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Zeitschrift für philosophische Literatur 1. 1 (2013), 44–52


Rosanvallon, Pierre: Die Gesellschaft der Gleichen. Übersetzt von M. Halfbrodt. Hamburg: Hamburger Edition 2013. 384 Seiten. [978-3-86854-257-8]

Rezensiert von Anna Hollendung (Universität Bremen)


Angesichts massiver Kürzungen im sozialen Bereich und dem fortgesetzten Abbau des Sozialstaats versucht sich Pierre Rosanvallon, Professor für mo­derne und gegenwärtige Politikgeschichte am Collège de France und Studien­direktor der École des hautes études en sciences sociales (EHESS), an einer Rekonstruktion der Geschichte der Gleichheit in Europa und Amerika. Seine Erzählung profitiert von zentralen demokratietheoretischen Einsichten und macht diese für ein Verständnis der von Rosanvallon als Gleichheitspatholo­gien beschriebenen Phänomene fruchtbar.

Von dem Begründer des Forums „République des Idées“, dem Vorsit­zenden des Online-Magazins „La vie des Idées“ und dem Autoren zahlreicher theo­retischer Aufsätze und Monografien – darunter die erst kürzlich über­setzte Abhandlung über „Demokratische Legitimität“ (Rosanvallon 2010) – gingen in der Vergangenheit einige bemerkenswerte Impulse für die theore­ti­sche Be­gründung demokratischer Gesellschaftsordnungen und deren prak­ti­sche Ge­staltung aus. Nachdem er sich in den 70er Jahren unter anderem mit „L’age de l‘autogestion“ (Rosanvallon 1976) im linken französischen Diskurs als Theoretiker der Selbstverwaltung etabliert hatte, widmet er sich der Suche nach politischen Quellen, die eine Überquerung des Hiatus zwischen Solida­rität und Pluralismus denkbar machen und wand sich der Erforschung der französischen Geschichte zu. Wie Jainchill und Moyn (2004) betonen, stellte er dabei im Anschluss an seine Lehrer François Furet und Claude Lefort den Totalitarismus als eine Gefahr, die der modernen Demokratie in Frankreich inhärent sei, ins Zentrum seines Denkens. So kann seine bisherige Arbeit als ein Antwortversuch auf die „Ambivalenz des demokratischen Projektes selbst“(Jainchill und Moyn 2004: 107, Übersetzung A.H.) gelesen werden.

Im vorliegenden Werk aber gelingt es Rosanvallon, der zur Neuerfin­dung der Demokratie aufruft, nicht, sein theoretisches Anliegen umzusetzen: Sein eklektizistischer Versuch, die Gleichheitsidee in die individualisierte und partikularisierte Gesellschaft der Gegenwart zu überführen, vermag nicht zu überzeugen. Während die historische Rekonstruktion insgesamt theoretisch informiert und flüssig geschrieben ist, ist der auf den letzten 50 Seiten vorge­stellte Versuch einer eigenständigen Theorieentwicklung leider noch völlig unausgereift.

Der Aufbau des Buches

Die Idee der Gleichheit hat offensichtlich ihre hegemoniale Stellung verloren. Dies drückt sich in einem Abbau und einer Umstrukturierung sozialer Siche­rungssysteme und wachsenden Einkommensunterschieden aus, während heute zugleich mehr denn je über die beständig wachsenden wirtschaftlichen Ungleichheiten gesprochen wird.

In den ersten vier Kapiteln seines Buches beschäftigt Rosanvallon sich mit der Genealogie und Entwicklung des Gleichheitsdenkens. Nach der Re­konstruktion des politischen-sozialen Hintergrunds, vor dem die Gleichheit im 18. und frühen 19. Jahrhundert zu einem Schlüsselbegriff werden konnte („I. Die Erfindung der Gleichheit“), zeichnet er mit der „liberal-konservativen Ideologie“, dem „utopischen Kommunismus“, dem „Nationalprotektionis­mus“ und dem „konstitutiven Rassismus“ vier wesentliche Formen nach, in denen sich das Gleichheitsstreben im Laufe des 19. Jahrhunderts gegen sich selbst kehrte („II. Die Pathologien der Gleichheit“). Die Entstehung des Wohlfahrtsstaates ist Thema des dritten Kapitels („III. Das Jahrhundert der Umverteilung“). Anschließend versucht Rosanvallon, die Krise des Wohl­fahrtsstaats seit den 1970er und den massiven Sozialabbau seit den 1990er Jahren als historische Zäsur zu erklären, in der die Akzeptanz der Ungleich­heit in dem Maße wuchs, wie der Glaube an die Umsetzbarkeit der Gleich­heitsidee abnahm („IV. Der große Gegenschlag“). Nach dieser detaillierten Aufarbeitung der Geschichte der Gleichheit plädiert Rosanvallon dafür, „sich auf den revolutionären Geist der Gleichheit zurückzubesinnen“ (306) und versucht, diesen in einen theoretischen Entwurf für die Zeit „des Singulären“ (306) zu übersetzen.


