Zeitschrift für philosophische Literatur 1.1 (2013), 71–75
Redecker, Eva von: Gravitation zum Guten. Hannah Arendts Moralphilosophie. Berlin: Lukas Verlag: 2013. 126 Seiten. [978-3-86732-166-2].
Rezensiert von Judith Mohrmann (Humboldt-Universität Berlin)
„Gravitation zum Guten“, Eva von Redeckers Studie zu Hannah Arendts Moralphilosophie, lässt sich negativ von der Aussage leiten, Hannah Arendt habe keine eigenständige Moralphilosophie hinterlassen. Dabei spannt Redecker einen Bogen von Eichmann in Jerusalem zu Arendts Spätwerk und schlägt vor, Arendts Moralphilosophie anhand ihrer Überlegungen zum Zusammenhang von Denken und Urteilen zu rekonstruieren. Die Originalität Redeckers liegt darin, Arendts unorthodoxer Aneignung der ästhetischen Urteilskraft Kants im Sinne einer politischen Urteilkraft eine weitere Volte hinzuzufügen und Arendts Urteilstheorie auch als moralische Urteilstheorie zu verstehen. Damit tritt sie der in der Arendtrezeption verbreiteten Trennung von moralphilosophischen und politiktheoretischen Motiven erfrischend entgegen.
Anders als beispielsweise Jerome Kohn oder Seyla Benhabib liest Redecker Arendts Eichmann in Jerusalem nicht als die Essenz ihrer moraltheoretischen Überlegungen, sondern als Zäsur (16). Konzentriere sich Arendt in Eichmann in Jerusalem auf das moralisch Böse, verschiebe sich ihr Fokus danach auf das moralisch Gute. Dabei zeichne sich diese Akzentverschiebung sogar schon im Eichmann-Buch selbst ab: als „weltliche Theodizee“ in Gestalt der Frage, wie die Welt trotz Figuren wie Eichmann ein Ort bleibe, an dem Menschen wohnen könnten (41). Gerade durch die Fähigkeit, das Richtige zu tun, wie sie sich in denjenigen manifestiert, die dem Nationalsozialismus keine Gefolgschaft geleistet haben, bliebe menschliches Zusammenleben möglich, antworte Arendt im Anschluss an den Eichmann-Prozess. Die Frage, wie moralisches Handeln genau zu charakterisieren sei, durchzöge auch ihr Spätwerk. Deswegen, so Redeckers Vorschlag, seien Arendts Überlegungen zur Urteilskraft in ihren Kant-Vorlesungen (Das Urteilen) und ihre Schrift über das Denken im Vom Leben des Geistes auch immer von moralphilosophischen Prämissen geleitet.
Als Einsatzpunkt für Arendts moraltheoretische Überlegungen markiert Redecker eine Einsicht Arendts, welche sie im Eichmann-Prozess gewonnen habe: „Gewissen“ oder „Gewissenhaftigkeit“ seien als moralische Kategorien nicht belastbar. Eichmann habe, so Arendts Aussage, sehr wohl ein Gewissen gehabt, dieses habe aber gegenteilig funktioniert als eigentlich zu erwarten gewesen wäre. Eichmann habe sein Gewissen nicht dazu eingesetzt, sich gegen die Versuchung durch das Böse zu wehren, sondern gegen die Versuchung durch das Gute, welche ihn hätte abhalten können, das zu tun, was er für seine Pflicht hielt, nämlich zur Organisation des Holocausts beizutragen. Da das Gewissen, wie Arendt es an Eichmann beschreibt, prinzipiell der Erfüllung jedweder Zwecke oder jedweder „Moral“ dienlich sein könne, sei das Problem an Eichmann nicht seine Gewissenlosigkeit, sondern, so lautet die These, die für Redecker an Arendts Eichmann-Buch in nuce zu finden ist, Eichmanns geradezu verblüffender Mangel an Vorstellungskraft. Dieser Mangel an Vorstellungskraft habe ihn blind dafür gemacht, was seine Taten anrichteten; ein Defizit, dem Eichmanns Bürokratensprache korrespondiert habe, seine Unfähigkeit, sich anders als in Phrasen auszudrücken.
Damit ist zunächst einmal beschrieben, was Moral nach Arendt nicht sein kann: Moral kann nicht aus stabilen Überzeugungen oder Werten bestehen – denn diese unterliegen immer dem Verdacht, willkürlich und austauschbar zu sein. Mögliche „Gegenkandidaten“ einer Arendt’schen Moralphilosophie rekonstruiert Redecker nun in zwei Zügen, die auf einander aufbauen: Zunächst testet sie den Arendt’schen Vorschlag, entscheidend für moralisches Verhalten sei ein bestimmtes Selbstverhältnis, welches ich zu mir pflegen will. Teil dieses Selbstverhältnisses sei, dass man wohl nicht mit sich als Mörderin zusammenleben möchte (13, 56ff.). Arendt nennt als Beispiel für ein solches Selbstverhältnis Sokrates: Es gehe beim moralischen Verhalten weniger um „die anderen“ als darum, wer ich sein wolle. Das Selbstverhältnis, der denkende Umgang mit sich selbst, erscheint aber aus einigen Gründen nicht ausreichend, um moralisches Verhalten hervorzubringen. Arendt selbst wendet ein, der Anspruch an den einzelnen, eine solche Form des Selbstverhältnisses zu pflegen, sei schlicht unrealistisch.
