrift für philosophische Literatur, ISSN 2198-0209, lizenziert unter CC-BY-ND-3.0-DE