Die Erfindung der Gleichheit

Rosanvallons Ausführungen über die Sklaverei und die amerikanische Vari­ante einer zeitlich auf drei bis fünf Jahre befristeten unfreien Arbeit, die in­dentured labor, zeigen an, auf welchen Grundlagen in Amerika die offene Ver­achtung gegenüber Abhängigkeitsverhältnissen beruhte: Die weit verbreiteten Erfahrungen mit dieser Art der Sklaverei auf Zeit trugen zu einer Mentalität bei, die individuelle Unabhängigkeit als Notwendigkeit verstand. Entspre­chend wurde die soziale Frage vor allem auf die Möglichkeit zur autonomen Lebensführung und weniger auf Einkommensunterschiede bezogen (33–38). Positiv wurde die Gleichheit über die politische Teilhabe bestimmt – die staatsbürgerschaftliche Zugehörigkeit und die partizipative Verwirklichung von Gemeinschaft. Die Selbstwahrnehmung als eine Gemeinschaft der Bür­ger wird in der Forderung, dass jedem (männlichen Bürger) eine (gleichstarke) Stimme zukommen soll, auf den Punkt gebracht (21–91).

Im Anschluss an die Amerikanische und die Französische Revolution wurde Gleichheit als Beziehungsgleichheit gedeutet, die sich in erster Linie gegen den Standesdünkel der Privilegierten und den Adelsrassismus wandte (23–26). In Amerika und in Frankreich entwickelte sich, so Rosanvallon, eine Vorstellung, in der die grundsätzlichen Ähnlichkeiten der Beteiligten beto­nend, von einer Welt der Gleichen ausgegangen wurde (19, 23–32).


Die Pathologien der Gleichheit

Rosanvallon übergeht die Exklusivität des Gleichheitsverständnisses der Re­volutionsära, die in ihren wichtigsten Dokumenten den Ausschluss von bei­spielsweise Frauen fortschrieb. Auch die ausufernde Gewalt, die nicht nur zur Hinrich­tung der Frauenrechtlerin Olympes de Gouges führte und zeit­ge­nössische Beobachter_innen erschütterte, ist Rosanvallon keine weitere Be­achtung wert. Dabei geht es ihm allem Anschein nach nicht, im Anschluss an Jacques Rancière, um einen „Vorgang der Gleichheit“ (Rancière 2002: 42), bei dem die Anteillosen einen Anteil einfordern und dadurch eine Öffnung in die herr­schende Ordnung einführen. Anders als beispielsweise Jainchin und Moyn (2004) es für Rosanvallons früheres Werk nachweisen, scheint er nun von der paradigmatischen Geschichtsinterpretation seines Lehrers François Furet Ab­stand zu nehmen: In der „Gesellschaft der Gleichen“ fehlt jeder Hinweis auf den Terror der Französischen Revolution. Rosanvallon tendiert stattdessen zu einer Idealisierung des revolutionären Gleichheits­verständ­nisses und erhebt dieses zum Maßstab für die späteren Entwick­lungen der Idee der Gleichheit. Die ideologischen Übersetzungen des Gleich­heits­begriffs im 19. und 20. Jahrhundert deutet er dabei als Patho­logien. Diese zeigen Ro­sanvallon zufolge nicht die Deutungsoffenheit und Instrumen­ta­li­sier­barkeit des Gleichheitsbe­griffes an, sondern bilden die vier großen Ver­keh­run­gen des Gleichheitsideals ab:

Die liberal-konservative Ideologie beschränkte das Gleichheitsstreben auf eine rechtliche Mindestforderung und wies den von Armut und Ausbeutung Be­troffenen eine Eigenverantwortung für ihre Situation zu. Dem industriellen System wurde die Wirkung zugeschrieben, eine natürliche Hierarchie indivi­dueller Begabungen abzubilden, ohne diese durch gesellschaftlich vorteilhafte Positionen und Privilegien zu verzerren.