So wendet sich Redecker Arendts Spätwerk zu, um ihre Moralphilosophie jenseits von Gewissen und Selbstverhältnis zu diskutieren. Dort sind es Denken und Urteilskraft, welche zur Richtschnur für moralisches Handeln werden. Denken als Tätigkeit, wie Arendt es in Vom Leben des Geistes behandelt, bilde dabei eine Vorstufe, um zu moralisch richtigen Überzeugungen zu gelangen. Zunächst habe das Denken, die Tätigkeit des Denkens, eine auflösende Funktion, in welcher handlungsleitende Grundüberzeugungen in Frage gestellt werden. Das heißt, der Prozess des Denkens ist nicht teleologisch, es liegt nicht in seiner Natur, Ergebnisse propositionalen Gehalts zu erzielen. Vielmehr sei Denken selbst ein nicht-abschließbarer Prozess, der alle vorläufigen Feststellungen immer wieder auflöse und in Zweifel ziehe. Obwohl das Denken selbst nicht zu Urteilen und handlungsanleitenden Maximen gelangen könne, so Redeckers These, gebe es dennoch einen Zusammenhang zwischen beiden: Die „ausräumende“ (80) Seite des Denkens sei es, welche befreiend auf die Urteilskraft wirke, was laut Redecker aber nicht als starke Lesart in dem Sinne gedeutet werden sollte, dass das Denken die Urteilskraft automatisch in Gang setze. Vielmehr sei das Denken, so Redecker gegen Bernstein und Canovan, eine Minimalbedingung, die die Urteilskraft in Bedingung setzen könne, aber nicht müsse.
Um die Arendt’schen Thesen zum Denken mit einer Theorie des moralischen Urteilens zu verbinden, wendet sich Redecker Arendts Kantrezeption in Das Urteilen zu. Eine genauere Konzeption des Urteilens entnehme Arendt in erster Linie Kants Theorie der Urteilskraft, welche sich bekanntlich an ästhetischen Urteilen orientiert. Diese radikale Rekontextualisierung der kantischen Urteilstheorie, sie nämlich nicht mehr auf ästhetische Phänomene zu beziehen, sondern sie im Sinne einer Philosophie der erweiterten Denkungsart und der Einbildungskraft auszubauen (92ff.), erlaubt es Arendt Redecker zufolge, eine Urteilstheorie zu entwerfen, die nicht regelgeleitet sei. Jede regelgeleitete Urteilstheorie, so der Anschluss an die Eichmann’sche Dogmatik des Gewissens, liefe nämlich Gefahr, bloß regelgeleitetes Verhalten zu produzieren. Stattdessen suche – und finde – Arendt im ästhetischen Urteil eines, welches sich am je besonderen Fall orientiere. Das ästhetische Urteil auch für das moralische Urteil in Anschlag zu bringen, habe seine Gründe darin, dass es strukturell ähnlich arbeite: Entscheide die ästhetische Urteilskraft nur über den jeweiligen ästhetischen Gegenstand, urteile die moralische Urteilskraft durch den Abgleich mit „exemplarischen Fällen“ (98) über eine einzelne Handlung. Gerade weil die Urteilskraft nicht regelgeleitet sei, sei sie gegen die Vorwürfe, die das Gewissen treffen, gefeit (87). Dabei sei das Denken diejenige Tätigkeit, die „dem gedankenlosen Sprachgebrauch und Regelfolgen“ (107) vorbeuge und damit erlaube, dass etwas überhaupt zum Gegenstand moralischen Urteilens werde.
Damit widerspricht Redecker einer binären Lesart, welche die Fokussierung auf die Urteilskraft als Fortsetzung der kontemplativen Denktätigkeit und damit genau als Gegensatz zum tätigen Leben der Vita Activa sieht. Laut Redecker ist das Denken in Arendts Überlegungen zum Urteilen aber genau der Teil des Denkens, der nicht kontemplativ ist, sondern einen Weltbezug herstellt (64). Der entscheidende Zug, Denken und Urteilen nicht als kontemplative Tätigkeit zu fassen, besteht darin, die Pluralität für das Urteilen zurückzugewinnen (90). Die Urteilskraft stehe nämlich dem Solipsismus der einzelnen Person entgegen, da sie auf der erweiterten Denkungsart beruhe und ihr Verfahren – nicht ihr Gegenstand, wie Redecker betont – damit politisch seien (111): „In der Operation der Reflexion trägt sie der Tatsache Rechnung, die nach Arendt den Grund aller Politik ausmacht –, daß nicht ein Mensch, sondern viele Menschen auf der Erde leben.‘ Die Pluralität der anderen Perspektiven muss aber vorgestellt werden.“ (112) Dieser Pluralität der Perspektiven gewinne Arendt eine moralphilosophische Pointe ab, und zwar dadurch, dass man sich vorstelle, wie die Welt nach der eigenen Handlung aussehen würde, wobei diese evaluative Praxis die Standpunkte der anderen mit ein bezieht. Gerade die Pluralität im Urteil, das heißt die Vorstellungskraft, sei dasjenige, was das Denken vom Selbstbezug lösen kann. Das heißt, dass das beschriebene Selbstverhältnis von Arendt um ein Weltverhältnis ergänzt wird.