DerKommunismus antwortete auf die Angst vor dem Zerfall der Gesell­schaft in atomisierte Einzelne, indem er die Utopie einer entindividualisierten Gesellschaft beschwor und den Aufbau von solidarischen und harmonischen Gemeinwesen plante, in denen die Bedürfnisbefriedigung sichergestellt sei (135–141). Die Notwendigkeit, politische und ökonomische Konflikte auszu­handeln, wurde durch die vollständige Identifikation der Menschen mit dem Gemeinschaftskörper entschärft. Statt anzuerkennen, dass Gleichheit auf­grund des Faktums der Pluralität nur als ein unvollständig realisiertes Projekt existieren kann und stets das konflikthaft unterminierte Objekt der Auseinan­dersetzung bleibt (145f.), wurde, wie Rosanvallon ausführt, die Idee einer Gemeinschaft propagiert, in der Gleichheit auf Kosten „des Politischen, Ökonomischen und Psychologischen“ (146) hergestellt wäre.

Der Nationalprotektionismus gewann in Frankreich während der wirt­schaftlichen Depression an Zustimmung. Erst im ausgehenden 19. Jahrhun­dert wurde die Konkurrenz zwischen Frankreich und dem Ausland als die maßgebliche Konfliktlinie angesehen. Sie wurde im Zuge des imperialistisch und kolonialistisch gestärkten nationalen Überlegenheitsgefühls virulent. Eine negative Bestimmung der Gleichheit gewann die Deutungshoheit, in der „sich Nähe aus der Zugehörigkeit zur selben Abwehr- und Distanzierungsgemein­schaft [begründete]“ (174).

Der konstitutive (weil gesellschaftsbegründende) Rassismus stellte seine Gleichheitsvorstellung über eine Priorisierung der Ähnlichkeit der weißen Hautfarbe her und ermöglichte ein Kollektivempfinden gegenüber den schwarzen Anderen, dessen Zugehörigkeit zur Gesellschaft dadurch funda­mental in Frage gestellt wird (177–194).


Das Jahrhundert der Umverteilung

Im dritten Kapitel geht Rosanvallon der Entwicklung der Wohlfahrtstaaten nach: Die progressive Einkommensbesteuerung wurde um die Jahrhundert­wende in den meisten Staaten gegen große Widerstände durchgesetzt und leitete einen Paradigmenwechsel ein. Mit ihr dienten Steuern nicht mehr aus­schließlich der Finanzierung öffentlicher Dienste, sondern ihnen wurde erst­mals auch eine umverteilende Funktion zugedacht. Innerhalb kürzester Zeit stiegen die Spitzensteuersätze (in Frankreich stiegen diese innerhalb eines Jahrzehnts von 2% auf 60% 1924; in den Vereinigten Staaten lag der Spitzen­steuersatz 1918 bei 77% und stieg 1942 auf 94%; 201). Vor dem Hintergrund verschärfter sozialer Gegensätze und der Angst vor Unruhen und Revolution konnten Sozialversicherungen durchgesetzt werden und etablierten sich Ar­beitervertretungen und Gewerkschaften. In den Bismarckschen Sozialrefor­men sieht Rosanvallon einen „Reformismus der Angst“ (207).

Nicht zu unterschätzen ist die Rolle des Krieges: Im Krieg wird nicht nur die Aufopferungsbereitschaft des Einzelnen für die Gemeinschaft in ihr Ex­trem getrieben, sondern der Gesellschaft wird eine besondere Schuldigkeit gegenüber den „Verteidigern des Vaterlandes“ zugesprochen. Im gemeinsa­men Frontkampf wurde nochmals ein Gleichheitsgefühl gestärkt (217–222).

Zu dem Paradigmenwechsel in den Ansichten zu Wirtschaft und Gesell­schaft trugen auch soziologische Überlegungen bei, die die gegenseitige Ab­hängigkeit von Menschen betonten. Ungleichheit wurde zunehmend als sozi­ales Problem betrachtet, „Armut als Ausdruck eines gesellschaftlichen [statt individuellen] Versagens“ (233) verstanden.


Der große Gegenschlag

Den in den 1990er Jahren einsetzenden Rückbau der Solidarinstitutionen, er­klärt Rosanvallon mit drei zentralen Momenten: Erstens schwand mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Angst vor einer Revolution, zweitens verblasste die Erinnerung an die kollektiven Dramen und drittens schwächten strukturelle Änderungen, wie ein veränderter Individualismus, die Entstehung eines neuen Kapitalismus und die „Moralkrise der Solidarinstitutionen“ (250) den Reformwillen.

Im Zuge der Diversifizierung gesellschaftlicher Positionen wurde die Ungleichverteilung der Risiken zunehmend offensichtlich, während die indi­viduelle Eigenverantwortung betont wurde. So erodierte die Bereitschaft einer normierten, egalitären Beitragszahlung an die Solidarversicherungen zuse­hends. Während die Ausgaben der Sozialversicherungen ständig stiegen und das Solidaritätsbestreben abnahm, wurde die fehlende theoretische Begrün­dung dieser Institutionen sichtbar. Gleichzeitig drangen andere Problematiken ins öffentliche Bewusstsein und konkurrierten um die öffentlichen Gelder (251–258).

War der Wohlfahrtsstaat noch vorwiegend am Ideal einer bedürfnisori­entierten Verteilung ausgerichtet, tendieren heutige Interpretationen dazu, die soziale und ökonomische Situation der Einzelnen mit den individuellen Taten und Entscheidungen zu rechtfertigen. Rosanvallon erkennt im „sportliche[n] Wettkampf […] eine Art Theater der Chancengleichheit“ (274). Der vollständig ausdifferenzierte und organisatorisch regulierte sportliche Wettstreit zielt auf die Beseitigung struktureller Ungleichheiten in der Konkurrenzsituation ab, wie Rosanvallon weiter ausführt. Diese sportli­che Konkurrenz im Wettkampf ähnelt jedoch nur oberflächlich der Gesell­schaft der „totalen Konkurrenz“ (276), in der die Ordnung des Marktes ver­allgemeinert wurde und in der be­stehende Einkommens- und Vermögensun­terschiede den Wettbewerb verzer­ren. Mit dem Verweis auf rein marktwirt­schaftliche Prozesse können weder Spitzengehälter, noch das Einkommen von Superstars oder die Auswüchse im Finanzsektor erklärt werden (270–285).


Ein missglückter Entwurf einer Gesellschaft der Gleichen

Radikale Chancengleichheit, wie sie beispielsweise Gerald Cohen vertritt, verlangt, wie Rosanvallon ausführt, allen Ungleichheiten entgegenzutreten, die nicht ein­deutig auf individuelle Entscheidungen und Handlungen zurück­geführt wer­den können (290f.). Diese Vorstellung ist, wie Rosanvallon betont, nicht um­setzbar (290–294). Das populäre Konzept der Chancengleichheit dient in praktischer Konsequenz zumeist als eine theoretische Legitimation von Un­gleichheiten (303). Demgegenüber möchte Rosanvallon eine alter­native Vor­stellung entwickeln. Zwar mögen einige der von ihm zusammen­gesuchten Elemente durchaus Sympathien erwecken, jedoch lässt er dem An­schein nach keine Schwierigkeit der von ihm zitierten Theorien aus.

Zunächst diskutiert Rosanvallon das Konzept der Singularität. Singulari­tät kann als politisches Kernkonzept fungieren, in dem das Faktum der Plura­lität theoretisch fundiert und, wie Rosanvallon bestätigt, durch die Beziehung zum jeweils anderen definiert wird. Demzufolge drücken sich im Denken des Singulären eine gesellschaftliche Dimension und die Notwendigkeit wechsel­seitiger Anerkennung aus.

Rosanvallon versucht, seine Vorstellung einer Politik der Singularität am Beispiel der Geschlechterdifferenz zu erläutern: Diese wird bei Rosanvallon zum „Schlüssel zur Vertiefung des Gleichheitsideals […], [zum] Experimen­tierfeld einer zu intensivierenden Verschränkung von Ähnlichkeit und Singu­larität“ (315) erhoben, da die Frau, als das (noch immer ganz im Sinne von Beauvoirs Kritik) Andere des Mannes (Beauvoir 1995), ein rätselhaftes „Mehr an Singularität“ (Balibar 2010, von Rosanvallon zitiert auf 314) verkörpere.