Auch die Frage nach dem das Denken begleitenden Selbstverhältnis lässt sich so noch einmal neu stellen: Der „Ratlosigkeit“ (78), die aus der auflösenden Komponente des Denkens folgt, steht insbesondere eine positive Bestimmung des Denkens gegenüber: Dass man im Zustand des Denkens nicht selbstidentisch ist, sondern gewissermaßen „zwei in eins“ sein kann. Dieser Selbstumgang ist nichts, was angeboren wäre, er ist eine bestimmte Art und Weise, mit sich selbst Umgang zu pflegen und im Dialog mit sich zu stehen (61). So kann dieses Selbstverhältnis verschiedene Ausprägungen haben, man kann mit sich demzufolge in Übereinstimmung oder in Disharmonie stehen (79). Wünschenswert für das Selbstverhältnis sei jedoch ein Umgang, der zwar nicht konfliktfrei, aber von möglichst wenig Dissonanz geprägt sei.
Redeckers Rekonstruktion der Arendt’schen Thesen ist in weiten Teilen überzeugend strukturiert, gut lesbar und klug argumentiert. Natürlich lassen sich zu den Thesen mögliche Einwände formulieren. Denn auch wenn man Redecker prinzipiell folgt und die vordergründig politische Urteilstheorie moralphilosophisch liest, drängen sich beispielsweise einige Fragen zu dem von Arendt postulierten Zusammenhang von Denken und Handeln bzw. der moralischen Qualität des Zusammenspiels beider auf. Wenn das Denken alle unsere Wertvorstellungen auflöst, bekommt es, wie Arendt mit Nietzsche zugesteht, eine gewisse nihilistische Qualität (77). Damit stellt sich aber umso dringender die Frage, wie die „Leere“ nach dem Denken wieder gefüllt werden kann – und zwar mit einem moralischen Urteil. Die Urteilsbildung beruht laut Arendt auf der „erweiterten Denkungsart“, einem Begriff, den sie von Kant übernimmt. Damit wird die Frage nach dem denkenden Selbstverhältnis – ich möchte nicht mit einem Mörder zusammenleben – durch eine plurale Perspektive ersetzt. Die Frage, die man sich vor dem moralischen Handeln stellen sollte, sei, so Arendt, wie es aussähe, nachdem man gehandelt habe. Offen bleibt dabei aber, ob Arendt in dieser Frage, genauer: der Beurteilung der Situation, wie sie sich ex post darstellt, nicht schon wieder selbstverständliche Maßstäbe voraussetzt und voraussetzen muss. Eine ebensolche Intuition scheint auch Arendt gehabt zu haben: Richtige, in einem emphatischen Sinne moralische Sätze müssen, so rekonstruiert Redecker Arendt, axiomatischen Status haben. Sie sind nicht beweisbar oder ableitbar (53). Dies liegt weniger an dem Regress, in welchen ein solch regelgeleitetes Verhalten führt, als an dem Charakter moralischer Sätze: Wer danach fragt, wie die eigenen moralischen Überzeugungen weiter begründbar sind, vertraut den eigenen Überzeugungen nicht – und hat damit keine Moral (53). Dieser von Arendt und auch von Redecker beschriebene axiomatische Charakter moralischer Überzeugungen scheint bei Arendt zwar in Zusammenhang mit dem Selbstverhältnis zu stehen, neben den Überlegungen zum Denken und Urteilen aber eher parallel zulaufen – und nicht notwendigerweise Produkt derselben zu sein.
Darüber hinaus ließen sich auch Gegeneinwände, diesmal gegen Arendt selber, gegen die optimistische Rolle der Einbildungskraft formulieren: So attestiert Arendt Eichmann einen eklatanten Mangel an Vorstellungskraft; er habe sich, so auch Redecker, schlicht nicht vorstellen können, was sein Handeln in der Welt bewirke. Das ist natürlich gut möglich, genauso gut möglich ist aber, dass es ihm schlicht egal war. Gerade dass er sich anmaßte, zu beurteilen, mit wem er die Erde teilen wollte, ist ja auch Teil von Arendts Verdikt über Eichmann. So schien er sich nicht nur gut vorstellen zu können, in einer Welt ohne Juden zu leben, sondern dieses Ziel zudem – wenngleich leidenschaftslos – zu bejahen.
Dass Redecker diese Einwände nicht selbst vorbringt, ist wohl dem Fokus auf der Auseinandersetzung mit der einschlägigen Arendtrezeption sowie dem von vornherein begrenzten Umfang einer Magisterarbeit, aus welcher das Buch hervorgegangen ist, geschuldet.
© 2013 Zeitschrift für philosophische Literatur, ISSN 2198-0209, lizenziert unter CC-BY-ND-3.0-DE