In einem elaborierten Verständnis von Singularität kann diese jedoch nicht, wie Rosanvallon hier nahelegt, erschöpfend aus der Zugehörigkeit zu verschiedenen, vorher bestimmten Gruppenidentitäten (wie die Geschlechts­identität) hergeleitet werden. Ein kurzer Rückgriff auf Hannah Arendt, die das „Wer jemand jeweilig ist“ grundsätzlich von dem unterscheidet, „was einer ist, [also], […] den Eigenschaften, Gaben, Talenten, Defekten, die wir besit­zen“ (Arendt 1981: 169), kann das verdeutlichen:

Das „Wer“ entzieht sich, wie Arendt ausführt, der sprachlichen Erfas­sung, die nur eine Aufzählung von Eigenschaften ermöglicht, die verschiede­nen Menschen zukommen und dem jeweils beschriebenen Menschen „gerade nicht in seiner Einmaligkeit zugehören“ (ebd.: 171). Vielmehr verber­gen diese Eigenschaften „das eigentlich Personale […] – gleichsam als schal­teten wir eine Schutzschicht ein, um die bestürzende Eindeutigkeit des Die­ser-und-niemand-anders-Seins abzudämpfen“ (ebd.). Genau auf diese Einzigartigkeit der Menschen verweist jedoch der Begriff der Singulari­tät, der daher keines­wegs durch einen Verweis auf die geteilte Eigenschaft „Geschlecht“ zu­frie­den­stellend erklärt werden kann. Anstatt den Gedanken der Singularität in seiner Radikalität anzunehmen und die grundsätzliche Ver­schiedenheit aller Men­schen ernst zu nehmen, tritt Rosanvallon zurück in die beruhigende Ord­nung der Geschlechterdifferenz und spricht dieser kategori­schen Distinktion er­neut einen quasi-ontologischen Status zu.

Im nächsten Abschnitt argumentiert er für eine Sozialinstitution, die nicht nur eine finanzielle Grundausstattung zur Verfügung stellt, sondern da­rauf abzielt, die Einzelnen zu emanzipieren und sie bei der Auslebung ihrer existenziellen Freiheit unterstützt. „Der neue aktivierende oder befähigende Staat (enabling state) ist nämlich kein bloßer Verteiler von Sozialleistungen oder Ver­mittler universeller Regeln mehr“ (316), so Rosanvallon. „Deshalb sieht er [der Staat] sich veranlasst, auf vielfältige Weise in das Leben der Individuen einzudringen und ihr Verhalten zu bewerten“ (316). Freilich werden im Deutschland nach der Agenda 2010 viele diesen Passus eher als Warnung und affirmative Bestätigung der biopolitischen Durchdringung des gesellschaftli­chen Lebens verstehen, denn als hoffnungsvolle Utopie. Entgegen seiner pro­gressiven Rhetorik macht Rosanvallon zudem vor den zentralen sozialen Er­rungenschaften keinen Halt: „Die Bestimmung der Rechte, die bereits be­griff­lich neu definiert werden, ist davon ebenso betroffen wie die der Bedin­gun­gen von Freiheit und Autonomie“ (316).

Auch seine Diskussion des Konzeptes der Staatsbürgerschaft ist nicht er­giebig, da er lediglich die soziale Dimension der Staatsbürgerschaft gegen­über der rechtlichen betont. Erstere nennt er „Kommunalität“, obwohl er sie of­fensichtlich weiterhin an das nationalstaatliche Gefüge bindet, und bedauert ihre Bedeutungslosigkeit. Zwar nimmt er das zentrale Problem der sozialen und räumlichen Spaltungen wahr, hält jedoch lediglich eine nationale Revitali­sierung des Gemeinsamen als Antwort für ausreichend (328–341). So beendet er seinen „Entwurf“ mit einem Appell, das Projekt der Gleichheit durch eine „Renationalisierung der Demokratien“ (354) anzu­gehen. Hierdurch könne zu­gleich die globale Ungleichheit bekämpft werden, da die Ungleichheit auf glo­baler sich nicht von der auf nationaler Ebene un­terscheide. Das mag zwar theoretisch nicht einleuchten, ist aber ungemein praktisch gedacht (342–354).

Sein Vorschlag zentriert sich demnach um die Konzepte Singularität, Re­ziprozität und Kommunalität, ohne diese in ihrer philosophischen Tiefe aus­zuleuchten. Die dreifache Betonung der grundlegenden Sozialität von Leben, durch die Berufung auf eine „Kommunalität“ und die sich gegenseitig unmit­telbar bedingenden Begriffe der Singularität und der Reziprozität, ergibt nicht bereits ein politisches Konzept der Gleichheit. Anders als seine Ausführungen zur „Gleichheitspathologie“ des Kommunismus andeuten, integriert er seine Einsicht in die Konflikthaftigkeit des Politischen und die notwendige Unab­geschlossenheit des Projektes der Gleichheit nicht konsequent in seine Über­legungen.

Zudem ignoriert Rosanvallon, dass die Einsicht in die gegenseitige Ab­hängigkeit der Menschen voneinander den Ausgangspunkt verschiedener the­oretischer Auseinandersetzungen bildet. Gerade Judith Butlers jüngste Dis­kussionsbeiträge (z.B. Butler 2003, 2005, 2010) wären in diesem Kontext je­doch interessant, weil Rosanvallon völlig an der Gefährdung und Verletz­bar­keit vorbei geht, die ebenfalls in dem Faktum der gegenseitigen Abhängig­keit begründet liegen. Anscheinend nimmt er die Ambivalenzen nicht wahr, die seinen drei zentralen Begriffen innewohnen. Dem hätte er auch mit einer Be­zugnahme auf Nancy (2004) abhelfen können. Diese würde nicht nur eine präzisere Fassung des Begriffs der Singularität erlauben, sondern böte zudem eine Möglichkeit, die Anteilnahme am Gemeinsamen singulärer Einzelner zu denken, ohne eine Vorstellung der Unmittelbarkeit aufzurufen.

Zwar gibt Rosanvallon bereits in der Kapitelüberschrift den Hinweis, dass es sich nur um einen ersten Entwurf handelt, tatsächlich kann er jedoch selbst die dadurch bereits gedämpfte Erwartung, nicht erfüllen. Statt einen kohärenten Entwurf vorzustellen, gibt er hier Einblick in das unsortierte Sammelsurium seiner Theoriewerkstatt.


Die Geschichte der Gleichheit

Das Ungenügen des letzten Abschnitts von „Die Gesellschaft der Gleichen“, soll nicht zu einer vorschnellen Verurteilung des gesamten Buches führen. So profitiert die Darstellung der historischen Genese von zentralen politiktheo­retischen Einsichten und ist durchaus instruktiv. Aus zahlreichen begriffs- und sozialgeschichtlichen Details entwickelt Rosanvallon eine kohärente Er­zählung, die neoliberale Versuche Ungleichheit als präpolitisches Faktum zu naturalisieren entwaffnet, indem sie ihnen die Historizität der Situation entge­genhält. Die dadurch geweckten Erwartungen werden in der Theoriebildung jedoch nicht eingelöst. Zumindest im Rahmen des vorliegenden Werkes kann von einer „Neuerfindung der Demokratie“ nicht die Rede sein.



Literatur

Arendt, Hannah. Vita activa oder Vom tätigen Leben. München: Piper, 1981.

Balibar, Étienne. Gleichfreiheit. Politische Essays. Übersetzt von Christine Pries. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2010.

de Beauvoir, Simone. Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Übersetzt von Uli Aumüller und Grete Osterwald. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1995.

Butler, Judith. “Violence, Mourning, Politics.” In: Studies in Gender and Sexuality 4/1 (2003), 9–37.

Butler, Judith. Gefährdetes Leben. Politische Essays. Übersetzt von Karin Wörde­mann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2005.

Butler, Judith. Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen. Übersetzt von Rainer Ansén. Frankfurt a.M./New York: Campus, 2010.

Jainchill, Andrew, und Samuel Moyn. “French Democracy between Totali­tarianism and Solidarity: Pierre Rosanvallon and Revisionist Historiography.” In: The Journal of Modern History 76 (2004), 107–154.

Nancy, Jean-Luc. singulär plural sein. Übersetzt von Ulrich Müller-Scholl. Ber­lin: diaphanes, 2004.

Rancière, Jacques. Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Übersetzt von Richard Steurer. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2002.

Rosanvallon, Pierre. L’Âge de l’autogestion ou la Politique au poste de commandement. Paris: Le Seuil, 1976.

Rosanvallon, Pierre. Demokratische Legitimität. Unparteilichkeit – Reflexivität – Nähe. Übersetzt von Thomas Laugstien. Hamburg: Hamburger Edition, 2010.

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